Ungarn
Wie die Mittelschicht die Reformen hemmt
Wie erlebt der ungarische Mittelstand die Finanzkrise? Sichtbarste Folge ist das Drama um die Wohnungsbaukredite, die zehntausende Ungarn nicht mehr zurückzahlen können. Viele Ungarn - man darf sie zur unteren bis mittleren Mittelschicht zählen - hatten wegen günstigerer Zinsen Kredite in Schweizer Franken aufgenommen. Wegen der Talfahrt des Forint-Wechselkurses Anfang dieses Jahres gerieten viele in Schwierigkeiten. 3.000 zahlungsunfähige Familien verloren daraufhin ihre Wohnungen. Ähnliches droht weiteren 500.000 Menschen.
Indes ist das Ausmaß der Unternehmenspleiten in der ersten Jahreshälfte geringer ausgefallen als beispielsweise in Deutschland. Ungarns größter Arbeitgeber, die Audi-Tochter in Györ, hat lediglich die Produktion zurückgefahren. Daimler will weiterhin in Ungarn eine große Fabrik bauen. Die Unternehmer aus der verarbeitenden Industrie sind nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Tarki heute optimistischer als Anfang 2008. Dies liegt wohl daran, dass sich der Forint wieder stabilisiert hat - mit Hilfe eines 20 Milliarden Euro teuren Kreditpakets des IWF und der EU.
Ungarn steckt nämlich nicht erst seit der Lehmann-Brothers-Pleite in der Krise. Seit etwa zehn Jahren verliert Ungarns Wirtschaft stetig an Schwung. Die Steuern und die Staatsausgaben sind zu hoch, das Defizit kann nur mühsam unter Kontrolle gehalten werden. Ungarn ist ein Wohlfahrtsstaat auf Pump. Dies wollte der sozialistische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsany ändern. Er scheiterte und musste in diesem Frühjahr zurücktreten. Die tieferen Gründe dafür sind in der spezifischen Beschaffenheit der Mittelklasse zu suchen, die in Ungarn Reformen eher hemmt. Historiker und Soziologen sind sich weitgehend einig darin, dass Ungarns Mittelstand in zwei Hauptgruppen gespalten ist, die ideologisch und wirtschaftlich ein Gegensatzpaar bilden. Zum einen sind es die ungewöhnlich zahlreichen Staatsbediensteten, die heute, wie auch vor 150 Jahren, reformfeindlich sind. Modellbildend war hierbei, der Budapester Soziologin Maria Vásárhelyi zufolge, der ungarische k.u.k.-Beamte, der den adeligen Lebensstil nachzuahmen trachtete, auf seine Privilegien pochte und das Gewinnstreben der "Parvenüs" verachtete. Diese Ideologie hat den Kommunismus überdauert und nährt den Glauben an den Verteilungsstaat. Dieser findet sich auch in der rechtsextremen Rhetorik der erstarkten Partei Jobbik - die allerdings eher die Unterschicht, allenfalls noch die ärmere Mittelschicht vertritt.
Der "andere" Mittelstand - die dynamischen "Parvenüs" aus der freien Wirtschaft - steht für Reformfreude. Diese Klasse hat jetzt eine wichtige politische Vertretung verloren, weil die liberale Partei SZDSZ (Bund Freier Demokraten) vor der Auflösung steht. Ihren Platz könnte die kleine Mitte-Rechts-Partei MDF (Ungarisches Demokratisches Forum) einnehmen, die nach jahrelangem Niedergang nun stärker geworden ist. MDF wirbt um den dynamischen Mittelstand. Bezeichnend dafür ist, dass MDF ausgerechnet den unbeliebten früheren Finanzminister Lajos Bokros zum neuen Zugpferd gemacht hat. Der Wirtschaftsprofessor Bokros hatte Mitte der 1990-er Jahre durch ein Sparprogramm die Staatsfinanzen in Ordnung gebracht und sitzt nun für das MDF im EU-Parlament. Er plädiert seit langem für die Abschaffung des Verteilungsstaats. Die Großparteien FIDESZ (rechtsnational) und die Sozialisten wiederum wenden sich eher an die etatistisch denkende Mitte. Bei der Parlamentswahl im Frühjahr 2010 dürfte sich zeigen, welcher "Mittelstand" gewinnt.
Die Autorin berichtet für die Deutsche Presse-Agentur über Ungarn.