AnnÄherung
Deutschland bleibt eine Mittelschichtsgesellschaft. Aber die Expansion ist vorbei
Als Karl Marx und Friedrich Engels in ihrem "Kommunistischen Manifest" von 1848 das "Gespenst des Kommunismus" umgehen sahen, spielte die Mittelschicht darin eine wichtige Rolle. Denn ihre scharfzüngige Diagnose der kapitalistischen Entwicklung lief darauf hinaus, dass die Reichen reicher werden und die Armen ärmer - die mittleren Schichten aber, die selbstständigen Handwerker und kleinen Händler, nach unten absinken und das Proletariat zu revolutionärer Stärke anschwellen lassen. Seitdem hat der Verlauf der Geschichte Marx und Engels gleich mehrfach widerlegt. Immer wieder wurde das endgültige Zerreißen der Gesellschaft prophezeit, das Herausbrechen der "mittleren Sprossen" aus der sozialen Leiter, wie man etwa um 1900 befürchtete.
Um diese Zeit begann stattdessen der Aufstieg der modernen Mittelschichten in den westlichen Industriegesellschaften, auch in Deutschland. Die Facharbeiter lebten nicht mehr von der Hand in den Mund; immer mehr Menschen verdienten ihr Geld nicht in der Fabrikhalle oder auf dem Feld, sondern in Büros und Geschäften; und ein moderner Lebensstil mit Merkmalen des privaten Komforts, der Freizeit und Bildung begann sich zu etablieren. Besonders in der ungewöhnlichen Prosperitätsphase der Nachkriegszeit, dem westdeutschen "Wirtschaftswunder", expandierte die Mittelschicht. Sie umfasste schließlich nicht mehr ein Viertel oder ein Fünftel der Bevölkerung, wie es vorher meist gewesen war, sondern mehr als die Hälfte.
Dennoch ist die Prognose von Marx und Engels offensichtlich hochaktuell. Denn seit einigen Jahren ist die Debatte über die Mittelschicht neu entbrannt, und ihr Grundton lautet: Die Mittelschicht ist erneut in Gefahr. Sie schrumpft, während die Unterschicht wächst und die Zahl der Reichen steigt.
Aber wer ist überhaupt "die Mitte"? Gestatten: Herr Ralf Mitte, 42 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, deutsche Herkunft, wohnhaft am Rande einer Großstadt, in einem noch längst nicht abbezahlten Reihenhaus. Abitur, Banklehre, ziemlich sicherer Arbeitsplatz - aber man weiß ja nie. Auto, Urlaub - das geht alles ganz gut, auch wenn ganz schön gerechnet wird und am Ende des Monats kaum etwas übrig ist. Die Ehefrau verdient etwas dazu und will wieder voll einsteigen, wenn die Kinder größer sind.
So könnte man sich die deutsche Mittelschicht vorstellen, die in Wirklichkeit vielschichtig und durchaus heterogen ist. Um eine einheitliche soziale Klasse, noch dazu mit einem gefestigten "Klassenbewusstsein" im Marxschen Sinne, handelt es sich dabei nicht. Und sie wandelt sich mit der Gesellschaft insgesamt. Während Marx ganz selbstverständlich von Handwerkern in Kleinstädten sprach, denken wir eher an großstädtische Büroangestellte.
Die meisten neueren Untersuchungen der Mittelschicht gehen deshalb von einem relativ einfachen, quantifizierbaren Maßstab aus: Sie blicken auf das verfügbare Einkommen der Individuen beziehungsweise der Haushalte, also das Einkommen nach Steuern und Abgaben, und unter Einschluss staatlicher Transferleistungen. Eine bestimmte Einkommensspanne bezeichnet dann die Mitte - häufig alle diejenigen, wie in der Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung von 2008 (siehe Kasten), die zwischen 70 Prozent und 150 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung haben. Der Median bezeichnet die mittlere Position einer Skala (nicht den Durchschnitt). Wer 70 Prozent davon hat, ist gerade noch Mitte, darunter beginnt für viele Studien bereits die Armut oder jedenfalls Armutsgefährdung. Wer mehr als 150 Prozent hat, gehört zu den Besserverdienenden.
