Deutschland
Wildblumen sind heute rar. Der Jahrtausende alte Wandel der biologischen Vielfalt hatte aber auch Vorteile
Knut sei Dank? Neun von zehn Europäern halten den Verlust biologischer Vielfalt für ein schwerwiegendes Problem. 70 Prozent der Deutschen kennen nicht nur den Begriff Biodiversität, sondern geben auch an, ihn erklären zu können - doppelt so viele wie im EU-Durchschnitt. Allerdings wird biologische Vielfalt und ihr Verlust vornehmlich global und weniger regional oder national bezogen gesehen. Auf den ersten Blick lässt sich diese Sichtweise mit Zahlen untermauern. Auf gleicher Fläche beheimatet das tropische Ecuador fünfmal mehr Arten von Blütenpflanzen und Farnen als Deutschland mit seinen knapp 3.000 wild wachsenden Vertretern. Auch im Vergleich zu klimatisch ähnlichen Regionen in China oder Nordamerika zeigt sich, dass die mitteleuropäische Flora und Fauna verarmt - was sich vor allem auf den stärkeren Einfluss der Eiszeiten zurückführen lässt. Bis vor etwa 14.000 Jahren war Deutschland in Teilen noch von Eis bedeckt. Die Vegetation der eisfreien Zonen entsprach dem heutigen Nord-Sibirien. Die typische Baumart unserer Wälder, die Buche, ist erst vor zirka 4.000 bis 5.000 Jahren wieder nach Mitteleuropa vorgedrungen.
Die Natur, in der wir heute leben, kann nicht ohne den Einfluss des Menschen verstanden werden. Während wir heute von einem Mosaik unterschiedlicher Landnutzung umgeben sind, wäre Deutschland ohne den Menschen zum allergrößten Teil von Laubwald bedeckt. Dieser ist schon früh zurückgedrängt und zerstückelt worden, sodass große zusammenhängende Lebensräume, wie sie viele große Wirbeltiere benötigen, nicht mehr vorhanden sind.
Trotzdem hat der Einfluss des Menschen unseren Naturraum auch bereichert. Schon vor über 7.000 Jahren kam aus dem vorderen Orient die Landwirtschaft nach Mitteleuropa. Die Vielfalt der Lebensräume wurde durch unterschiedlichste Landnutzung gegenüber der ursprünglichen Waldbedeckung erhöht. So entstanden Kalkmagerrasen mit einer Vielzahl von Orchideen oder artenreiche Feuchtwiesen. Auch Äcker waren vor der Intensivierung der Landwirtschaft ab der Mitte des letzten Jahrhunderts deutlich artenreicher, als dies heute selbst im Ökolandbau der Fall ist. Über die Jahrtausende entstanden sogar durch den Einfluss des Menschen neue Pflanzensippen. Ein solcher anthropogener Ursprung wird für so verbreitete Arten wie die Gewöhnliche Vogelmiere oder den Ackersenf angenommen.
Mit der Landwirtschaft brachte der Mensch aber nicht nur Getreide nach Mitteleuropa, sondern führte auch andere gebietsfremde Pflanzen, zum Beispiel als Verunreinigung des Saatgutes, mit ein. Auch Fasan, Hausmaus oder Ratte sind nicht ursprünglich bei uns heimisch. Solche neu eingeschleppten und in manchen Fällen invasiven Arten können ein großes Problem im Naturschutz darstellen, aber auch handfeste wirtschaftliche und gesundheitliche Probleme mit sich bringen. Viele von ihnen, die vor langer Zeit mit den natürlichen Wanderungsbewegungen des Menschen aus benachbarten Regionen zu uns gekommen sind, bilden heute aber einen festen Bestandteil unserer Umwelt.
Wie ist aber der Status unserer heimischen Flora und Fauna? Die "Daten zur Natur" des Bundesamtes für Naturschutz listen hierzu detaillierte Statistiken auf. 51 Prozent der Säugetiere, 44 Prozent der Vögel, 33 Prozent der Großschmetterlinge und 28 Prozent der Farn- und Blütenpflanzen Deutschlands sind gefährdet oder bereits in Deutschland ausgestorben. Lebensräume mit einem hohen Anteil gefährdeter Arten sind nährstoffarme Gewässer, Moore, Salzwiesen und artenreiche Grünlandvegetation wie Trockenrasen oder Feuchtwiesen. Bunt blühende Wiesen und Äcker, wie sie noch in den 1950er-Jahren zum typischen Landschaftsbild gehörten, sind selten geworden. Mit ihnen verschwinden die direkt oder indirekt hieran gebundenen Tiere wie Schmetterlinge, Bienen oder Vögel. Damit sinkt auch der Wert der Landschaft für Naherholung und Tourismus. Menschen entfremden sich von ihrer Umwelt. Welches Kind hat heute jemals einen Laubfrosch in freier Natur gesehen? Um auf den allgemeinen Rückgang der Wildblumen in unserer Landschaft aufmerksam zu machen, startet der Naturschutzbund NABU daher in Kooperation mit dem Verband Botanischer Gärten im April die groß angelegte Kampagne "Sag mir, wo die Blumen sind…".
Die aktuelle Diskussion zu Veränderungen unserer Umwelt ist stark durch den globalen Klimawandel geprägt. Dieser macht sich in vielen Regionen der Erde wie auch in Deutschland bereits in Veränderungen der natürlichen Umwelt bemerkbar. Blüh- oder Brutzeitpunkte verschieben sich. Dies kann bei artspezifisch unterschiedlicher Reaktion das Zerreißen fein austarierter ökologischer Beziehungen bedeuten. Immergrüne Straucharten breiten sich im Unterwuchs unserer Wälder aus. Welche Veränderungen daraus für das Ökosystem resultieren, lässt sich bisher nur schätzen. Klar ist, dass größere und besser vernetzte Schutzgebiete notwendig sind, damit die Natur den Raum hat, sich anzupassen.
Trotz des sich abzeichnenden Einflusses des Klimas muss aber klar festgehalten werden, dass in Mitteleuropa bisher andere Gefährdungsursachen für die biologische Vielfalt deutlich wichtiger sind. Zentrale Faktoren sind der Flächenverbrauch für Siedlungen und Straßen und die Intensivierung der Land- und Forstwirtschaft. Bezogen auf die alten Bundesländer hat sich die Siedlungs- und Verkehrsfläche in den vergangenen 50 Jahren fast verdoppelt. Über die Hälfte der Fläche der Bundesrepublik wird durch Landwirtschaft geprägt. Hier spielen der massive Einsatz von Stickstoffdünger, die damit verbundene unerwünschte Nährstoffzunahme in Gewässern, die Aufgabe traditioneller Bewirtschaftungssysteme und großflächige Monokulturen eine Rolle.
Bei Äckern sind zudem immer effektivere Herbizide, Saatgutreinigung und große Saatdichten von Bedeutung. Als außerordentlich kritisch muss der Trend zu so genannten Bio-Treibstoffen gesehen werden. Die tatsächliche Energiebilanz dieser wohl weniger euphemistisch als Agro-Treibstoffe bezeichneten Produkte wird durch eine ganze Reihe von neueren hochrangigen Studien stark in Zweifel gezogen. Die extrem negativen Auswirkungen auf die biologische Vielfalt in Tropenländern wie Brasilien und Indonesien durch unsere staatlich subventionierte Nachfrage ist ebenfalls gut dokumentiert.
Unter Einbeziehung von Algen und Pilzen kommen in Deutschland geschätzte 28.000 Pflanzenarten und 48.000 Tierarten vor. Natürlich können diese nicht alle Ziel individuell abgestimmter Artenschutzprogramme sein. Für einige konnten mit solchen Programmen aber ermutigende Erfolge erzielt werden. Seeadler, Schwarzstorch oder Uhu konnten ihre Populationen in 25 Jahren um mehr als die Hälfte vergrößern. Der Uhu war hierzulande fast ausgerottet. Dank gezielter Artenhilfsprogramme kommt er heute wieder bundesweit vor. Der Biber war in Europa im 18. und 19. Jahrhundert ebenfalls praktisch ausgerottet worden. Auch er ist heute wieder in vielen der ursprünglich in Deutschland besiedelten Regionen heimisch.
Solch aufwendige Programme sind ebenso wie Schutzsammlungen für den Ex-situ-Erhalt beispielsweise in botanischen Gärten oder Zoos nur für eine begrenzte Anzahl von Arten zu leisten. Trotzdem haben sie weitergehende Auswirkungen. Auf der einen Seite wird mit diesen Arten auch der Schutz ihrer Lebensräume und damit vieler weiterer Arten verstärkt. Auf der anderen Seite spielen sie als Aushängeschilder für die öffentliche Akzeptanz eine sehr wichtige Rolle.
Ein ähnlicher Doppeleffekt macht auch den Antrag, das Wattenmeer als Weltnaturerbe anzuerkennen, hoffentlich zu einer Erfolgsgeschichte. Ein wichtiges Instrumentarium im Flächenschutz ist heute das in den vergangenen 15 Jahren aufgebaute europäische Schutzgebietsnetzwerk Natura 2000. Wichtige Vorarbeiten kamen unter anderem in Form der so genannten Important Bird Areas von Birdlife International mit den jeweiligen nationalen Partnern. Hier muss die Entwicklung entsprechender "Important Plant Areas", deren Schutz auch in der von Deutschland ratifizierten Globalen Strategie zur Erhaltung der Pflanzen (Global Strategy for Plant Conservation, GSPC) gefordert wird, ebenfalls vorangetrieben werden.
Dass auch kleinflächige Maßnahmen große Wirkung zeigen können, haben Maßnahmen des Vertragsnaturschutzes gezeigt. So konnten in der Eifel in den vergangenen 20 Jahren für verschiedene gefährdete Orchideenarten Populationszuwächse von über 300 Prozent erreicht werden. Auch die zuletzt wegen bürokratischer Hürden zurückgegangenen Ackerrandstreifenprogramme sind ein erfolgreiches Werkzeug.
Mit der 2007 verabschiedeten nationalen Biodiversitätsstrategie hat sich Deutschland erstmals auf nationaler Ebene messbare und mit klaren Zeitvorgaben versehene Ziele gesetzt. Bleibt zu hoffen, dass in 20 Jahren auch dieser Abschnitt mit "Erfolgsgeschichte" überschrieben wird.
Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bonn und Beiratsmitglied des internationalen Forschungs- programms DIVERSITAS Deutschland.