EU-LATEINAMERIKA-GIPFEL
Die Beziehungen brauchen eine Frischzellenkur
Lateinamerika hat keine Priorität für die deutsche Außenpolitik. Das trifft - sieht man einmal von Spanien ab - auf die gesamte Europäische Union zu. Im Mai dieses Jahres kommt es dennoch in Lima zu einer neuen Begegnung aller europäischen Länder mit denjenigen Lateinamerikas, zum fünften EU-Lateinamerika-Gipfel seit 1999.
Höchste Zeit, dass man sich in Deutschland Gedanken darüber macht, ob und wie man dieses Treffen zu einer echten Bestandsaufnahme der deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen nutzen will. Vieles spricht dafür, dass man in einer immer komplexer werdenden globalisierten Welt gerade mit denjenigen Ländern enger zusammenarbeiten sollte, die ähnliche kulturelle, religiöse und deshalb auch ethische Prägungen haben. Trotz aller Krisen sind die Gemeinsamkeiten zwischen Europa und Lateinamerika noch immer groß: Es lohnte sich darum zu kämpfen, dass dies mindestens so bliebe, vielleicht sogar noch besser werden könnte.
Deutschland genießt großes Ansehen in der Region. Das bedeutet eine besondere Verantwortung. Im Übrigen sind es handfeste wirtschaftliche Interessen, die gerade Deutschland in der Region hat. Dabei steht das deutsche Engagement in Brasilien mit Abstand an erster Stelle: Die deutschen Direktinvestitionen dort sind immer noch höher als in China. Die Zusammenarbeit wird auch bei der Berufsausbildung, den Universitäten, der Forschung und der Umwelt immer enger. Mehrere Millionen deutschstämmiger Brasilianer unterhalten zu ihrer alten Heimat vielfältige Kontakte.
Brasilien ist gleichzeitig aber ein prominentes Beispiel dafür, wie ein Land einem durch Samba, Strand und Karneval geprägten Image nicht entfliehen kann: Irgendwie haftet ihm immer noch etwas freundlich Unseriöses an. Das verhindert, dass die deutsche Öffentlichkeit - und nicht nur ein paar mit dem Land befasste Zirkel - das Potenzial dieses Riesen endlich richtig einschätzt: Wer weiß schon, dass brasilianische Unternehmen inzwischen mehr als 100 Milliarden Dollar jenseits der Grenzen angelegt haben und 2006 Brasiliens Investitionen im Ausland mit 27 Milliarden Dollar erstmals den Direktinvestitionszufluss überstiegen, der 18 Milliarden Dollar betrug. Hinzu kommt, dass die Europäer sich in Lateinamerika an Dingen wie Armut und soziale Ungerechtigkeit stoßen, die sie in den meisten asiatischen Ländern so kaum wahrnehmen, obgleich es sie dort ebenso gibt. Gelingt es den Latinos einfach nicht, seriös zu wirken, oder nur uns nicht, diese Seite bei ihnen wahrzunehmen?
Der letzte EU-Lateinamerika-Gipfel im Sommer 2006 in Wien hat nicht dazu beigetragen, das Image Lateinamerikas zu verbessern. Zu sehr beherrschten Venezuelas Präsident Hugo Chávez und seine Satelliten Bolivien und Argentinien die politische Bühne. Trotz intensiver Bemühungen der gastgebenden Österreicher haftet diesem Gipfel deshalb der Hautgout absoluter Ergebnislosigkeit an. Es ist zu hoffen, dass die anderen Staaten der Region sich das Heft des Handelns nicht aus der Hand nehmen lassen. Der Schaden, den sie sich damit zufügten, würde immer größer. Lima darf nicht eine Konferenz werden, deren Sinn von allen Seiten in Frage gestellt wird.
