HUngerbekämpfung
Nicht der »Reis der Armen« bedroht den Schutz der Natur - ein Plädoyer dafür, sich von falschen Annahmen zu trennen
Im Januar 2008 hat die Nachricht über die wieder angestiegene Abholzung des brasilianischen Regenwaldes erneut die Welt alarmiert. Doch der Kampf gegen die wachsende Zerstörung von Lebensräumen wird nicht nur am Amazonas geführt. Mit den acht Millenniums-Entwicklungszielen haben sich die Vereinten Nationen unter anderem auch dem Schutz von Biodiversität verpflichtet. Gleichzeitig soll der Anteil der Menschen, die an Hunger und Armut leiden, bis zum Jahr 2015 halbiert werden. Doch wie verhalten sich die Ziele untereinander?
Bevölkerungswachstum und Nahrungsmittelknappheit in einem Atemzug mit Zerstörung von Biodiversität zu nennen, beruht auf der falschen Annahme, dass Bevölkerungswachstum unausweichlich zu Degradierung und Armut führt. Verliert denn die Nahrungsmittelproduktion auf der Welt im "Wettrennen" mit dem Bevölkerungswachstum immer mehr an Boden? Nein, denn seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ist die Weltbevölkerung zwar um beinahe das Sechsfache gewachsen, aber die Nahrungsmittelproduktion hat mehr als mitgehalten und der Konsum pro Kopf ist sogar beträchtlich gestiegen. Nach Angaben der Welternährungsorganisation (FAO) wächst auch heute noch die Nahrungsmittelproduktion mit 2,3 Prozent stärker als die Bevölkerung mit 1,3 Prozent.
Sicherlich erhöht das anhaltende Bevölkerungswachstum den Druck auf die natürlichen Ressourcen. Aber ist es wirklich der "Reis der Armen", der mit dem Naturschutz konkurriert?
Die Abholzung des Regenwaldes in Brasilien beruht vor allem auf der Umwandlung in Viehweiden und Sojaanbauflächen für die weltweite Futtermittelproduktion. Und dies gilt auch im südlichen Afrika und Südostasien. Die FAO kommt in einer Studie zu dem vernichtenden Urteil, dass die Viehwirtschaft aufgrund der Rodungen eine der Hauptursachen für den Verlust an Biodiversität sei. Die Viehwirtschaft verringert das Nahrungsmittelangebot: Man benötigt etwa sieben Kilogramm Getreide, um ein Kilogramm Fleisch zu produzieren. Die Hälfte des weltweit produzierten Getreides wird an Tiere verfüttert. Auch Plantagen für Mais und Zuckerrohr, die für die Herstellung von Biokraftstoffen nötig sind, konkurrieren mit dem Anbau von Lebensmitteln.
Aber wer sind die Hauptkonsumenten von Fleisch und Energie? Auch wenn in den Entwicklungsländern der Konsum stark ansteigt, liegt er in den entwickelten Ländern noch um ein Vielfaches höher. Würde in den entwickelten Ländern nur drei Prozent weniger Fleisch gegessen, so könnte man mit dem eingesparten Getreide etwa eine Milliarde Menschen ernähren. Das Problem des Welthungers besteht nicht in der mangelnden Produktion von Nahrungsmitteln. Faktoren wie der fehlende Zugang zu Ressourcen, Informationen und politischer Mitbestimmung spielen ebenso eine Rolle wie Aids, Kriege, Klimawandel und politische Instabilität.
