DDR
Der deutsche Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hat ein Standardwerk über den Untergang der SED-Diktatur vorgelegt
Es mutet wie eine Ironie der Geschichte an, dass die marxistisch-leninistische Revolutionstheorie ausgerechnet in den von Kommunisten beherrschten Staaten Osteuropas verifiziert wurde. Wie von den "Klassikern" prognostiziert, führte eine vorrevolutionäre Situation in den Jahren 1989 bis 1991 zum Aufstand der Völker. Vorläufer waren die Volkserhebungen 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei und 1980 in Polen, als sich die Gewerkschaft Solidarnosc gegen die Diktatur der "Partei der Arbeiter- und Bauernklasse" aufbäumte.
In seinem grundlegenden Werk über die deutsche Revolution 1989 beschreibt Ilko-Sascha Kowalczuk die Besonderheiten des Sieges über den DDR-Kommunismus: die Voraussetzungen, den langen Anlauf, die Rolle der scheinbar erfolglosen Protestbewegungen und den schließlich im Eiltempo durchgeführten politischen Umsturz. Trotz zuweilen langatmiger Textpassagen und einer unzureichenden Einordnung der damaligen Vorgänge, die dem Sachunkundigen das Verständnis erschwert, gehört Kowalczuks "Endspiel" schon heute zu den Klassikern der deutschen Historiografie.
Befeuert wurde die Revolution durch die Reformpolitik der kommunistischen Führung in der Sowjetunion, die hoffte, mit ein paar Neuerungen das Überleben des sozialistischen Systems garantieren zu können. Auch wenn Michail Gorbatschow heute im russischen Fernsehen mit einigem Recht darauf hinweist, dass er Russland von einem totalitären System in die Demokratie geführt habe - Zweifel bleiben erlaubt: Waren dem damaligen Generalsekretär die Konsequenzen seiner Politik wirklich bewusst? Laut Alexander Jakowlew, dem geistigen Vater der Perestrojka, folgte Gorbatschow eher einem Zickzackkurs, der das Land aus einer schweren Krise in den ungebremsten Zerfall stürzen ließ. Geplant hatte Gorbatschow nur eine Reform des kommunistischen Systems.
"Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?" So beschrieb der "besonders verhasste" SED-Funktionär Kurt Hager die Haltung Ost-Berlins gegenüber der Perestrojka. Diese grundsätzliche Kritik des SED-Politbüros aus dem April 1987 an der Politik von KP-Chef Gorbatschow war weit mehr als ein bloßer Streit mit der Supermacht Sowjetunion über den politischen Kurs. Immerhin garantierte nur die Militärpräsenz der UdSSR die Existenz der sozialistischen Diktatur auf deutschem Boden.
Obwohl den alten Männern im SED-Politbüro die Bedeutung der Sowjetunion nur zu bewusst war, gingen sie dennoch auf Konfrontationskurs zu dem von Gorbatschow initiierten "Neuen Denken". Zu Recht fürchteten sie, am Ende des Prozesses ihre Macht zu verlieren. Dass sich das Honecker-Regime jedem Reformversuch widersetzte und nicht davor zurückschreckte, die sowjetische Zeitschrift "Sputnik" zu verbieten, stieß bei der Mehrheit selbst der regimetreuen Anhänger auf Unverständnis. Schließlich hatten die Menschen in der DDR 40 Jahre lang die Parole begleitet: "Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen."
Ausgerechnet die Abkehr vom Mythos der Unfehlbarkeit der Moskauer Führung verschärfte die Legitimationskrise der SED. Da die Perestrojka das kommunistische System reformieren wollte, verstanden die Massen in der DDR die Politik Honeckers nicht mehr. In ihren Augen verhinderte die SED-Führung die Entwicklung hin zu einer besseren Zukunft, zu mehr Konsum und Freiheit. Damit begann die letzte Etappe des Untergangs der DDR. Die Frage war nur, wie der Regimewechsel über die Bühne gehen und welches Ende er nehmen würde.
Die Weigerung der herrschenden SED, jegliche Veränderungen in der stagnierenden DDR zuzulassen, provozierte Proteste und schließlich öffentliche Demonstrationen, die ihren Anfang nahmen im kleinen Kreis der im Land gebliebenen Dissidenten. Die anti-kommunistischen Revolutionen führten in den Jahren 1989 bis 1991 in der DDR, in den übrigen sozialistischen Staaten Osteuropas und selbst im Mutterland des Sozialismus, in der Sowjetunion, zu einem politischen Systemwechsel.
