Ursachen des Artensterbens
Die Viehhaltung ist eine Hauptbelastung für die Umwelt
Wie viele verschiedene Arten von Tieren und Pflanzen es gibt, wissen wir nicht. Wissenschaftlich erfasst sind etwa 1,8 Millionen. Geschätzt werden zwischen zehn und über 50 Millionen; die Mikroben und Pilze gar nicht eingerechnet. Laut den "Roten Listen der gefährdeten Arten" ist fast die Hälfte aller in Deutschland vorkommenden Arten schon gefährdet; Tendenz steigend - wie in anderen Regionen der Erde auch.
Die Ursachen lassen sich in fünf Hauptbereiche gliedern: 1. Vernichtung von natürlichen oder naturnahen Lebensräumen; 2. Umweltbelastungen durch (Über)Düngung und Gifte; 3. Anlage und Ausbreitung von Monokulturen; 4. Übernutzung und Raubbau in Wäldern, von Fischbeständen und Wild; 5. Eingeschleppte Fremdarten. Diese Auflistung gilt weltweit.
An erster Stelle steht die Vernichtung von Natur durch Rodung von Wäldern, Trockenlegung von Feuchtgebieten, Abbrennen von Trockenwald und Buschland sowie die Erschließung unzugänglicher Wildnis. Seit Ende des 19. Jahrhunderts ist die Hälfte aller Wälder global gerodet worden. Die Rodungen früherer Zeiten betrafen in Europa und Nordamerika jedoch weniger artenreiche Wälder als die heutigen in den Tropen und Subtropen.
Dort, insbesondere in den Regenwäldern, lebt der größte Artenschatz der Erde. Und dieser wird seit den 1970er-Jahren in katastrophaler Weise vernichtet: drei bis fünf Millionen Hektar pro Jahr. Die Verluste lassen sich nur grob schätzen. Hunderte oder tausende Arten können es pro Jahr sein, die unwiederbringlich verloren gehen. Allein Brasilien rodete zwischen 1990 und 1995 knapp 125.000 Quadratkilometer Tropenwald - mehr Wald, als es in Deutschland insgesamt gibt.
Zudem brennt in den Tropen und Subtropen alljährlich eine Fläche von der Größe Australiens, um Weideland für das Vieh zu gewinnen. Denn unser Planet hat nicht nur 6,5 Milliarden Menschen zu ernähren, sondern auch 1,5 Milliarden Rinder, jeweils rund eine Milliarde Schweine und Schafe sowie viele Millionen weiterer Nutztiere. Zusammen übertreffen sie das Lebendgewicht aller Menschen um fast das Zehnfache. Das verursacht die bei weitem größten Artenverluste.
Auch in Deutschland ist das Vieh die Hauptbelastung für Natur und Umwelt. Für die über 20 Millionen Schweine, mehr als zwölf Millionen Rinder und für die 140 Millionen Hühner unseres Stallviehbestandes müssen riesige Mengen Futtermittel importiert werden. Ihrer Erzeugung, vor allem für den Anbau von Soja, fallen in den Tropen und Subtropen höchst artenreiche Wälder der Rodung zum Opfer. Deutsches Stallvieh frisst globale Artenvielfalt auf.
Deutschland und die Europäische Union gehören zu den Hauptverbrauchern von landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus der Welt der Tropen und Subtropen. Dafür werden dort, wie in den westlichen Industrieländern vor Jahrzehnten schon, Monokulturen mit Höchstleistungspflanzen angelegt. Gentechnisch veränderte sind darunter, denen Totalherbizide zur Ausschaltung jeglicher pflanzlicher Konkurrenz nichts anhaben können. Die Folgen für die Lebensvielfalt sind noch viel schlimmer als bei Monokulturen hierzulande, die wenigstens in Randbereichen das Überleben anderer Pflanzen- und Tierarten zulassen.
Wie sehr selbst im nach Weltmaßstäben kleinteilig land(wirt)schaftlich strukturierten Deutschland die Intensivlandwirtschaft die Artenvielfalt herunterdrückt, ist durch viele Untersuchungen übereinstimmend belegt. Die großen Artendefizite liegen im Bereich der Fluren. Städte, Großstädte zumal, sind im Vergleich zu ihnen Inseln der Artenvielfalt geworden und Ergänzungen zu den flächenmäßig meistens viel zu kleinen und zu isolierten Naturschutzgebieten.
Eine der Hauptfolgen großflächiger Monokulturen und Massenviehhaltung in Ställen sind Belastungen der Natur mit Gülle. Der aus Übersee importierte Überschuss an Futtermitteln landet letztlich bei uns im Boden, Grundwasser, in Bächen, Flüssen und Seen, und er lässt das Land mehrfach im Jahr zum Himmel stinken, wenn nach der Ernte im Hochsommer, vor Beginn des Winters und im Vorfrühling die große Gülleflut auf die Fluren ausgebracht wird. Sie und die zusätzlichen Einträge mineralischer Düngestoffe, von denen zwischen 30 und 50 Kilogramm pro Hektar und Jahr auf dem "Luftweg" ankommen, belasten unsere Natur.
