GEDENKStunde
Norbert Lammert fordert eine lebendige Erinnerungskultur
Am 30. Januar dieses Jahres jährt sich der Machtantritt der Nationalsozialisten zum 75. Mal. Damals sei "der erste Versuch parlamentarischer Demokratie endgültig gescheitert", erklärte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) in seiner Eröffnungsrede zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus am 25. Januar im Deutschen Bundestag. Der 30. Januar 1933 sei aber weder ein "Betriebsunfall der deutschen Geschichte" noch unausweichlich gewesen. "Dass der Weg in die Diktatur keine Zwangsläufigkeit war, ist eine beständige Mahnung an alle demokratischen Kräfte: Jeder Bestrebung, unsere heute gefestigte Demokratie und ihre Ansprüche zu ignorieren, zu verhöhnen, zu unterlaufen oder offen angreifen zu wollen, werden wir gemeinsam und entschieden entgegentreten", betonte er. Lammert rief dazu auf, keine Form von Extremismus, Rassismus und Antisemitismus zu dulden - "nirgendwo in der Welt und in Deutschland schon gar nicht".
Der Bundestagspräsident erinnerte an den Prozess der europäischen Einigung, in dem Deutschland Vertrauen zurückgewinnen konnte. Gleichzeitig mahnte er, dass es leichtfertig wäre zu sagen, die Deutschen seien aufgrund ihrer historischen Erfahrung gegen Verirrungen gefeit. "Das sind wir nicht. Es ist beschämend, dass in unserem Land beständig Polizeipräsenz notwendig ist, um jüdische Einrichtungen vor Angriffen zu schützen." Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit seien noch immer ein ernstes Problem, das auch in neuen Formen und anderer Gestalt auftrete. Lammert bekräftigte, Deutschland wolle seiner besonderen Verantwortung gerecht werden - auch in der Europäischen Union.
"Ein absoluter Machtanspruch, der sich unter welchen Vorzeichen auch immer anmaßt, Untaten zu rechtfertigen, darf nicht toleriert werden", zitierte Lammert die im Rückblick auf ihr Leben gezogene ganz persönliche Konsequenz der tschechischen Schriftstellerin und Journalistin Lenka Reinerová. Der Bundestag hatte sie nach dem bedeutenden ungarischen Autor und Zeitzeugen Imre Kertész im vergangenen Jahr als Rednerin für die diesjährige Gedenkveranstaltung eingeladen. Lammert würdigte die deutschsprachige Autorin und Nazi-Verfolgte Reinerová als "die wohl letzte bedeutende Vertreterin einer ehemals stolzen Tradition deutsch-tschechisch-jüdischer Kultur in Prag".
Er bedauerte, dass sie aus Krankheitsgründen nicht persönlich sprechen konnte, und dankte der Schauspielerin Angela Winkler, die an Stelle von Lenka Reinerová deren Rede und einen Auszug aus ihrer für die Veranstaltung von ihr selbst ausgewählten Erzählung "Der Ausflug zum Schwanensee" vortrug. Die Grüße und Genesungswünsche Lammerts an die Adresse von Lenka Reinerová, die die Fernsehübertragung in der Deutschen Botschaft in Prag verfolgte, wurden vom Beifall des ganzen Parlaments begleitet.
Zum Schluss seiner Rede warf Lammert die Frage auf, welches Geschichtsbild sich wohl verfestige, wenn nur noch kulturell überlieferte Erinnerungen Gegenstand unseres Gedenkens seien. "Mit dem Ende der Zeitzeugenschaft wird sich die Vergangenheit der ganz unmittelbaren persönlichen Erfahrung endgültig entzogen haben", mahnte er. Im Spannungsfeld von historischem Wissen und dem Verlust an authentischer Erinnerung der Überlebenden müssten geeignete Formen des Gedenkens gefunden werden. Der Präsident bekräftigte: "Das sind wir den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft schuldig."
Die Gastrednerin Lenka Reinerová wurde 1916 in Prag geboren. 1939 floh sie zunächst nach Frankreich, dann nach Mexiko. Erst 1948 kehrte sie nach Prag zurück, wo sie Anfang der 50er-Jahre 15 Monate inhaftiert und zeitweise mit Berufsverbot belegt wurde. Zu Beginn ihrer Rede beschwor sie die Erinnerung an das Prag ihrer Jugend, in dem so bedeutende Denker und Schriftsteller wie Ernst Bloch und Bertolt Brecht zumindest kurzzeitig lebten und arbeiteten. Die Brüder Thomas und Heinrich Mann erhielten damals sogar die tschechische Staatsbürgerschaft, betonte sie.
Eindrucksvoll schilderte sie die 1939 einsetzenden Veränderungen, nachdem die Wehrmacht ihre Heimat besetzt und sie zum Protektorat Böhmen und Mähren erklärt hatte: "Von diesem Tag an durften die jüdischen Bürger nicht mehr auf Gehsteigen gehen, sie durften sich in Parkanlagen auf keine Bank setzen. Sie durften keine Transportmittel benützen, keine öffentlichen Telefonautomaten, sie durften weder auf die Hauptpost, geschweige denn in ein Kino gehen. Sie durften am besten nicht sein."
Ihre gesamte Familie, elf Personen, sei von den Nazis umgebracht worden. Sie selbst habe nur überlebt, weil sie am Tage der Besetzung nicht im Lande gewesen sei.
"Und so begann für mich das Exil", stellte Reinerová lapidar fest. Dabei hatte sie noch ein halbes Jahr Einzelhaft in Paris, zwei Jahre in einem Internierungslager für "lästige Ausländerinnen" und ein halbes Jahr Zwangsaufenthalt in Marokko zu erdulden, bevor sie endlich glücklich in Mexiko ankam. Glücklich sei sie auch darüber gewesen, dort an der diplomatischen Mission der tschechoslowakischen Exilregierung arbeiten und so "wenigstens von Weitem ein kleines bisschen zum großen Kampf gegen den Faschismus beitragen" zu können, beschrieb sie ihre damalige Lage.
Auch an die unvorstellbaren Grausamkeiten während der NS-Zeit erinnerte Reinerová bewegend. Damit etwas Ähnliches nie wieder auf uns zukommen könne, "müssen wir viel mehr Verständnis für die Andersartigkeit riesiger Massen der Bevölkerung unseres Planeten aufbringen", mahnte sie. Es gebe immer noch zu wenig Verständnis für die Lebensart, die Tradition und den Glauben eines sehr großen Teils unserer Mitmenschen. Wir müssten deshalb noch mehr tun, um einander möglichst gut zu verstehen.
Die Rednerin warnte: "Jetzt geht es darum, das neue Unheil, den Terrorismus zu bekämpfen. Es muss und wird uns gelingen, auch diesem Verbrechen den Boden zu entziehen und das Leben für uns alle besser, nutzvoll und freudig zu gestalten."
Avitall Gerstetter, Deutschlands erste jüdische Kantorin, sang in der Feierstunde ein Lied der in Theresienstadt ermordeten Dichterin Ilse Weber und ein tschechisches Stück von Karl Svenk.