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Der Türkentum-Paragraf wurde entschärft. Trotzdem bleibt die EU skeptisch
Olli Rehn ist ein vorsichtiger Mann. Als der EU-Erweiterungskommissar bei seinem jüngsten Besuch in Ankara die Entschärfung des berüchtigten "Türkentum"-Paragrafen 301 begrüßte, versah er sein Lob mit einem warnenden Zusatz: "Beim 301 ist es wichtig, die Anwendung abzuwarten."
Rehn und andere EU-Vertreter hatten seit Jahren eine Änderung des Gesetzes verlangt, das die Beleidigung staatlicher Institutionen und Werte verbietet und zum beliebtesten Instrument türkischer Nationalisten zur Einschränkung der Meinungsfreiheit geworden war. Nun hat die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan endlich gehandelt und sich damit der EU gebeugt. Doch Rehn und andere Beobachter bleiben skeptisch. Denn eines hat sich nicht geändert: Nach wie vor sieht der türkische Staat die Meinungsfreiheit und das Recht auf Kritik nicht als unverzichtbare Bestandteile der Demokratie, sondern als notwendige Übel, die er tolerieren muss.
Dabei hat sich Erdogans Regierung bei der Reform des Gesetzes große Mühe gegeben und sich über Kritik aus den eigenen Reihen und aus der Opposition hinweggesetzt. Hauptmotiv der Neuregelung ist es, nationalistischen Staatsanwälten und Richtern die Strafverfolgung von Intellektuellen wie dem Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk zu erschweren. Dazu wurde das Gesetz gleich an mehreren Stellen geändert. Der vage Begriff des "Türkentums" wurde gestrichen. Künftig sollen nur noch Beleidigungen der "türkischen Nation" strafbar sein. Die Höchststrafe wurde von drei auf zwei Jahre gesenkt. Am wichtigsten ist aber eine dritte Neuerung: Künftig entscheidet das Justizministerium in Ankara in jedem Einzelfall darüber, ob nach Paragraf 301 ermittelt werden darf oder nicht. Damit sollen ultrarechte Staatsanwälte ausgebremst werden.
Der rechte Flügel in Erdogans Regierungspartei AKP und die nationalistischen Oppositionsparteien CHP und MHP sträubten sich lange gegen die Reform und verwiesen darauf, dass es auch in EU-Ländern Gesetze zum Schutz des Staats gegen Beleidigungen gebe. Allerdings gibt es kein EU-Land, in dem innerhalb von drei Jahren rund 2.000 Bürger wegen angeblich staatsfeindlicher Äußerungen vor Gericht erscheinen mussten, wie das in der Türkei seit 2005 der Fall war: Richter und Staatsanwälte in der EU betrachten die Meinungsfreiheit als hohes Gut, das nur in Ausnahmefällen eingeschränkt werden darf. Richtern und Staatsanwälten in der Türkei geht es dagegen häufig darum, den Staat vor den Bürgern zu schützen. Auch der neue Paragraf 301 kann im Zweifel gegen den Angeklagten ausgelegt werden.
Genau da liegt der Unterschied zwischen der Türkei und den EU-Staaten, sagt der Istanbuler Politikwissenschaftler Cengiz Aktar. Selbst wenn das Justizministerium zur Vermeidung weiterer Image-Schäden für die Türkei in der EU künftig die allermeisten Verfahren nach dem Paragrafen 301 abblocken würde, wäre der nationalistische Geist damit nicht aus dem Justizsystem verbannt, warnt Aktar: Es gebe mindestens zwei Dutzend weitere Strafrechtsparagrafen, die die Meinungsfreiheit so einschränken wie der 301. "Deshalb ist das nichts als Blendwerk und Augenwischerei, ein bauernschlaues Täuschungsmanöver und sonst nichts", lautet Aktars Urteil über die Reform. "Die AKP reagiert damit auf den Unmut in der EU und in der türkischen Gesellschaft, aber sie gibt damit nichts her."
Die kommenden Monate werden zeigen, wer mit seinen Voraussagen richtig liegt: die türkische Regierung, die der eigenen Bevölkerung und der EU mehr Meinungsfreiheit verspricht, oder Skeptiker wie Aktar und die Istanbuler Menschenrechtsanwältin Eren Keskin, gegen die eine ganze Reihe von Verfahren nach dem Paragrafen 301 anhängig ist. Keskins Meinung über die Gesetzesreform ist ähnlich vernichtend wie die von Aktar: die Novelle sei eine reine "Show". Erste Hinweise auf den Umgang der Justiz mit dem neuen Gesetz wird es schon bald geben. Noch während EU-Kommissar Rehn in Ankara Gespräche führte, begann die Staatsanwaltschaft im westtürkischen Izmir mit Ermittlungen gegen den Vater eines Studenten, der im vergangenen Jahr bei einer Verkehrskontrolle der Polizei von Beamten erschossen worden war. Der Vater hatte den Behörden schwere Vorwürfe gemacht und erklärt, er habe kein Vertrauen in die Justiz. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm deshalb "Beleidigung der Justiz" vor. Das Gesetz, nach dem ermittelt wird: Paragraf 301.