Verbreitung fremder Arten
Zweitgrößte Bedrohung der Biodiversität oder natürlicher Prozess?
Als Christoph Kolumbus aus der Neuen Welt zurückkehrte, brachte er viele bis dato unbekannte Arten nach Europa. Am spanischen Hof präsentierte der Seefahrer exotische Pflanzen und bunte Papageien. Aber die Schiffe transportierten auch blinde Passagiere wie etwa Schiffsbohrmuscheln, die unter dem Rumpf das Holz der Karavellen zernagten und später die Atlantikküste in Beschlag nahmen.
Die planmäßigen und die ungebetenen Ankömmlinge stehen symbolisch für die Verbreitung von Pflanzen und Tieren durch den Menschen, ebenso wie die Entdeckung Amerikas, mit der der weltumspannende Austausch von Waren begann. "Neobiota" nennen Forscher jene Arten, die seit 1492 in fremde Lebensräume vordringen.
Angefangen hatte die Verbreitung neuer Arten allerdings schon Jahrtausende zuvor. "Der Mensch hat schon in frühen Zeiten die Pflanzen- und Tierwelt verändert, wissentlich und willentlich", betont der Zoologe Ragnar Kinzelbach von der Universität Rostock. In der Jungsteinzeit siedelten die Bewohner Britanniens Hirsche auf schottischen Inseln an, im Altertum brachten die Römer Kaninchen von der iberischen Halbinsel nach Italien.
Aber die Entdeckung Amerikas und anderer Überseeregionen katapultierte den interkontinentalen Warenverkehr in eine neue Dimension. Inzwischen verbreiten Handel und Verkehr alle erdenklichen Organismen rund um den Globus. Zwar kann sich nur ein kleiner Teil der Fremdlinge in der neuen Umgebung etablieren. Aber schon einzelne Arten können verheerende Schäden anrichten. So fraßen Ziegen die Pflanzenwelt der Galapagosinseln kahl, Ratten und Katzen dezimierten die arglose Tierwelt von Neuseeland, wo es vorher außer einigen Fledermäusen keine Säugetiere gab. Und vermutlich per Schiff gelangte nach dem Zweiten Weltkrieg die braune Nachtbaumnatter auf die Pazifikinsel Guam. Weil natürliche Feinde fehlten, vermehrten sich die Schlangen explosionsartig und rotteten binnen weniger Jahrzehnte die meisten Vogelarten aus.
"Je kleiner ein Ökosystem, desto gefährdeter ist die Tier- und Pflanzenwelt", erläutert Kinzelbach. "Gerade auf Inseln können Fremdorganismen katastrophale Folgen haben." Auch in den artenreichen Tropen reagieren die Bewohner, die sich auf kleinste Naturraum-Nischen spezialisiert haben, auf Veränderungen höchst sensibel. Die UN benannten Neobiota als zweitgrößte Bedrohung der Artenvielfalt - nach der Landschaftszerstörung durch den Menschen.
Katastrophenszenarios wie im Indopazifik sind allerdings in Mitteleuropa kaum denkbar. Zum einen bietet die enorme Landmasse Tieren wie Pflanzen viele Rückzugsräume. Zudem wanderten viele Arten erst seit dem Ende der letzten Eiszeit vor etwa 11.000 Jahren ein. Im Vergleich zu tropischen Regionen sind sie nur wenig spezialisiert und entsprechend flexibel. "In Mitteleuropa stehen noch viele ökologische Nischen offen", sagt der Ökologe Tom Steinlein von der Universität Bielefeld. "Das bietet Einwanderern viel Platz."
Dennoch verfolgen viele Menschen mit Argwohn, wie neue Arten in bislang nicht gekanntem Ausmaß nach Deutschland gelangen. Per Samenhandel kommt die aus Nordamerika stammende Beifuß-Ambrosie ins Land, durch den Main-Donau-Kanal wandert der Höckerflohkrebs aus dem Schwarzmeerraum in den Rhein. Seeschiffe entsorgen an den Küsten riesige Mengen Ballastwasser mit Millionen Meeresorganismen, und aus Gehegen ausgebüchste Vögel sorgen dafür, dass Touristen in Mecklenburg eine stabile Nandu-Kolonie bestaunen.
Von den rund 50.000 Tierarten in Deutschland sind etwa 300 neue Spezies, Neozoen, fest etabliert. Bei den Pflanzen ist der Anteil höher: Rund 380 der insgesamt 2.700 wildlebenden Pflanzenarten mit stabilen Populationen sind Neophyten.
Wie sehr diese Zuwanderer Anlass zur Sorge geben, werde "kontrovers diskutiert", resümiert der Pflanzenökologe Ingo Kowarik von der Technischen Universität Berlin. Viele Wissenschaftler betrachten Forderungen nach einer Konservierung des Status quo mit Skepsis. "Mit dem statischen Naturbegriff kann ich als Wissenschaftler nichts anfangen", sagt der Ökologe Steinlein. "Natur ist immer im Fluss. An einem bestimmten Zustand festzuhalten, ist unnatürlich."
