TIBET
Namri Dagyab will sein Land bei den Olympischen Spielen vertreten - doch er darf nicht
Eigentlich ist Namri Dagyab von seinem Traum nur gut 42 Kilometer entfernt - praktisch ist er für ihn jedoch unerreichbar. Der 32-jährige Deutsch-Tibeter will in Peking den olympischen Marathon laufen, 42.195 Meter vor den Augen der Welt. Es wäre ein Zeichen - gegen die chinesische Gewalt in Tibet, für Frieden und Freiheit: Bei Chinas großer Schau soll dies nicht in Vergessenheit geraten. Der Berliner Dagyab trainiert hart für diesen Traum - von dem er allerdings jetzt schon weiß, dass er sich nicht erfüllen wird.
Denn Dagyab will für das Team Tibet starten, eine Mannschaft, mit der die in aller Welt verstreuten Exiltibeter auf das Schicksal ihres Landes aufmerksam machen wollen, das die Chinesen seit 1950 besetzt halten. Doch das Internationale Olympische Komitee (IOC) verbietet dem Team die Teilnahme. "Tibet ist kein eigenständiger Staat. Deshalb können sich Sportler aus Tibet nur über das Chinesische Olympische Komitee qualifizieren", heißt es in einem offiziellen IOC-Statement.
"Ich bin aber kein Chinese, ich bin Tibeter", sagt Dagyab, "die Entscheidung ist zutiefst ungerecht." Er ist der einzige Athlet aus Deutschland im 30-köpfigen Team Tibet. Seine Mannschaftskameraden leben in Europa, den USA, Kanada und Indien. Unterstützung bekommt Dagyab von der Tibet Initiative Deutschland, die sich der Kampagne von 150 internationalen Organisationen für ein Team Tibet angeschlossen hat. Nadine Baumann, politische Referentin der Initiative, sagt: "Die Entscheidung des IOC ist zynisch. Sie sagen, dass Tibet nicht eigenständig ist. Dabei hat China Tibet besetzt."
Sportpolitisch gibt es Spielraum für eine Sonderregelung: Seit den Spielen 1996 in Atlanta darf ein Team Palästina starten, obwohl es bis heute keinen souveränen Staat dieses Namens gibt. Auch das von den meisten Ländern der Welt nicht anerkannte Taiwan darf Sportler nach Peking schicken.
Der IOC-Beschluss ist nicht das einzige Hindernis auf Dagyabs langem Lauf. Während er im Berliner Jahn-Sportpark Runde um Runde im frischen Märzwind dreht, spitzt sich die Lage in Tibet zu. Im ganzen Land gehen chinesische Truppen mit Waffengewalt gegen wütende Demonstranten vor. Die Volksrepublik will alle Proteste mit eiserner Faust ersticken, ausländische Journalisten müssen die Region verlassen. Sie sollen nicht sehen, wie viele Menschen bei der Niederschlagung der Unruhen sterben. Exiltibeter sprechen von 140 getöteten Landsleuten. China gibt deren Zahl mit 22 an.
"Es ist unvorstellbar grausam, was in Tibet passiert", sagt Dagyab. Er hätte der Welt gern als Diplomat in Turnschuhen gezeigt, dass sein Land kein Teil Chinas ist. Doch angesichts der Lage haben die Athleten aus Tibet schweren Herzens beschlossen, ihre Bewerbung nicht weiter zu verfolgen. "Unsere Sportler sind emotional nicht mehr in der Lage, in Peking anzutreten", sagt Wangpo Tethong vom Nationalen Olympischen Komitee (NOK) Tibets, einem Verein mit Sitz in Zürich, den das IOC nicht anerkennt. In der erhitzten vorolympischen Debatte mit weltweiten Protesten gegen das chinesische Vorgegen und immer lauter werdenden Forderungen nach einem Boykott der Spiele ist das Team Tibet zwischen die Fronten von Sport und Politik geraten. "Ich bin primär Sportler, aber natürlich hat das Thema Tibet immer eine politische Dimension, ob ich will oder nicht", sagt Dagyab.
Das ist auch an diesem sonnigkalten Märztag vor der chinesischen Botschaft in Berlin so. "China raus aus Tibet", schreit ein Mann mit heiserer Stimme ins Mikrofon. Die etwa 100 Demonstranten stimmen in die Rufe mit ein. Stumm beobachtet Dagyab die Menge, die Arme vor dem Bauch verschränkt. Seine schwarzen, kinnlangen Haare wehen um sein Gesicht. Der Anführer der Demonstration ballt seine Hand zur Faust und reckt sie in Richtung des großen, grauen Botschaftsgebäudes neben der Jannowitzbrücke im Osten Berlins. Tibets rot-blau-goldene Flagge weht über den Protestierenden im Wind.
Natürlich gilt Dagyabs Unterstützung den Landsleuten, die oft bei Wind und Wetter hier vor die Botschaft kommen. An vorderster Front aber wird man ihn nicht sehen. "Andere brüllen schon genug", sagt er bedächtig und rückt das eckige Brillengestell zurecht. Sein Ding ist das Laufen, der sportive, stille Protest. Jede Woche legt der drahtige Läufer bis zu 120 Kilometer zurück. Wenig für einen Profi, viel für einen Amateur. Im Oktober 2007 hat er in Budapest seine beste Leistung abgeliefert, drei Stunden und siebzehn Minuten. Der Weltrekord liegt bei knapp über zwei Stunden und vier Minuten.
"Viele Tibeter denken in Schwarz-Weiß. China ist für sie schwarz, Tibet weiß." Dabei sei auch in Tibet früher nicht alles gut gewesen: "Ein Großteil der Bevölkerung hat unter der Feudalherrschaft gelitten." Wenn er Tibetern seine Sicht der Dinge schildert, können ihn viele nicht verstehen. Dagyab ist in Rheinbach bei Bonn aufgewachsen. Sein Vater floh im Jahr 1959 aus der tibetischen Heimat und fand eine Stelle als Wissenschaftler an der Universität Bonn. Dort hat auch Namri Dagyab studiert, Volkswirtschaft, Tibetologie und Sinologie und promoviert - über Klöster in Tibet, China und Indien. Der Traum von Peking ist für ihn ausgeträumt. Aber Dagyab wäre kein Ausdauersportler, wenn er so schnell aufgeben würde. Olympische Spiele gibt es schließlich alle vier Jahre. "Dann", sagt er, "bin ich 37 und im besten Marathonalter: 2012 in London sind wir dabei."