Scheinbar unbemerkt von den SED-Kadern hatte sich die formlose "Masse" verändert: Hatten die Ostdeutschen über Jahrzehnte wie Kaninchen auf die Schlange SED gestarrt, entwickelten sie sich zwischen 1987 und 1989 angesichts einer zunehmend abgehoben agierenden politischen Klasse zu selbstbewussten Bürgern, schreibt Kowalczuk. Gleichwohl wurde die Revolution 1989 von einer politisch aktiven Minderheit getragen - auch wenn in der Endphase Massendemonstrationen die Fernsehbilder dominierten. Zu Recht bezweifelt Kowalczuk, dass bei den Kundgebungen in Leipzig, Dresden oder Ost-Berlin mehr als 200.000 Menschen auf die Straße gingen.
Kowalczuks "Endspiel" verdient großes Lob, denn der Autor wertet akribisch die Quellen der Bürgerrechtsbewegung in der DDR aus, dem eigentlichen Motor der Revolution. Kowalczuk war sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit" und arbeitet in der Forschungsabteilung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR.
Ilko-Sascha Kowalczuk weiß um die Empfindlichkeiten der damals agierenden Personen in der DDR: Vorab bittet er alle um Entschuldigung, die bei den Protestbewegungen mitwirkten, deren Namen er in seinem Buch aber nicht erwähnt. Ähnlich zuvorkommend behandelt er seine Kollegen, deren Bücher er in der Literaturliste nicht aufführt. Deutlich weniger Zurückhaltung übt er am Ende seines Buches in der Auseinandersetzung mit den Bewertungen seiner Wissenschaftskollegen über die Ereignisse in der Spätphase der DDR. Zu Recht kritisiert er die "Revolutionsromantiker" einerseits und die "Zitierkartelle" seiner Zunft anderseits, die von einer "Revolution" in der DDR nichts wissen wollen, da sie nicht in ihr Verständnis der DDR-Geschichte passt. In diesem Zusammenhang weist Kowalczuk darauf hin, dass die Ablehnung des Revolutionsbegriffs mit der Verharmlosung des politischen Systems der DDR einhergeht.
Eine Geschichte der deutschen Einheit ist "Endspiel" nicht. Kowalczuk hat sich ganz auf die gesellschaftliche Entwicklung in der Endphase der DDR konzentriert. In den Bildern einer Gesellschaftskrise erläutert er, wie der Macht- und Herrschaftsapparat funktionierte und listet die Krisensymptome auf. Daneben betont er die Rolle der Kirchen, deren mutige Vertreter den Kampf um Bürgerrechte in der DDR anführten. Ausdrücklich lobt er zudem die Politik von Bundeskanzler Helmut Kohl im Zuge der deutschen Einheit.
Ärgerlich ist hingegen, dass der Autor das Streben vieler Ostdeutschen auf Reisefreiheit und Konsum nicht als Beweggründe der DDR-Revolution akzeptiert. Zudem übernimmt er kritiklos die Meinung Gorbatschows in Bezug auf die Befreiungsbewegung in Armenien, die der Sowjetführer als "nationalistisch" abgelehnt hatte. Das ist kein Wunder, denn die erste Revolution gegen das sowjetische Imperium hatte im Februar 1988 in Armenien als Kampf für die nationale Befreiung Berg-Karabachs begonnen. Begleitet wurde sie von Forderungen nach mehr Demokratie.
Dass Michael Gorbatschow den Kurs der Perestrojka einschlagen musste, kann beim ehemaligen russischen Ministerpräsidenten Egor Gaidar nachgelesen werden. In seinem Buch "Untergang des Imperiums" weist er darauf hin, dass die heruntergewirtschaftete Supermacht vor Hunger und Bürgerkrieg stand. Der Kreml wusste schon zu Beginn der 1980er Jahre von den bedrohlichen Rissen in der Wirtschaft. Die Angst der herrschenden kommunistischen Partei vor Streiks und Nationalitätenbewegungen, die ihre Herrschaft ernsthaft gefährdeten, zwang den Kreml, "politische Kredite" im Westen aufzunehmen, um Lebensmittel zu kaufen. Im Gegenzug verpflichtete sich Moskau zu Abrüstung und friedlicher Konfliktbeilegung. Am Ende zwangen gerade diese Kredite Gorbatschow zur Zurückhaltung in den westlichen Provinzen des Imperiums.
Vor allem der deutschen Öffentlichkeit ist es nur schwer zu vermitteln, dass die von Gorbatschow letztlich unterstützte Politik der Wiedervereinigung weniger mit dem guten Willen des Kreml-Herrschers zu tun hatte, als vielmehr mit der Notwendigkeit, überlebenswichtige Kredite von Deutschland zu bekommen.
Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR.
Verlag C.H. Beck, München 2009; 602 S., 24,90 ¤