Dem gegenüber verfolgen insbesondere Naturschützer die Veränderungen mit Sorge. "Die Einbringung gebietsfremder Arten hat im Zuge der Globalisierung rasant zugenommen", betont Christelle Otto vom Bundesamt für Naturschutz (BfN). "Wir müssen vorsorgen, um Probleme zu verhindern."
Beide Positionen liegen enger beisammen, als zunächst vermutet. Sämtliche Experten sehen die Notwendigkeit, Nachteile für den Menschen abzuwenden. So kann der Saft der aus dem Kaukasus stammenden Herkulesstaude schmerzhafte Verbrennungen verursachen. Bedenklicher ist die Beifuß-Ambrosie: Deren Pollen setzen Allergikern noch im Herbst schwer zu, wenn andere Pflanzen ihre Blüte längst eingestellt haben.
Auch bei wirtschaftlichen Risiken, etwa für die Landwirtschaft durch Kartoffelkäfer oder Reblaus, befürworten Experten unisono ein Eingreifen. Allein 20 problematische Arten, so berechnete das BfN, verursachten im Jahr 2003 Kosten in Höhe von 167 Millionen Euro.
Aber wie soll man mit jenem Gros der Pflanzen und Tiere umgehen, die zwar dem Menschen nicht schaden, aber in der Natur ihre Spuren hinterlassen? Welche Kriterien bestimmen, ob man Waschbär und Nandu, Douglasie und Winterling begrüßen oder bekämpfen sollte?
Dass eine Spezies sich nach der Ankunft zunächst sprunghaft ausdehnt, ist für Kinzelbach nicht grundsätzlich Anlass zur Sorge. Dies spiegle die Dynamik der Natur wider. "In der Anfangsphase kann eine neue Art enorm zunehmen", sagt er. Aber jede Spezies werde letztlich auf Kontrollen stoßen, etwa durch Krankheiten oder Nahrungskonkurrenten.
Als Beispiel verweist der Zoologe auf die Zebramuschel, die aus dem Schwarzen Meer nach Mitteleuropa kam. "In den 1960er-Jahren war der ganze Bodensee voll davon, das schien ein Riesenproblem zu sein", erzählt Kinzelbach. "Jetzt ist es eine Art unter vielen und eine wichtige Nahrungsquelle für überwinternde Enten." Die Problematik werde oft aufgebauscht. "In Mitteleuropa ist bisher noch keine Art erloschen, weil Fremde kamen", betont er.
Dieser Haltung widerspricht Stefan Nehring. "Darauf kann man sich nicht verlassen", sagt der Koblenzer Biologe: "Der Rhein ist ein internationales Gewässer, die weitaus meisten Organismen sind Exoten." Zwar stellen die heimischen Flussbewohner laut Nehring mit 80 Prozent noch immer die meisten Arten. Aber oft lebten sie zurückgedrängt in kleinen Nischen.
Das Beispiel Rhein offenbart einen wichtigen Aspekt des Phänomens: Fremde Arten siedeln sich insbesondere dort an, wo Ökosysteme massiv gestört sind. "Die neuen Tiere kamen vor allem, als die Belastung des Rheins die heimischen Arten dezimiert hatte", sagt Kinzelbach. "Die Zerstörung der Natur begünstigt die Ansiedlung fremder Arten."
Das BfN entwickelt derzeit ein Konzept für den Umgang mit Neobiota. Mehr als 30 gebietsfremde Pflanzen stufen Naturschützer als problematisch ein. Gerade weil sich Arten wie Herkulesstaude oder Ambrosie, einmal etabliert, mit vertretbarem Aufwand kaum noch bekämpfen lassen, richtet die Behörde das Hauptaugenmerk auf die Vorsorge. "Etwa jede zweite neue Pflanzenart wird bewusst eingeführt", sagt BfN-Mitarbeiterin Otto. "Hier gibt es Ansatzpunkte." So sollten sich etwa Tierhandlungen freiwillig verpflichten, problematische Arten aus dem Angebot zu nehmen.
Erschwert wird eine Regelung auch durch die verworrene Rechtslage. Zwar bestimmt das Bundesnaturschutzgesetz, dass jede neue Art vor dem Ausbringen in die Natur genehmigt werden muss. Aber davon ausgenommen sind Forst-, Land-, Jagd- und Fischereiwirtschaft. So können Förster in Wäldern die als Holzlieferant beliebte Douglasie anpflanzen, auch wenn die Ausbreitung des Nadelbaums vielen Naturschützern ein Dorn im Auge ist.
Letztlich lässt sich das Einschleppen neuer Arten zwar beschränken, aber nicht unterbinden. Experten sehen keine grundsätzliche Lösung für den Umgang mit Neobiota. Aber die beiden Extreme "Erhalt" und "Wandel" schließen sich für den Pflanzenökologen Kowarik nicht zwangsläufig aus: "Man sollte regionale Schwerpunkte setzen und definieren, wo man bestimmte Landschaften erhalten will."
Der Autor arbeitet als Wissenschafts- journalist in Göttingen.