LERNWEGE
Erwachsene begreifen genauso gut wie Kinder. Sie brauchen aber andere Angebote
Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr - wer kennt ihn nicht, diesen Spruch! Empirisch belegt war er jedoch nie. Das musste er auch gar nicht; seine Funktion bestand darin, Kinder und Jugendliche zu ermahnen: "Du musst jetzt lernen, später ist es zu spät!" Ein solcher Zeigefinger hat seine Funktion, wenn man auf Vorrat lernen muss - Angst davor, etwas für immer zu verpassen, als Antrieb.
Empirisch gesehen, ist der nimmermehr lernende Hans eine Lüge. Natürlich lernen Menschen auch, wenn sie das Kinder- und Jugendalter hinter sich haben. Men- schen müssen sogar in jedem Alter lernen, wenn sie überleben oder gar sinnvoll leben wollen.
Sie müssen ihren individuellen Wandel durch Lernprozesse bewältigen. Es ist etwas anderes, ob man als Student in der Disko, als Angestellter am Schreibtisch oder als Rentner beim Segeln ist. Nicht nur die Lebensumstände verändern sich fortwährend, sondern die eigene Person, die Gefühle, der Körper, die Wahrnehmung, die Motive und Interessen. Es ist einer der herausragenden Verdienste der bildungswissenschaftlichen Diskussion der vergangenen Dekade, diese individuelle Steuerung der Menschen durch ihr Leben über fortwährende Lernprozesse in den Blick genommen zu haben.
Das stete Lernen der Menschen in ihrem Leben macht für sie den Lebensweg im Wortsinne "viabel", begehbar, wie die Konstruktivisten sagen. Nur wer die Dinge, die auf seinem Wegen wichtig sind, begreift und mit ihnen umzugehen lernt, kann sein eigenes Leben in die Hand nehmen und gestalten. Der Vorrat, von dem man bei diesem Weg zehren kann, ist rasch aufgebraucht, soweit es das Wissen betrifft. Dies war schon früher so; auch Goethe sprach davon, dass man sich bis ins hohe Alter hinein neues Wissen aneignen müsse. Heute hat sich das verschärft. Der rasche Fortschritt der Wissenschaft und der Technik sind dafür der Hauptgrund.
Nicht nur dies: Die Mobilität der Menschen hat sich erhöht. Berufswechsel nehmen kontinuierlich zu. Und auch bei der heutigen Minderheit, die ihr Leben an einem Arbeitsplatz in einem Betrieb verbringt, ändert sich dieser unentwegt und immer weitreichender. Das Erlernen eines Berufes garantiert heute weder, dass er ein Leben lang ausgeübt werden kann, noch, dass er bis zum Ende des Arbeitslebens existiert.
Der Vorrat an Wissen, den man sich in der Jugend für das spätere Leben aneignet, kann daher gar nicht ausreichen. Es wird daher immer intensiver darüber diskutiert, mit welchem Vorrat an Wissen und welchen Kompetenzen man Jugendliche ausstatten muss, um sie für ihr Leben angemessen vorzubereiten. Dabei macht sich zunehmend ein Wandel im Denken der Bildungsakteure bemerkbar: Es geht nicht mehr vorrangig um die Vermittlung des Wissens. Diese ist heute eher Mittel zum Zweck: Die Kompetenz, sich zu orientieren und selbst zu lernen, ist heute der Vorrat, den junge Menschen mitnehmen müssen. "Lernen lernen" ist ein merkwürdiges Pflichtfach; man kann es nur, in dem man bewusst die eigenen Lernwege und Lernprozesse reflektiert, sich der eigenen Lernstrategie vergewissert und sie weiterentwickelt.
Diese Grundlagen des Lernens, möglichst als Hänschen erworben (aber auch als Hans kann man es noch lernen), dienen dazu, die Lernprozesse im Erwachsenenalter erfolgreich zu meistern. Erwachsene lernen im Prinzip gar nicht anders als Kinder und Jugendliche; aber sie lernen gezielter, interessenorientierter und selektiver. Erwachsene bauen ihre Lernprozesse auf dem auf, was sie bereits wissen, ordnen das Gelernte in ihre Erfahrungen ein, bewerten, behalten oder verwerfen es dort. Kinder und Jugendliche einerseits und Erwachsene andererseits unterscheiden sich hauptsächlich dadurch, dass sie über deutlich unterschiedliche Erfahrungsbestände verfügen und zunehmend konkreter Nutzen, Anwendbarkeit und Sinn von Lerngegenständen beurteilen können. Davon hängen auch die Gedächtnisleistungen ab; sie verringern sich erst in sehr hohem Alter und individuell unterschiedlich. Je besser Menschen ihre Lernstrategie entwickeln, je häufiger sie sie angewandt und umgesetzt haben, desto erfolgreicher sind auch ihre Lernprozesse bis ins hohe Alter.