Der Stickstoff ist zum "Erstick-Stoff" für die heimische Artenvielfalt geworden. In den Verschmutzungs- und Belastungsbilanzen taucht er kaum auf, weil Stickstoffverbindungen als Nährstoffe gelten. Das ist im Prinzip ebenso richtig wie im Fall des CO2, das für die Pflanzen Grundnährstoff ist, aber im Übermaß gefährliche Folgen zeitigen kann. Für die mitteleuropä-ische Pflanzenwelt und für die Lebensbedingungen in den Binnengewässern ist die Überdüngung mit Stickstoff der Hauptgrund für die Artenrückgänge. Auch die Randmeere, wie Ost- und Nordsee, werden davon schwer belastet. Hinzu kommen die vielen, vielfältig wirksamen Hilfs- und Giftstoffe, die in der Landwirtschaft eingesetzt werden sowie Hormone.
Andererseits verschärfte das Verbot von hochwirksamen Insektengiften, wie dem DDT, die Problematik der Ausbreitung von Malaria, die längst wieder zur Geißel der Tropen geworden ist. Nicht die Klimaerwärmung wird dabei das Hauptproblem sein, sondern wie man die Überträgermücken der Tropenkrankheiten ohne umweltschädliche Gifte hinreichend bekämpfen kann.
Einigen Pflanzenarten kommt jedoch die Überdüngung zugute. Sie breiten sich massiv aus. Nicht ihre Bekämpfung würde die Lage entschärfen, sondern die Verminderung der Überdüngung. In den Gewässern ist das durch die Abwasserreinigung umfassend geschehen. Invasive Pflanzen wie die Kanadische Wasserpest sind seither sehr selten geworden oder ganz verschwunden.
Der Raubbau an Bodenschätzen und Wäldern drückt im Großen aus, was sich bei vielen Tieren und Pflanzen im Verborgenen abspielt. Der Wilderei fallen die akut vom Aussterben bedrohten Tiger und Menschenaffen zum Opfer. Schwer wiegen die Verluste an Großpapageien, Paradiesvögeln und Orchideen. Die illegale Inwertsetzung von Teilen der Natur steigert ihre Gewinne mit der zunehmenden Seltenheit der davon betroffenen Arten. Massenzuchten in Gefangenschaft können das Dilemma lösen. Wenn das Angebot groß genug ist, sinkt der Marktwert der illegalen Produkte.
In Deutschland hat nichts so sehr die erfolgreiche Wiederkehr des Wanderfalken gefördert wie die künstliche Besamung von falknerisch gehaltenen und weiter gezüchteten Falken. Dass große Tiere durchaus in der Menschenwelt erfolgreich überleben können, beweisen die Comebacks von See- und Fischadlern, Kranichen und anderen Großvögeln, die nicht mehr bejagt werden, und auch das Vorrücken von Elch, Wolf und Luchs, Bär und Biber nach Mitteleuropa.
Die zu Recht viel beklagte Zerschneidung und Zersplitterung von Lebensräumen trifft vor allem die Kleintiere und manche Pflanzen. Wer gut zu Fuß ist oder fliegen kann, schafft auch ein Leben in der Kulturlandschaft. Das beweist die reichhaltige, tendenziell noch immer zunehmende Artenvielfalt in den Städten.
Dabei sind keineswegs nur Fremdarten gemeint und beteiligt. Ihr Anteil liegt in Mitteleuropa bei den Vögeln und Säugetieren zumeist unter fünf Prozent, während die Zunahmen zehn bis 20 Prozent im Vergleich zum 19. Jahrhundert ausmachen. Die Fremdarten sind kein so großes Problem, wie zumeist angenommen wird. Denn die Mehrzahl der heute gefährdeten Arten gehört zu den "Neuen" früherer Zeiten. Nur sind wir an sie längst gewöhnt, weil sie seit Jahrhunderten bei uns leben.
Weltweit schufen die Europäer mit ihrer Ackerbaukultur und Viehhaltung Verhältnisse, die die massive Ausbreitung fremder Arten förderten. Wirtschaftliche Schäden und Verdrängung heimischer Arten waren die Folgen. Wie sich das Spektrum von Arten verändert und wie die absichtlich oder unbeabsichtigt hinzukommenden Arten reagieren werden, hängt von den Bedingungen ab, die vom Menschen geschaffen werden. Das gilt auch für Veränderungen im Klima. Die Erhaltung der Artenvielfalt liegt in unserer Hand.
Der Autor ist Leiter der Wirbeltierabteilung der Zoologischen Staatssammlung München und Verfasser des Buches "Ende der Artenvielfalt? Gefährdung und Vernichtung von Biodiversität".