Reichstagsbrand
Vor 75 Jahren begann die Terrorherrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland
Friedlich saßen sie beisammen, scherzten, palaverten und lauschten klassischer Musik. In Goebbels Charlottenburger Privatwohnung herrschte am Abend des 27. Februar 1933 ausgelassene Stimmung. Hitler war zu Gast und man amüsierte sich prächtig. Bis gegen halb zehn das Telefon klingelte. Joseph Goebbels nahm den Hörer ab und wollte partout nicht glauben, was ihm der NS-Auslandspressechef zu berichten hatte. "Der Reichstag brennt!", schrie Ernst Hanfstaengl durch die Leitung. "Hanfstaengl, soll das ein Witz sein?", erwiderte der Berliner Gauleiter erstaunt und verbuchte den Augenzeugenbericht seines Parteigenossen zunächst als "Phantasiemeldung", bevor er sich mit Hitler alsbald vom Gegenteil überzeugen konnte.
Denn die Nachricht war weder ein Scherz noch entsprang sie krankhafter Einbildung. Bereits um etwa neun Uhr brannte es im Wallot-Bau an mehreren Stellen, eine gute Dreiviertelstunde später sprengte eine unkontrollierbare Rauchgasexplosion das Glasdach. Aus der offenen Kuppel schossen meterhohe Flammen, mächtige Rauchsäulen stiegen empor. Die ersten Zeichen eines Feuers hatte der Theologie-Student Hans Flöter auf seinem Nachhauseweg entdeckt und unmittelbar darauf einen Schutzpolizisten alarmiert. Dennoch dauerte es wertvolle Zeit bis genügend Löschzüge anrückten, um das sich immer weiter ausbreitende Flammenmeer zurückzudrängen. Als kurz vor Mitternacht die letzten Brandherde erloschen, war der Plenarsaal samt Kuppel fast vollständig ausgebrannt.
Hitler und Goebbels verloren in der Zwischenzeit keine Minute und rasten angeblich im "100-Kilometer-Tempo die Charlottenburger Chaussee hinunter zum Reichstag", um sich vor Ort ein Bild von der Katastrophe zu machen. Als sie kurz nach zehn das Reichstagsgebäude betraten, brannte das Gebäude lichterloh und der mutmaßliche Täter, der niederländische Anarchokommunist Marinus van der Lubbe, war bereits am Tatort festgenommen worden. Nach Aussagen des Leiters der Politischen Polizei, Rudolf Diels, stand deswegen für Hitler sofort fest: "Es gibt jetzt kein Erbarmen. Wer sich uns in den Weg stellt, wird niedergemacht. Das deutsche Volk wird für Milde kein Verständnis haben. Jeder kommunistische Funktionär wird erschossen, wo er angetroffen wird. Die kommunistischen Abgeordneten müssen noch in dieser Nacht aufgehängt werden. Alles ist festzusetzen, was mit den Kommunisten im Bunde steht. Auch gegen Sozialdemokraten und Reichsbanner gibt es jetzt keine Schonung mehr."
Noch in derselben Nacht schufen der erst vier Wochen amtierende Reichskanzler und sein Kabinett mit der "Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat" die verfassungsrechtlich bedenklichen Voraussetzungen für die gnadenlose Verfolgung und willkürliche Verhaftung der politischen Gegner. Von einem Tag auf den anderen suspendierte die noch am Abend des 28. Fe-bruar 1933 verkündete "Reichstagsbrandverordnung" die wichtigsten Grundrechte. Zur vermeintlichen "Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Terrorakte" setzte sie das Recht auf persönliche Freiheit, die Presse- und Meinungsfreiheit sowie das Versammlungsrecht nicht nur "bis auf weiteres" außer Kraft. Das "Grundgesetz des Dritten Reichs" sollte die nächsten 12 Jahre überdauern und Hitlers Gegner endgültig zum Schweigen bringen. Schließlich standen für den 5. März die letzten halbwegs freien Reichstagswahlen an. Die Nazi-Spitze spekulierte auf einen eindeutigen Sieg ihrer Partei, um mit verfassungsändernder Mehrheit die Gesetzgebung nunmehr vollständig an sich reißen und die parlamentarische Demokratie endgültig zerstören zu können.
Kein Wunder, dass die vom Reichstagspräsidenten und preußischen Innenminister Hermann Göring längst scharf gemachten SA- und SS-Horden frühzeitig Jagd auf Kommunisten wie Linksintellektuelle machten. Allein in Preußen wurden in den folgenden Wochen mindestens 10.000 Menschen in "Schutzhaft" genommen. Viele der längst auf "Abschusslisten" der Nazis notierten Kommunisten verschleppten die "Hilfspolizisten" in Hinterzimmer oder Keller, wo sie tage-, mitunter monatelang festgehalten und brutal misshandelt wurden. Obwohl viele führende Funktionäre und Abgeordnete der KPD bald hinter Schloss und Riegel saßen, kommunistische wie sozialdemokratische Zeitungen verboten waren und der Wahlkampf des politischen Gegners massiv sabotiert wurde, verfehlte die NSDAP am 5. März mit 43,9 Prozent der abgegebenen Stimmen klar die Mehrheit. Der von Hitler propagandistisch und politisch instrumentalisierte Reichstagsbrand hatte bei den Wählern nicht die erhoffte Wirkung gezeigt, die meisten Parteien aber soweit in die Knie gezwungen, dass sie knapp drei Wochen später dem "Ermächtigungsgesetz", sprich der endgültigen Entmachtung des Parlaments, zustimmten.
Viele Deutsche verdächtigten von Anfang an die Nazis den Reichstagsbrand initiiert zu haben, um ihren Terror juristisch legitimieren zu können. Schließlich zogen in erster Linie sie und nicht die ohne stichhaltige Beweise verfolgten Kommunisten politischen Nutzen aus dem vernichtenden Inferno. "Niemand, den ich gesprochen habe, glaubt an eine ‚kommunistische Brandstiftung'. Nebenbei muss die Zerstörung des verhassten Reichstages den NSDAP-Leuten, auch abgesehen von jedem politischen Zweck, sympathisch sein", urteilte nicht nur der Schriftsteller Harry Graf Kessler. Dass während der polizeilichen Ermittlungen Hinweise auf eine NS-Täterschaft nicht weiter verfolgt, verwischt oder unterschlagen wurden, verstärkte diesen Verdacht natürlich.
Die von den braunen Machthabern längst infiltrierten Justizbehörden hatten sich aber längst auf den arbeits- und obdachlosen Kommunisten van der Lubbe eingeschossen. Da er in den zahlreichen Verhören immer wieder betonte, das Feuer alleine - ohne Auftrag und ohne Komplizen - gelegt zu haben und vor Ort fast jede der Brandstellen eindeutig identifizierte, stand er für die Nazis zumindest als einer der Täter fest. Doch um ihr damaliges Propagandamärchen vom "Beginn eines kommunistischen Aufstandes" aufrecht erhalten zu können, verhaftete die Polizei die drei bulgarischen Kommunisten Georgi Dimitroff, Blagoi Popoff und Vasil Taneff als vermeintliche Hintermänner des Brandanschlags. Auch der KPD-Abgeordnete Ernst Torgler wurde als Mittäter beschuldigt und angeklagt, nur weil er wenige Minuten vor Ausbruch des Feuers das Reichstagsgebäude verlassen hatte.
Das Ende September im Leipziger Reichsgericht eröffnete und später wegen notwendiger Tatortbesichtigungen im unversehrten Teil des Reichstags fortgesetzte Verfahren endete für die Nationalsozialisten blamabel. Den vier vermeintlichen Komplizen konnten die Ankläger nach dreimonatigem Prozess keinerlei Schuld nachweisen. Allein van der Lubbe wurde aufgrund eines von den Nazis willkürlich verschärften Strafrechts am 23. Dezember 1933 "wegen Hochverrats in Tateinheit mit aufrührerischer Brandstiftung zum Tode und dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt." Auch wenn der "Völkischer Beobachter" über das "Fehlurteil von Leipzig" tobte, Hitlers längst gefestigte Diktatur vermochte der Richterspruch nicht mehr erschüttern.
So tauchte die umstrittene Frage nach der wahren Täterschaft erst 15 Jahre nach Kriegsende wieder auf, als ebenso viele Indizien für wie gegen die Brandstiftung durch Marinus van der Lubbe sprachen. Wie kaum ein anderes zeithistorisches Problem spaltet es seitdem Wissenschaftler und Publizisten in zwei sich mitunter bitter bekämpfende Lager. Während heute die meisten Historiker, darunter so anerkannte Größen wie Hans Mommsen, Hans-Ulrich Wehler oder Hitler-Biograph Ian Kershaw die These von der Alleintäterschaft unterstützen, warten ihre vor allem juristisch geschulten Kritiker mit immer neuen Indizienbeweisen auf, um die Alleinschuld der Nazis am Reichstagsbrand zu beweisen. Mittlerweile überblicken nur noch die Experten die Vielzahl echter, mitunter auch gefälschter Quellen und Zeitzeugenaussagen. Dabei ist die Frage nach dem eigentlichen Brandstifter zwischen den Parteien zu einer politischen Glaubensfrage geworden, die der historischen Forschung keine grundsätzlich neuen Erkenntnisse mehr bringt. Der langjährige Mitarbeiter des Münchener Instituts für Zeitgeschichte, Hermann Graml, weist deshalb mit Recht darauf hin, dass es in der Logik der nationalsozialistischen Machteroberung lag, dass so "etwas wie die Reichstagsbrandverordnung und so etwas wie ein umfassender Schlag gegen die Kader der Linksparteien mit irgendeiner Begründung ohnehin begründet oder inszeniert worden wäre." Es ist also nicht mehr sonderlich relevant, den oder die Täter wissenschaftlich dingfest zu machen, um damit die planvolle Brutalität des NS-Regimes respektive ihren antiparlamentarischen Charakter noch weiter zu unter- streichen.
Ob das vor wenigen Wochen vom Bundesverfassungsgericht aufgehobene Urteil gegen Marinus van der Lubbe die Diskussion um den Reichstagsbrand neu entfachen wird, bleibt fraglich. Denn die Richter in Karlsruhe haben ausschließlich ein Opfer der NS-Justiz rehabilitiert und nicht den wahren Schuldigen präsentiert. 75 Jahre nach dem Reichstagsbrand steht nur fest: Gerade heute müssen Terroranschläge nach einem ebenso transparenten wie rechtsstaatlichen Verfahren untersucht werden, um vermeintliche Täter zu entlasten und die wahren zu finden.