Kein Zweifel, die so gestellte Diagnose von der Gefährdung und Schrumpfung der Mittelschicht hat einiges für sich. Unbestreitbar haben sich Vermögen und Einkommen seit den 1980-er Jahren auseinander entwickelt, haben sich Kontostände und Lebenssituationen polarisiert - jedenfalls der Tendenz nach; nicht so radikal wie in Marx' Sicht. Das wiederum hat viele Gründe, unter denen ökonomische Veränderungen eine ganz wichtige Rolle spielen. Einstmals sichere, obwohl gering qualifizierte Arbeitsplätze in der Industrie sind in Deutschland weithin verschwunden. Ein neuer Niedriglohnsektor im Dienstleistungsbereich ist entstanden. Überhaupt hat die Wachstumsdynamik, von der die Expansion der Mittelschicht abhängig war, nachgelassen. Nicht zuletzt hat der "Aufschwung Ost" in den neuen Bundesländern viel zögernder eingesetzt als 1990 erhofft. Massenarbeitslosigkeit ist kein Freund starker Mittelschichten.
Doch in ökonomischen Skalen geht die Veränderung der gesellschaftlichen Mitte nicht auf. Private Lebensformen haben sich gewandelt; an die Stelle der Normalfamilie, die Herr Rolf Mitte noch repräsentiert, ist die "Individualisierung" und "Pluralisierung" von Lebenslagen getreten. Die neu gewonnene Freiheit kann aber zu Lasten der sozialen Sicherheit gehen. Wenn eine Mutter ihre Kinder alleine erzieht, hat sie es schwer, Mittelschichtstatus zu erreichen. Wenn ein Vater nach der Scheidung eine neue Familie gründet und für die alte noch Unterhalt zahlen muss, ist auch das häufig nichts anderes als ein Abstieg aus der Mittelschicht. Zahlen mit Einkommensanteilen, die solche Veränderungen nicht berücksichtigen, sind mit Vorsicht zu genießen.
Denn die Mittelschicht ist nämlich, auch ihrem eigenen Selbstverständnis nach, nicht nur durch Geld definiert. Man könnte geradezu sagen: Mehr als die reiche Oberschicht und als die arme Unterschicht konstituiert sie sich durch immaterielle Faktoren. Unter ihnen spielt Bildung vielleicht die größte Rolle - messbar in Abschlüssen wie dem Abitur oder einem Universitätsdiplom, aber auch wieder schwer messbar in einem besonderen Bildungsehrgeiz, der sich um die Hausaufgaben der Kinder kümmert oder den Fernseher auch mal zugunsten eines Buches abstellt. Insofern erkennt man die Mittelschicht an einer besonderen Form der Lebensführung, in der Disziplin und Werteorientierung zentrale Plätze einnehmen.
"Zwischen Erosion und Erneuerung" heißt deshalb eine 2007 vorgestellte Studie der Herbert Quandt-Stiftung über die gesellschaftliche Mitte in Deutschland, die ein breiteres Spektrum von Kriterien zugrunde legt als nur das Einkommen. Dann ergibt sich ein etwas anderes Bild. Die Mittelschicht hat nämlich in den vergangenen Jahrzehnten - wie eigentlich immer in ihrer Geschichte - eine erstaunliche Erneuerungskraft bewiesen. Sie hat vom technischen und ökonomischen Wandel fraglos mehr profitiert als die gering Qualifizierten. Sie hat Dienstleistungs-, Gesundheits-, pädagogische Berufe besetzt. Sie hat ihren Wertehorizont erneuert, ablesbar etwa an der großen Zahl der Bio-Supermärkte. Auch ist Abstieg an der einen Stelle durch Aufstieg und Expansion an anderer Stelle kompensiert worden. Noch nie gab es in der älteren, in der nicht mehr arbeitenden Bevölkerung einen höheren Lebensstandard als heute - der Siegeszug der "Rentner-Mittelschichten" ist ein vergleichsweise junges Phänomen.
Deshalb sollte man auch vorsichtig sein, zu rasche Schlüsse von der aktuellen Wirtschaftskrise auf die Situation der Mittelschichten zu ziehen. Immer noch gilt, dass die Arbeitsplätze der Mittelschicht vergleichsweise sicher sind. Andererseits mögen die Verluste in den typischen kleineren Geldvermögen, die meist Teil der privaten Altersvorsorge sind, die Mitte härter getroffen haben als die Transferempfänger: Diese konnten am Aktienmarkt einfach nichts verlieren. Schlagzeilenträchtige Katastrophenszenarien führen also in die Irre. Deutschland bleibt im Kern eine Mittelschichtgesellschaft. Aber die Risiken sind gewachsen, und die Zeit der scheinbar unbegrenzten Expansion ist vorbei.
Paul Nolte ist Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin. Er betreute unter anderem für die Herbert Quandt-Stiftung die Studie "Die Zukunft der gesellschaftlichen Mitte in Deutschland".