Klimawandel
Wissenschaftler streiten nicht über das Ob, sondern über das Wie der Gefahren für die Biodiversität
Der Eisbär blickt in eine unsichere Zukunft. Auf der Roten Liste findet er sich zwar erst seit 2006. Doch die Aufnahme in das berüchtigte Verzeichnis der vom Aussterben bedrohten Tierarten machte die arktischen Räuber schnell zum Symbol für die Gefahren des globalen Klimawandels für Fauna und Flora. Denn dass Eisbären durch eine Erwärmung ihres Lebensraumes bedroht sind, ist intuitiv nachvollziehbar - Bilder von auf dahin- schmelzenden Eisschollen balancierenden Bären machen das Thema sogar tauglich für die Boulevardpresse. Doch der Klimawandel bedroht Arten auf der ganzen Welt.
Der Eisbär steht stellvertretend für das Gros der zumeist weniger auffälligen Tiere und Pflanzen, deren Überleben als Art durch die bereits zu beobachtenden und erst recht durch die noch zu erwartenden Veränderungen des Weltklimas in Frage gestellt ist. Der jüngste Sachstandsbericht des Weltklimarates IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) aus dem Jahr 2007 geht davon aus, dass 20 bis 30 Prozent aller bisher bekannten Tier- und Pflanzenarten durch eine Erwärmung des Weltklimas um durchschnittlich 1,5 bis 2,5 Grad Celsius aussterben könnten. Dabei entspricht ein solcher Temperaturanstieg noch den eher optimistischen Szenarien des IPCC für die Klimaentwicklung bis zum Ende des Jahrhunderts. Sollte sich die internationale Staatengemeinschaft nicht auf drastische Gegenmaßnahmen einigen können, so rechnen die Wissenschaftler mit einer Zunahme von bis zu vier Grad Celsius.
Nun basieren solche Prognosen auf Computermodellen, die sich nur mit den Daten der Vergangenheit füttern lassen, und sind deshalb naturgemäß mit hohen Unsicherheiten behaftet. Doch anders als noch vor einigen Jahren gibt es heute kaum noch ernstzunehmende Wissenschaftler, die den Fakt einer vom Menschen zumindest entscheidend mitverantworteten Klimaerwärmung in Frage stellen. Durchaus umstritten unter Klimaforschern ist allerdings, wie stark diese ausfallen wird und wie groß genau der anthropogene Anteil daran ist.
Noch schwerer tun sich die Ökologen, den Anteil der künstlichen Warmzeit am Niedergang der Artenvielfalt zu beziffern. Hier gilt es, den Klimaeffekt von anderen - wenn auch ebenfalls größtenteils von Menschen gemachten - Faktoren zu unterscheiden, etwa der Abholzung von Urwäldern, der Überfischung der Ozeane oder dem Eintrag von Düngemitteln in empfindliche Ökosysteme.
Das Beispiel der Goldkröte Bufo periglenes verdeutlicht dieses Problem: Um 1990 wurden die kleinen, knallorangen Froschlurche zum letzten Mal in den Nebelwäldern Costa Ricas gesichtet. Durch die Erwärmung ihres ohnehin begrenzten Lebensraums blieb der lebensspendende Nebel aus; der bereits durch Krankheiten und Zerstörung ihres Lebensraums gebeutelten Art gab der Trockenstress offenbar den Rest. Und auch die auffällige Kröte ist wieder nur ein Stellvertreter: Seit den 1980er-Jahren beobachten Biologen weltweit einen massiven Rückgang von zuvor stabil erscheinenden Amphibienpopulationen - an manchen Orten verschwinden Frösche, Kröten und Molche quasi über Nacht.
Die Folgen der Klimaveränderung dürften an den so genannten Hot Spots der Biodiversität, allen voran den tropischen Regenwäldern und den Korallenriffen, besonders heftig ausfallen. Doch auch in Deutschland sind sie längst zu spüren: Warme Winter bringen den Zeitplan der Natur durcheinander und beeinflussen so das filigrane Beziehungsgefüge zwischen Blütenpflanzen und ihren Bestäubern oder zwischen Räubern und Beute. So fehlt es einigen Vogelarten wie Kohlmeise oder Trauerschnäpper im Frühjahr schon jetzt an Raupen als Futter für ihren Nachwuchs: Weil die Wälder wegen der milderen Winter früher Blätter treiben, ist auch das Maximum des Raupenaufkommens vorverlegt und gerade Zugvögel wie der Trauerschnäpper können ihre Brutzeit nicht im gleichen Maße vorziehen.
Andere, kälteliebende Arten wie Wasserpiper oder Kuckuck weichen bereits nach Norden aus. Doch die wenigsten Arten können sich wie diese beiden hochmobilen Vögel einfach neue Lebensräume suchen. Gerade Pflanzen und sesshafte Tiere verbreiten sich nur langsam, für viele liegt der nächste geeignete Lebensraum in unerreichbarer Ferne. Dies gilt insbesondere für Spezialisten, etwa die Bewohner von Mooren oder Bergregionen. In den Bergen können sich Tiere und Pflanzen zumindest noch in höhere, kühlere Regionen zurückziehen, was für viele Arten in den Alpen auch bereits nachgewiesen wurde. Doch so manche Art ist am Ende ihres Fluchtweges angekommen: Als Relikt aus der letzten Eiszeit hält sich etwa die Kleine Alpen-Kuhschelle noch auf dem Brocken. Mit steigenden Durchschnittstemperaturen wird die hübsche weiße Blume, die auch als Brockenanemone bekannt ist, im Konkurrenzkampf mit vitaleren Warm-arten wohl den Kürzeren ziehen und vom höchsten Gipfel des Harzes verschwinden.
Wärmeliebenden Arten sind die Gewinner des Klimawandels. In Deutschland sind es etwa Bienenfresser, Wespenspinne oder Gottesanbeterin, die aus südlichen Anrainerstaaten einwandern oder ihre bisher beschränkten Lebensräume drastisch ausweiten. Ebenso die mediterrane Feuerlibelle, die mit ihrem aggressiven Temperament angestammte Arten bedrängt. Der Naturschutzbund Hannover zählt in seinem Einzugsgebiet allein acht neue Libellenarten, die dort Anfang der Neunziger Jahre noch nicht zu finden waren.
Gewinner-Arten wie diese scheinen die Gefahren des Klimawandels für die Biodiversität zu relativieren. Tatsächlich werden sie immer wieder von einzelnen Wissenschaftlern angeführt, die sich mit der These profilieren wollen, der Klimawandel sei halb so schlimm und werde sogar zur Erhöhung der Biodiversität beitragen. Schließlich, so etwa der Rostocker Zoologe Ragnar Kienzelbach im vergangenen Jahr in einem Interview mit dem "Stern", sei ein Großteil unserer heutigen Flora und Fauna erst nach dem Ende der letzten großen Eiszeit nach Deutschland eingewandert. Und Josef Reichholf von der Zoologischen Staatssammlung München verweist im "Spiegel" auf den positiven Zusammenhang zwischen Temperatur und Artenvielfalt, etwa im Vergleich von Tropen und Polregionen oder in der Erdgeschichte, in der Warmphasen meist mit wachsender Biodiversität verbunden waren.
Doch damals hatte die Evolution Tausende bis Millionen von Jahren Zeit, um neue, angepasste Arten zu entwickeln. Der jetzt anstehende Temperatursprung innerhalb weniger Jahrzehnte dürfte die Anpassungsfähigkeit vieler Arten übersteigen, fürchtet die Mehrheit der Gelehrten. "Im Prinzip sind sich 99 Prozent der Forscher einig, dass der Klimawandel eine ernste Bedrohung der Biodiversität darstellt", sagt Holger Kreft von der Universität im kalifornischen San Diego. Im April 2007 veröffentlichte der damals noch am Bonner Nees-Institut für Biodiversität der Pflanzen arbeitende Botaniker zusammen mit seinem Kollegen Walter Jetz eine Studie im renommierten Fachblatt PNAS, die die These von der diversitätsfördernden Wärme auf den ersten Blick sogar zu bestätigen scheint: Die statistische Auswertung einer Fülle von Daten zur pflanzlichen Artenvielfalt aus über tausend Untersuchungsgebieten ergab, dass in den gemäßigten Zonen der Erde die Artenzahl tatsächlich mit steigenden Temperaturen zunimmt.
Je wärmer, je besser also? "Der Klimawandel lässt sich nicht auf die erhöhte Temperatur reduzieren, er bringt auch drastische Änderungen in der räumlichen und zeitlichen Verteilung von Niederschlag", warnt Kreft vor einer zu simplen Auslegung seiner Ergebnisse. Und in den warmen Erdteilen sei eben Feuchtigkeit der limitierende Faktor. "Wenn dort eine Erwärmung nicht von zusätzlichem Niederschlag begleitet wird, könnte sich das sehr negativ auf die Biodiversität auswirken."
Kreft findet die Argumente der "Klimaskeptiker" aber auch aus anderen Gründen fragwürdig. So könne es zwar durchaus sein, dass die Artenvielfalt in einigen Regionen Mitteleuropas demnächst durch Zuwanderer zunehmen werde. Anlass zur Freude sei das aber noch lange nicht - dann nämlich nicht, wenn die lokale Zunahme der Artenvielfalt ohnehin häufige Warmarten auf Kosten seltener kälteliebender Arten begünstige. "Die entscheidende Betrachtungsebene ist die der globalen Biodiversität. Und die wird durch im Zuge des Klimawandels massiv veränderte Lebensräume mit Sicherheit leiden." Das zeige auch ein Abgleich der Biodiversitätsdaten mit den Szenarien der Klimaforscher, an dem Kreft und Jetz arbeiten.
Endgültige Antworten wird auch diese Studie nicht liefern können. Denn für Klimakurven und Artenzahlen gilt derselbe Vorbehalt wie für Wertpapiere: "Vergangenheitswerte sind kein sicherer Indikator zukünftiger Entwicklungen."
Der Autor arbeitet als Wissenschaftsjournalist unter anderem für die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" und "Mare".