Überleben
Der Mensch hat bewiesen, dass er sich an veränderte Umweltbedingungen anpassen kann
Die globale Erwärmung bestimmt seit Monaten die öffentliche Diskussion. In bunten Farben werden die Gefahren ausgemalt, denen Flora und Fauna in weiterer Zukunft ausgesetzt sein könnten. Darüber geht das Bewusstsein dafür verloren, dass die Menschheit in nicht allzu ferner Vergangenheit eine viel größere Gefahr überstanden hat: die Große Eiszeit. Und erst vor wenigen Jahrzehnten ging die "globale Abkühlung" der Kleinen Eiszeit zu Ende.
Während des Höhepunkts der letzten großen Eiszeit vor zirka 20.000 Jahren erreichte die Population der Menschheit einen Tiefstand. In Nordeuropa und Teilen Mitteleuropas war kein Überleben möglich. Im übrigen Europa ernährten sich die Überlebenden von Großwildjagd: Mammut und Rentier - nichts für Vegetarier. Nach einigen Jahrtausenden sehr wechselhaften Klimas begann vor etwa 10.000 Jahren die Warmzeit, in der wir heute leben. Die höhere menschliche Kultur, die wir kennen, entstand in dieser Zeit: Tiere wurden gezähmt, Pflanzen gezüchtet, Ackerbau und Viehzucht erlauben seit der Jungsteinzeit den Übergang zur Sesshaftigkeit. In der wärmsten Periode dieser erdgeschichtlich jüngsten Zeit, während des Holozän-Maximums, entstanden vor 6.000 Jahren die ersten Hochkulturen. Im Vorderen Orient kam es zur Gründung erster Städte.
Auch innerhalb des Holozäns war das Klima nicht stetig. Mehrmals kam es zu Abkühlungsphasen, etwa vor 3.000 Jahren zu Beginn der Eisenzeit, während der Völkerwanderungszeit, zuletzt während der "Kleinen Eiszeit". Dieser Begriff wurde in den 1930er-Jahren von einem amerikanischen Gletscherforscher geprägt, der zu seiner Überraschung herausfand, dass die meisten Endmoränen großer Gletscher nicht von der letzten großen Eiszeit stammten, sondern aus dem recht jungen Zeitabschnitt zwischen 1300 und 1900. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass es während dieses Zeitraums weltweit zu Gletschervorstößen gekommen ist.
Haben wir von dieser Kleinen Eiszeit in unserem Geschichtsunterricht gehört? Nein und Ja. Denn lange achtete man in der Geschichtsschreibung überhaupt nicht auf das Klima, man hielt es - was die historische Zeit der Menschheitsgeschichte, also die letzten 2.000 Jahre anbelangte - für einen neutralen Faktor. Wovon wir aber gehört haben, ist der Aufstieg und Untergang von Reichen, vom Einbruch der Großen Pest, der im 14. Jahrhundert die halbe Bevölkerung Europas zum Opfer fiel, von den "Wüstungen" des ausgehenden Mittelalters oder von der Epoche der großen Kriege, etwa Deutschlands "Dreißigjährigem Krieg".
Inzwischen wissen wir, dass sich hinter dem Wellenschlag der politischen Geschichte und der Bevölkerungsbewegung tiefere Strömungen verbergen, die die Entwicklungsrichtung vorgeben: Gemeint ist die langfristige Abkühlung, die zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen führte und mit der viele der Katastrophen, von denen wir doch im Geschichtsunterricht gehört haben, zusammenhingen.
Warum die Abkühlung die europäische Gesellschaft hart traf, lässt sich leicht sagen: Viele unserer Kulturpflanzen stammen aus dem Mittelmeerraum, das betrifft manche Obstbäume ebenso wie die Weinrebe, den Olivenbaum oder den Weizen und andere Getreidesorten. Mit dem Beginn der nassen, kalten Sommer und der langen, kalten Winter verkürzten sich jedoch die Vegetationsperioden so weit, dass der Getreidebau in Nordeuropa immer schlechtere Erträge brachte. Die Anbaugrenze für Oliven verschob sich weit nach Süden. Wein war zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert in Südnorwegen und an der Ostsee angebaut worden, mit der Abkühlung verlagerte sich jedoch die Weinbaugrenze so weit nach Süden, wie wir es noch aus den 1960er-Jahren kennen.
Mit der Flora kam es zu Verlagerungen der Fauna, der Insekten, der Vögel und der Säugetiere. Die Fanggründe für Kabeljau verschoben sich mit der Abkühlung des Meeres weit nach Süden, vor Island und den Färöern war nichts mehr zu holen.