Die globale Betrachtung des Verlusts der Biodiversität darf allerdings nicht die Konflikte zwischen Naturschutzinitiativen und Maßnahmen zur Armutsbekämpfung auf der lokalen Ebene übersehen. Denn die Schnittmenge der Gebiete ist groß, in denen extreme Armut und hohe biologische Vielfalt zu finden sind. Der Naturschutz muss deshalb die vielfältigen Wechselwirkungen zur Armutsbekämpfung endlich angemessen berücksichtigen. Bislang war die Einrichtung von Nationalparks und anderen Schutzgebieten die Hauptstrategie zum Erhalt von Biodiversität. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Armutsbekämpfung und Naturschutz oft als unterschiedliche Probleme aufgefasst und deshalb in getrennten Politikbereichen behandelt werden. Deswegen ist die Einrichtung von Schutzgebieten auch heute noch oft mit der Vertreibung der dort ansässigen Bevölkerung verbunden. Allein im Kongobecken wurden etwa 120.000 Menschen aufgrund von Nationalparkgründungen vertrieben. Schutzgebiete verringern Armut oft nicht, sondern im Gegenteil vergrößern sie noch. Auf der anderen Seite wird zu Recht befürchtet, dass solange die Armutsbekämpfung vor allem auf die weitere Erschließung entlegener Gebiete und verbesserten Marktzugang setzt, die biologische Vielfalt weiterhin den Preis für die Entwicklungsmaßnahmen zahlen muss.
Auf dem V. World Parks Congress 2003 wurde die moralische und politische Verpflichtung der Naturschutzinstitutionen betont, sich ernsthaft mit Armut auseinanderzusetzen: Naturschutz darf Armutsbekämpfung nicht beeinträchtigen. Mit dieser Forderung hat sich die Naturschutzpolitik zumindest theoretisch weit in Richtung Armutsbekämpfung bewegt. Allerdings wird die Umsetzung als nach wie vor unzureichend kritisiert. Der Naturschutz steht vor der Herausforderung, Kosten und Nutzen von Schutzmaßnahmen gerechter zu verteilen. Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist, anzuerkennen, dass Biodiversität sowohl ein globales öffentliches Gut als auch eine wichtige Ressource zur Sicherung der Existenzgrundlage lokaler Bevölkerungen darstellt.
Vielfach ist Armutsbekämpfung sogar direkt abhängig vom Schutz der natürlichen Ressourcen. Naturschutz kann dann sogar als Mittel zur Verringerung von Armut dienen. Alternative Schutzstrategien wie die Unterstützung von Kleinstproduzenten bei der nachhaltigen Landnutzung bieten große Potenziale, biologische Vielfalt zu fördern und gleichzeitig Armut zu verringern. Eine weitere Alternative zu staatlichen Schutzgebieten stellt das Konzept der Community Conserved Areas dar. Hier gilt es, die Nutzungspraktiken indigener, lokaler oder nomadischer Völker zur Erhaltung ökologischer und kultureller Werte zu schützen.
Nicht der Naturschutz per se stellt ein Problem dar für die Menschen, deren Existenzgrundlage von natürlichen Ressourcen abhängt, sondern Schutzmaßnahmen, die diese Abhängigkeit nicht berücksichtigen. Naturschutz wurde bislang häufig zu eng interpretiert, sodass es als notwendig erachtet wurde, Menschen gänzlich von der Nutzung der Natur auszuschließen. In vielen Situationen können Naturschutzgebiete helfen, den Raubbau durch großflächige Abholzung, Bergbauprojekte oder nicht nachhaltige Landwirtschaft zu verhindern. In solchen Fällen wehren sie nicht nur negative ökologische Auswirkungen ab, sondern bewahren auch Lebensraum und Existenzgrundlage lokaler Bevölkerung.
Es ist allerdings naiv, davon auszugehen, dass Naturschutzorganisationen alleine sowohl den Schutz biologischer Vielfalt als auch angemessene Entwicklungsmaßnahmen auf der lokalen Ebene erreichen können. In vielen Fällen sind institutionelle Änderungen erforderlich, die weit über die lokalen Grenzen hinausgehen.
Auf der globalen Skala betreffen die Zusammenhänge zwischen Armut und Naturschutz uns alle: Der hohe Konsum von Fleisch und Energie, dessen Folgekosten sich nicht im Preis niederschlagen, spielen ebenso eine Rolle wie die einseitige Formulierung von Schutzstrategien. Die Zerstörung des Regenwalds zu beklagen, ohne sich an den Kosten für seinen Erhalt zu beteiligen, wird diesen Zusammenhängen nicht gerecht.
Dr. Heidi Wittmer arbeitet als Agrarwissenschaftlerin und Uta Berghöfer als Geografin am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig. Wittmer war als Gutachterin für die FAO tätig.
Berghöfer hat die Einrichtung des Biosphärenreservats Kap Hoorn begleitet.