Eine Reihe von Veränderungen, die Verbesserungen versprechen, haben sich seit damals allerdings ergeben. Zuerst und vor allem ist der große politische Zampano Chávez seit seiner Wahlniederlage im zurückliegenden Dezember politisch geschwächt: Eine Mehrheit der Venezolaner will keinen Diktator auf Lebenszeit. Seitdem scheint auch Präsident Evo Morales in Bolivien, sein politischer Ziehsohn, gegenüber der wachsenden Opposition andere Töne anzuschlagen. Ob daraus dauerhaft eine Politik erwächst, die einen drohenden Bürgerkrieg abwenden wird, bleibt abzuwarten. Unverkennbar ist, dass sich in der Region immer mehr jene Länder stabilisieren, die eine realistische Wirtschaftspolitik machen, also auf der Basis geordneter Finanzen und niedriger Inflationsraten Wirtschaftswachstum schaffen. Auch für 2008 rechnet man, zum fünften Mal hintereinander, mit einem Wachstum von mehr als fünf Prozent. Dabei steht außer Frage, dass die boomende Weltwirtschaft in den zurückliegenden Jahren der Motor für die explodierenden Rohstoffpreise war, von denen gerade die rohstoffreichen lateinamerikanischen Staaten überdurchschnittlich profitierten. Allerdings zeigt das Beispiel Venezuelas auch, was passiert, wenn sich ein Mann dieses Reichtums bemächtigt, um ihn zur Erweiterung der eigenen Machtbasis statt zu langfristigen Investitionen zu nutzen: Venezuelas Konsumblase wird nur durch Einnahmen aus den sinkenden Ölexporten gespeist. Das Land produziert so gut wie nichts mehr, es importiert fast alles. Das erklärt auch die ständige Ausweitung des Staatssektors: Er muss die Arbeitsplätze schaffen, die eine verunsicherte Privatwirtschaft abbaut. Der venezolanische Staatsdirigismus provoziert längst Versorgungsengpässe und schürt die Inflation. Modellcharakter für die Region hat er nicht mehr.
Das sind keine schlechten Vorzeichen für Lima, wo man deshalb diesmal weniger Zeit für Politshow und mehr für die Diskussion von Sachthemen aufwenden könnte. Dabei werden die Länder der EU sicherlich mit der Tatsache konfrontiert, dass gerade in Europa der Kokakonsum erschreckend zugenommen hat und es längst nicht mehr nur die "Gringos" sind, die sich damit aufputschen. Die kolumbianische Regierung fordert seit langem, eine "co-responsabilidad" anzuerkennen, eine Mitverantwortung also. Daraus müsste ein größeres konkretes Engagement im Kampf gegen den Drogenanbau erwachsen. Im wohlverstandenen Eigeninteresse sollte man diese Anregungen studieren und aktiver werden: Mit jeder Tonne Koka, die weniger hergestellt wird, reduziert man Drogenkriminalität in Europa. Viel konkreter sollte man auch eine engere Zusammenarbeit in sicherheitspolitischen Bereichen diskutieren, bei der polizeilichen Ausbildung etwa oder der besseren Ausrüstung von Antidrogeneinheiten. Dabei sollte auch die europäische Entwicklungspolitik auf den Prüfstand: Wo finanziert sie eigentlich was? Lateinamerika ist immer noch ihr wichtigstes Zielgebiet - dafür sind die Ergebnisse bescheiden.
Es bleibt zu hoffen, dass man sich in Lima nicht allzu lange mit der Diskussion politischer "Ladenhüter" wie dem seit mehr als zehn Jahren geplanten Abkommen zwischen der EU und der Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur (Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay) aufhält. Ganz abgesehen davon, dass die geplante Aufnahme Venezuelas in dieses Bündnis den ohnehin schwierigen Verhandlungsrahmen weiter verkompliziert: Bevor Europa sich engagiert, sollten die Lateinamerikaner ihre eigenen Entscheidungsprozesse abgeschlossen haben. Das trifft auch auf die Verhandlungen der EU mit den Ländern der Andengemeinschaft CAN (Comunidad Andina de Naciones) zu. Dagegen haben sich die bilateralen Abkommen der EU mit Mexiko und Chile bewährt. Deutschland sollte deshalb auf den Abschluss eines vergleichbaren Vertrags zwischen Brüssel und Brasilia dringen.
Manche Europäer mag es schmerzen, aber die Freihandelsabkommen verschiedener lateinamerikanischer Länder mit Washington haben nicht nur als Grundlage für eine Ausweitung der jeweiligen bilateralen Handelsbeziehungen, sondern auch für eine verstärkte Verankerung in der Weltwirtschaft gedient. Das zeigen deutlich Mexiko und das 1994 in Kraft getretene NAFTA-Abkommen. Immer deutlicher zeigt sich aber auch, dass langfristig die größte Herausforderung für die Latinos weder Europa noch die USA sind, sondern die Chinesen: Sie kaufen nicht nur im großen Stil Rohstoffe und Agrarprodukte in der Region ein, sondern überschwemmen sie gleichzeitig auch mit billigen Waren und Industriegütern jeglicher Art.
Die Autorin ist Redakteurin der "Welt", zuständig für Lateinamerika.