Die Folgen der Abkühlung waren dramatisch: Zu Beginn des 14. Jahrhunderts brachen nach einer Serie von Missernten von England bis Russland Hungersnöte von biblischen Ausmaßen aus. Und auf den Hunger folgten die Seuchen. In Nordeuropa brachen die Populationen zusammen. Die Kolonien der Wikinger auf Grönland starben aus, in Island sank die Bevölkerungszahl von 100.000 auf 20.000 und stagnierte auf diesem Tiefstand bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In England mussten 4.000 Dörfer aufgegeben werden. Tausende von Dorfwüstungen kennen wir auch aus Nordfrankreich, Norddeutschland und Polen. Der Schwarze Tod in der Mitte des 14. Jahrhunderts war nur ein Element in diesem Totentanz, aber es war nicht sein Auslöser. Pest und Pocken, Typhus und Ruhr blieben seither endemisch und kehrten in Abständen von wenigen Jahren wieder.
In den 1560er-Jahren schockierte eine Serie besonders harter Winter und verregneter Sommer die Bevölkerung. Theologen machten die Sünden der Menschen für diese angeblichen Strafen Gottes, also für die Erntekatastrophen und Seuchen, verantwortlich. Teilweise suchte man nach Sündenböcken und fand sie in den "Hexen". Aber so sehr die Menschen auch Buße taten, so viele angebliche Hexen auch verbrannt wurden, so viele Kriege auch im Namen der rechten Religion geführt wurden, die moralische Säuberung war eine Sackgasse. Manchmal gab es gute Erntejahre und Theologen führten sie auf ihre moralischen Kampagnen zurück. Aber die scheinbare Gewissheit führte zu umso größeren Enttäuschungen, wenn die Missernten wiederkehrten.
Auf dem Höhepunkt des religiösen Zeitalters begann daher um 1600 die Abkehr von solch falschen Gewissheiten. Intellektuelle begannen, Religion und Wissenschaft zu trennen und die Grundlage für die europäische Aufklärung zu legen. Bereits Galileo Galilei kam in seiner Beweisführung ohne die Bibel aus, der englische Lordkanzler Francis Bacon ließ auf einer mehr theoretischen Ebene nur noch beweisbares Erfahrungswissen, wiederholbare Experimente und Mathematik gelten. Der Ausschluss von Religion und Moral aus der naturwissenschaftlichen Diskussion leitete jene Wissenschaftsrevolution ein, auf deren Fundament unsere heutige Gesellschaft beruht.
Der Ausweg aus der Klimafalle der Kleinen Eiszeit erscheint im Rückblick verblüffend einfach, seine Durchsetzung erforderte jedoch den Sieg der Vernunft über die Religion. Wo dieser ausblieb - wie etwa in Russland oder im Osmanischen Reich, aber auch in Spanien und Portugal, wo die Herrschaft der Inquisition andauerte - blieben die Gesellschaften zurück und die Menschen waren weiterhin Hunger, Seuchen und Aberglauben ausgeliefert.
In Nordwesteuropa lockerten sich dagegen die Fesseln. Die Leibeigenschaft wurde aufgehoben, Freizügigkeit eingeführt, abweichende Glaubensformen toleriert und die Mitbestimmung der Gesellschaft im Parlament verankert. Verbesserungen in der Landwirtschaft vergrößerten den Nahrungsspielraum, Verbesserungen in der Hygiene drängten die Seuchen zurück.
Die vielleicht größte Errungenschaft der europäischen Geschichte können wir erst heute sehen: Als Erklärung für unvorhersehbares Unglück wurde die Kategorie "Zufall" erfunden. Während primitivere Gesellschaften nach Schuldigen suchen und damit nach Sündenböcken, um an ihren gewohnten Denkmustern festhalten zu können, hat Europa den Ausweg aus diesem gedanklichen Gefängnis gefunden. Die Kombination von Freiheit, Selbstbestimmung, Wohlstand, der Ausschluss von irrationalen Erklärungen bilden das Geheimnis des Erfolgs der westlichen Gesellschaften.
Wir suchen nicht nach Sündenböcken, sondern nach pragmatischen Lösungen. Dies ist die Summe der Erfahrungen aus der dramatischsten Klimakrise der jüngeren Vergangenheit, der Kleinen Eiszeit, also aus dem letzten Jahrtausend der menschlichen Geschichte.
Vielleicht sollten wir darauf vertrauen, dass auch die Überwindung künftiger Klimakrisen mit dieser Kombination gelingt.
Der Autor ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit und Kulturgeschichte an der Universität Saarbrücken und Autor des Buches "Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung".