NEGATIVES STIMMGEWICHT
Streit um die von Karlsruhe geforderte Wahlrechtsreform
Allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim sollen die Wahlen zum Bundestag sein, so will es Artikel 38 des Grundgesetzes. Eine Klausel im Bundeswahlgesetz verletzt freilich gleich zwei dieser fünf Wahlgrundsätze, wie das Bundesverfassungsgericht Anfang Juli vergangenen Jahres festgestellt hatte: "Soweit das geltende Wahlrecht ermöglicht, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann, liegt ein Verstoß gegen die Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl vor", urteilten die Karlsruher Richter damals und legten dem Gesetzgeber auf, bis spätestens zum 30. Juni 2011 eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen (Az.: 2 BvC 1/07, 2 BvC 7/07).
Die Sache klingt nicht nur kompliziert, sie ist es auch. Es geht um jene paradoxen Regelungen im Verfahren der Mandatszuteilung, aus denen sich der Effekt des "negativen Stimmgewichts" ergibt. Das bedeutet, dass ein Zugewinn von Zweitstimmen zu einem Mandatsverlust der entsprechenden Partei und umgekehrt die Verringerung der Anzahl der Zweitstimmen zu einem Mandatsgewinn führen kann. Dieser Effekt tritt im Zusammenhang mit Überhangmandaten auf, die Parteien dann erhalten, wenn sie in einem Bundesland mehr Direktmandate erringen, als ihnen nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen.
Eine Wahlrechtsnovelle ist also unumgänglich, doch bleibt strittig, ob die Reform noch vor der Bundestagswahl im September kommen soll - wie von SPD, Grünen und Linksfraktion gefordert - oder erst danach, was viele in Union und FDP befürworten. Immerhin nannte es Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) im Februar "unbedingt erwünscht und bei gutem Willen auch möglich, diese Regelung in unserem Wahlrecht so rechtzeitig zu korrigieren, dass sie schon bei den nächsten Bundestagswahlen Anwendung finden könnte". Ebenfalls aufs Tempo drückte SPD-Chef Franz Müntefering: Man könne "nicht einfach nach einem erklärterweise verfassungswidrigen System wählen", argumentierte er unlängst.
Für Dampf im Kessel sorgte auch die Grünen-Fraktion mit einem Gesetzentwurf für eine Wahlrechtsnovelle ( 16/11885). Danach soll die Verfassungswidrigkeit dadurch beseitigt werden, dass die Anrechnung der Direktmandate künftig bereits auf Bundesebene und nicht wie bislang auf Länderebene erfolgt. Überhangmandate entstünden dann "in der Regel nicht mehr", heißt es in der Vorlage.
"In der Regel" heißt nicht "immer", und so räumte der Parlamentarische Grünen-Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck in der ersten Lesung des Gesetzentwurfs am 5. März ein, dass bei der Wahl im September auch nach dem Grünen-Modell in Bayern bei einer "schwächelnden CSU" erstmals Überhangmandate entstehen könnten, die nicht verrechenbar wären. Da dieses Problem aber noch nie bestanden habe, müsse man es "auch nicht jetzt lösen", sondern könne sich darauf konzentrieren, dass das negative Stimmgewicht "auf jeden Fall nicht mehr auftritt". Angesichts der "überschaubaren Gesetzesmaterie" könne das Parlament "zwei Paragrafen in acht Wochen nun wirklich ändern".
Auch Becks Kollegin Dagmar Enkelmann von der Linksfraktion sah noch genügend Zeit für eine Lösung vor der Wahl: Der nächste Bundestag dürfe "nicht auf "verfassungswidriger Grundlage entstehen", mahnte sie und betonte: "Jede Stimme muss gleiches Gewicht haben".
Schützenhilfe bekamen die Grünen auch vom SPD-Parlamentarier Klaus Uwe Benneter, der ebenfalls für eine Wahlrechtsänderung schon zur nächsten Bundestagswahl warb. Schließlich könne man nicht "sehenden Auges auch nur eine Abgeordnete oder einen Abgeordneten hier vier Jahre lang verfassungswidrig sitzen lassen", warnte Benneter. Die Zahl der Bundestagssitze einer Partei müsse von ihrem bundesweiten Zweitstimmenergebnis abhängen, "und darauf stellt jetzt eben auch der Vorschlag der Grünen ab". Nicht richtig sein könne allerdings, dass dann die CSU als einzige Partei bei einem schlechten Zweitstimmenergebnis ein Überhangmandat erhalten könnte. Deshalb müsse eventuell darüber nachgedacht werden, "CSU und CDU eine Art Listenverbindung zu gestatten oder notfalls auch sogar vorzuschreiben".
Der CDU-Abgeordnete Günter Krings warnte dagegen davor, "Hals über Kopf" eine Neuregelung zu beschließen. Schließlich sei das Verfassungsgericht selbst davon ausgegangen, "dass diese schwierige Aufgabe nur schwerlich noch in der aktuellen Wahlperiode verantwortlich zu lösen" sei, und habe die Vorgabe einer Reform noch vor der September-Wahl als "unangemessen" bezeichnet. Auch werde der Grünen-Vorschlag zentralen Anforderungen an eine Reform wie "Durchschaubarkeit für den Wähler, Gerechtigkeit unter den Parteien und die föderale Fairness" nicht gerecht. Die Union sei für eine sachliche Beratung offen, aber "nicht bereit, Qualität und Gründlichkeit in einer so sensiblen Materie auf dem Altar der Geschwindigkeit zu opfern".
Ähnlich äußerte sich die FDP-Innenexpertin Gisela Piltz, die der SPD vorhielt, "nach achtmonatigem Nichtstun" nun das Szenario einer verfassungswidrigen Regierungsbildung im Herbst an die Wand zu malen. Dabei könne es nur einen Grund haben, dass die SPD jetzt "Fahrt aufnimmt", fügte sie hinzu: "In Zeiten sinkender Umfragewerte muss man halt am Wahlrecht schrauben." Für eine Neuregelung noch in dieser Legislaturperiode sei das Thema aber zu wichtig.