Die Fähigkeit, zu lernen und sich zu orientieren, ist zugleich die notwendige Voraussetzung dafür, heute immer mehr auf das "selbstgesteuerte" Lernen zu setzen. Je differenzierter und flexibler Arbeitsbiografien sich gestalten, desto mehr müssen Erwachsene in der Lage sein, sich selbstständig durch ihr Arbeits- und Lernleben zu bewegen. Die Fähigkeit, das eigene Bildungsprofil zu gestalten, zu konzipieren und zu entwickeln, wird immer mehr zu einer weiteren Anforderung an die Menschen. Dabei kommt, natürlich, der gesamte Bereich des Lernens in den Blick, der nicht institutionell strukturiert und verfasst ist: das informelle Lernen. Wir wissen heute, dass weit mehr informell (also nicht in organisierten Bildungsmaßnahmen) gelernt wird als formell. Und dass dieses informelle Lernen notwendig ist, um die heute gefragten Lernleistungen auch tatsächlich zu erbringen. Dies ist der Hauptgrund dafür, dass heute nicht nur auf Zeugnisse geschaut wird, sondern auf tatsächlich erworbene Kompetenzen. In verschiedenen Varianten von "Pass-Systemen" wird in nahezu allen europäischen Ländern mittlerweile versucht, solche informell erworbenen Kompetenzen (wie etwa die Organisationsfähigkeit einer Hausfrau mit fünf Kindern) nachzuweisen. Die meisten dieser Pass-Systeme, mittlerweile bei Arbeitgebern durchaus geschätzt, haben überdies eine zusätzliche Funktion: Sie unterstützen und schärfen die Lernstrategie der Passinhaber. Dabei zeigt sich auch, dass es für viele der im Berufsleben (und auch im Privatleben) benötigten Kompetenzen gar keine angemessenen Zeugnisse gibt - wie etwa soziale Kompetenz oder Teamfähigkeit.
Die höhere Verantwortung und die größere Zuständigkeit der Menschen für ihren eigenen Lern- und Lebensweg hat natürlich auch Konsequenzen für die berufliche Aus- und Weiterbildung. Die Individualisierung der Kompetenzprofile, in gewisser Weise ein alternatives Konzept zu Berufsbildern, erfordert auch eine Öffnung der Bildungsmöglichkeiten seitens der Institutionen wie Hochschule und Weiterbildung. Kleinere Angebote, die passgenau auf die Interessen der Lernenden stoßen, vernünftige Übergänge zwischen einzelnen Bildungsphasen, Anerkennung auch informeller Lernleistungen, nachfrage- und nicht angebotsorientierte Programmentwicklung sind die Stichwörter, welche heute im Bildungssystem diskutiert und - unterschiedlich schnell - in einzelnen Sektoren umgesetzt werden. Wir sind noch weit davon entfernt, ein Bildungssystem zu haben, in dem das Lernen von Hans genauso einfach und übersichtlich strukturiert ist wie das von Hänschen. Aber Entwicklungen, die verbesserte Informationen, Beratungen und offenere Zugangswege auch in der Weiterbildung verstärken, sind unübersehbar. Auch ist bemerkenswert, dass in der Gesellschaft heute zum Image eines gebildeten Menschen gehört, dass er immer weiter lernt; vor 50 Jahren war noch das Gegenteil der Fall. Wir sind auf dem Weg in eine lernende Gesellschaft, wir sind dort jedoch noch nicht angelangt. In allen Bereichen des Lebens und Lernens ist daher intensiv darüber nachzudenken, wie Lernmöglichkeiten verbessert und Lernmotive unterstützt werden können. Aber die Anstrengungen in diese Richtung werden sich auszahlen.
Der Autor ist wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung und Professor am Fachbereich Erwachsenenbildung der Universität Duisburg-Essen.