KRIEGSVERBRECHEN
Carla Del Ponte schreibt über ihre Zeit als umstrittene Chefanklägerin zweier UN-Tribunale
Als Kind hat sie mit ihren Brüdern im Tessin giftige Schlangen gejagt, als Bundesanwältin der Schweiz die Mafia. 1999 wurde sie von den Vereinten Nationen zu einer anderen Jagd gerufen. Als Chefanklägerin der Internationalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und Ruanda (ICTR) sollte sie die führenden Köpfe hinter den Kriegsverbrechen in den Balkan-Kriegen der 1990er Jahre und für den Völkermord in Ruanda 1994 zur Verantwortung ziehen. Vor allem über diese Zeit berichtet Carla Del Ponte in ihrem Buch. Und die Frau mit den blond gefärbten Haaren und dem meist mürrischen Gesichtsausdruck nimmt kein Blatt vor den Mund.
Alles andere hätte auch erstaunt. Schon während ihrer Amtszeit hat die Schweizerin, heute Botschafterin in Argentinien, keine Rücksicht auf diplomatische Befindlichkeiten genommen. Nie jemanden mit Kritik verschont, der nicht kooperieren wollte. Nie und nirgendwo. Nicht in Belgrad, wenn sie sich scheinbar widerwillig und genervt mit dem damaligen Präsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien, Vojislav Kostunica, einem ihrer Lieblingsfeinde, der Presse stellte. Nicht in Washington, vor den Vereinten Nationen oder im Vatikan, der ihr bei der Suche nach einem kroatischen General, der in einem Kloster vermutet wurde, die Hilfe versagte. Sie wollte keine Höflichkeiten, schreibt sie, und war nicht zuletzt deshalb umstritten.
Während ihrer Zeit als Bundesanwältin in der Schweiz erwarb sie sich den Ruf der "Hartnäckigkeit in Person". Der Grad zwischen Hartnäckigkeit und Sturheit scheint bei Del Ponte ein schmaler zu sein. Sie kokettiert nicht damit, sagt aber klipp und klar, dass sie ihrer Aufgabe gar nicht anders hätte genügen könnte. Politiker nicht nur aus den Herkunftsländern der Angeklagten warfen ihr vor, dass Anklagen gegen politisch Verantwortliche oder frühere Verantwortliche etwa in Serbien das Land politisch destabilisieren würden. Sie wischte die Hinweise weg, überzeugt davon, dass Gerechtigkeit nicht auf den Frieden warten müsse und nicht warten solle: "Mit diplomatischer Leisetreterei kamen wir nicht weiter, wenn es darum ging, Massenmörder zu verhaften, und ein Jugoslawien, in dessen Regierung, Militär und Polizei gesuchte Verbrecher Unterschlupf fanden, würde nie stabil sein."
Del Ponte erinnert an ihre so gebetsmühlenartigen wie notwendigen und oft vergeblichen Appelle zur Zusammenarbeit, die immer auch für die Ohren der Internationalen Gemeinschaft bestimmt waren - um etwa eine Einbindung Kroatiens und Serbiens in die Partnerschaft für den Frieden oder die EU solange zu verhindern, wie sich an der Kooperationsunwilligkeit nichts ändert. "Zehn Jahre lang hat die internationale Gemeinschaft ein Katz-und-Maus-Spiel mit Karadzic und Mladic geführt. Die meiste Zeit über haben die Katzen sich dazu die Augen verbunden (...), sodass die Mäuse munter von einem Loch zum anderen liefen. Es ist nun an der Zeit für die Katzen, die Augenbinden abzunehmen. (...) Es ist nun für die Katzen an der Zeit, sich nicht länger von den Mäusen verspotten zu lassen."
Das Buch macht deutlich, wie zäh ihre Arbeit voranging, wie frustrierend es gewesen sein muss, den "Kampf mit der Bürokratie des Tribunals" auszufechten. Dem Leser bleibt oft nicht viel mehr als Kopfschütteln, wenn Del Ponte erklärt, dass die Unzulänglichkeiten des Tribunals auch systemimmanent waren. Sowohl das ICTY als auch das ICTR fußen auf zwei Rechtssystemen, dem angelsächsischen Common Law und dem auf dem römischen Recht beruhenden Rechtssystem Kontinentaleuropas, die "in den neuen internationalen Rechtsinstitutionen zwangsläufig in Widerspruch zueinander" geraten. Wie im Fall des ruandischen Angeklagten Jean-Bosco Barayagwiza. Zwischen seiner Verhaftung in Kamerun im März 1996 und seiner ersten Anhörung vor dem ICTR vergingen zwei Jahre. Ein Verstoß gegen die Rechte des Angeklagten. Nach dem Common Law wurde daraufhin seinem Antrag auf Haftentlassung zugestimmt. "Aus Sicht des kontinentaleuropäischen Rechts hingegen war das Urteil nahezu unfassbar", schreibt Del Ponte. Zwar lag auch nach kontinentaleuropäischem Recht ein Verstoß gegen die Rechte des Angeklagten vor, allerdings lediglich mit Folgen für die Haftdauer. Del Ponte verteidigte diese Position - mit Erfolg: Barayagwizas wurde zu 35 Jahren Haft verurteilt.
Als Radovan Karadzic im Juli 2008 in Belgrad in einem Linienbus verhaftet wurde, 13 Jahre nach dem das ICTY Anklage gegen ihn erhoben hatte, war Del Ponte nicht mehr im Amt. Was mag sie gedacht haben, als herauskam, dass Karadzic, nach Ratko Mladic wegen der Ermordung von 8.000 Muslimen in Srebrenica die Nummer 2 auf ihrer Liste, über Jahre unbehelligt in Belgrad gelebt und gearbeitet hatte? Ein langer Bart und ein neuer Name sollen gereicht haben, um unauffindbar zu sein? Nach der lohnenswerten Lektüre meint man zu wissen, dass sie Genugtuung empfunden und gleichzeitig ungeduldig gedacht hat: Wo verstecken sich die übrigen Mäuse? Oder sollte man sagen: Schlangen?
Im Namen der Anklage.
S. Fischer Verlag,
Frankfurt 2009; 528 S., 22,95 ¤