Nicht an der Eröffnungsfeier teilnehmen? Totalboykott der Olympischen Spiele? Oder sogar Wirtschaftsbeziehungen mit China einfrieren? Wie die Europäische Union auf Pekings brutalen Umgang mit den Protesten in Tibet reagieren sollte, darüber gehen die Meinungen im Europaparlament auseinander. Einig waren sich die Abgeordneten in einer Sonder-Plenarsitzung am 26. März zur Lage in der Unruheprovinz allein in ihrer vollen Unterstützung für das geistliche Oberhaupt der Tibeter: Der Dalai Lama sei "zu jedem Zeitpunkt" willkommen, sagte Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering (EVP). Langer und lauter Applaus im Plenum folgte. China müsse die Tibet-Krise im Dialog mit dem Dalai Lama lösen, so Pöttering. Werde Peking sich jedoch nicht darum bemühen, dann sollten sich die europäischen Politiker fragen, ob sie an der Auftaktzeremonie der Olympischen Spiele im August teilnehmen. "Wir wollen unseren Beitrag leisten, dass die Sportler der Welt sich in Peking in fairen und freien Wettkämpfen begegnen können", so Pöttering. "Aber unsere Werte und unsere Selbstachtung verlangen von uns, dass wir unsere Prinzipien dabei nicht aufgeben."
Sich alle Optionen und damit auch einen Totalboykott der Sommerspiele offen zu halten, davon sprach der Christdemokrat im Gegensatz zu Aussagen in jüngsten Interviews jedoch nicht mehr. Pötterings Fraktionskollege Thomas Mann (EVP) dagegen forderte "politische und wirtschaftliche Boykottmassnahmen" als letztes Druckmittel gegenüber Peking. Zudem müsse die EU eine Beobachtermission nach Tibet schicken, um sich ein Bild von den tatsächlichen Ereignissen zu machen. Ausländische Journalisten hat China aus der Provinz ausgewiesen. Peking gab die Zahl der Toten zuletzt mit 19 an; die tibetische Exilregierung spricht dagegen von 135 Getöteten.
Tibet-Solidarität am Körper zeigten die Europa-Grünen. Sie trugen am Tag der Sonderdebatte T-Shirts mit aus Handschellen gebildeten Olympischen Ringen. Einige hatten tibetische Flaggen an ihre Plätze gehängt. Grünen-Fraktionschef Daniel Cohn-Bendit verglich die Peking-Spiele mit den Olympischen Spielen 1936 in Berlin. "Diktaturen benutzen Olympische Spiele immer politisch", sagte Cohn-Bendit dieser Zeitung. Das sportliche Mammut-Ereignis an China zu geben, sei eine falsche Entscheidung gewesen, so der Grünen-Abgeordnete. EVP-Außenpolitik-Koordinator Elmar Brok schlug vor, die Olympischen Spiele künftig nur noch in Griechenland auszutragen: "Wenn man den Spielen die Gefahr des schlechten propagandistischen Beigeschmacks nehmen will, muss man sie so schnell wie möglich ins olympische Mutterland zurückholen."
Der Führer des in Indien ansässigen Tibet-Parlaments, Karma Chophel, sprach sich in Gesprächen mit EU-Abgeordneten in Brüssel gegen einen Boykott der Olympischen Spiele aus: "Sie müssen stattfinden, damit China sich an internationale Regeln und Gesetze hält." Ernsthafte europäische Strafaktionen gegen die boomende Wirtschaftsmacht China jedoch sind unwahrscheinlich. China ist zweitgrößter Handelspartner der EU und größte Importquelle der Europäer.
Unterdessen wird auch in Deutschland weiter über einen Olympiaboykott diskutiert. Auf Antrag der Grünen wird am Donnerstag eines Sondersitzung des Bundestags-Menschenrechtsausschusses zur Situtation der Menschenrechte in Tibet stattfinden. Herta Däubler-Gmelin (SPD), Vorsitzende des Ausschusses, sprach sich in einem Interview mit Deutschlandradio Kultur gegen einen Boykott der Spiele aus. Sie gab zu bedenken, dass die Spiele auch eine Öffnung mit sich brächten: "Das ist ein Plus, das man nicht unterschätzten sollte", so Däubler-Gmelin. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Ruprecht Polenz (CDU), wandte sich gegen eine zu frühe Festlegung: "Ich hielte es für klüger, im Augenblick zur Boykottfrage gar nichts zu sagen", so Polenz, "es aber auch nicht auszuschließen, dass man nicht nach China fährt".