Ostdeutschland
Von einer erwerbstätigen sozialen Mitte kann kaum gesprochen werden. Was die Region prägt, ist eine neue Armut
Die Anstrengungen zur Stabilisierung der sozialen Mitte richteten sich in der ostdeutschen Gesellschaft nach dem Ende der DDR vor allem auf den gewerblichen Mittelstand. Er konnte seit Anfang der 1990-er Jahre seine Größe mehr als verdoppeln. Diese Revitalisierung ist eine Erfolgsgeschichte. Ärzte, Notare und Apotheker haben bildungsbürgerliche Werte verinnerlicht, genauso wie im Westen. Damit allein lässt sich schon wegen der geringen Prozentzahl jedoch keine moderne Mittelschichtgesellschaft begründen und den ostdeutschen Angestellten fehlt bislang jedes Mittelschicht- bewusstsein.
Üblicherweise entsteht eine breite soziale Mitte vor allem durch die Etablierung der Angestellten in den Dienstleistungen. Schaut man aber auf die Berufbiografien vieler Ostdeutscher, erfahren diese kaum soziale Sicherheit und erleben wenig gesellschaftliche Anerkennung: Ein Beispiel: Die 48-jährige Frau Vogel ist Friseuse. Als ihr Salon Mitte der 1990-er Jahre insolvent wird, qualifiziert sie sich als Kosmetikerin und steigt bei einer Freundin in einem Nagel-Studio ein. "Das lief aber nicht gut, nach 18 Monaten mussten wir schließen." Nach kurzer Arbeitslosigkeit versuchte sie es in der Wellnessbranche: "Die Arbeit war klasse." Aber auch hier folgt die Entlassung. Frau Vogel wird dann von einem Friseurunternehmer eingestellt. "Ich war da manchmal die einzige ausgebildete Fachkraft. Im vergangenen Jahr verdiente ich monatlich zwischen 650 und 800 Euro auf die Hand."
Auch hoch qualifizierte Dienstleister finden nur schwer eine berufliche Perspektive: Nach seinem Studium der Wirtschaftsinformatik absolvierte Herr Häber ein Praktikum in einem Softwareservice-Unternehmen. Aber mit einer Anstellung wird es nichts. Er schreibt 28 Bewerbungen, bekommt aber nur Praktikums- oder Projektstellen angeboten. Nach einem halben Jahr Hartz IV bekommt er eine Stelle in einer 400 Kilometer entfernten Stadt, aber das versprochene Nettogehalt von 1.800 Euro lässt sich nicht annähernd erreichen. Nach einem Jahr gibt er auf und meldet sich arbeitslos.
So wie die Friseuse Frau Vogel und der Informatiker Herr Häber versuchen sich auch Krankenschwestern, Sozialpädagogen, Zahnarzthelferinnen, Grafiker oder Kindergärtnerinnen beruflich zu etablieren. Im Jahr 2004 verdienten nur 24,2 Prozent der ostdeutschen Erwerbstätigen 1.500 Euro oder mehr im Monat (im Westen sind es 43,9 Prozent). Von einer erwerbstätigen sozialen Mitte kann unter diesen Verhältnissen kaum gesprochen werden. Was sich in den Transformationskrisen herausgebildet und verfestigt hat und was das Land prägt, ist eine neue Armut. In der neuerlichen Krise seit 2008 stellt sich nun die Frage, wie sich Berufsbiografien in der sozialen Mitte auf diese unsicheren Verhältnisse einstellen können.
Durch ihre Geschicklichkeit und Freundlichkeit gewann Frau Vogel einen festen Kundenstamm. "Das ist jetzt mein Kapital!" Frau Vogel macht sich selbständig. Der eigene Salon ist allerdings kein lang gehegter Wunschtraum. "Ist ein ziemliches Wagnis", kommentiert sie ihren Schritt.
Der Weg in die Selbständigkeit gilt als Königsweg des Aufstiegs und der Etablierung in der sozialen Mitte. Doch im Osten gibt es eine große Anzahl von Notgründungen. Prekär sind diese Gründungen wegen der fehlenden Ressourcen, wegen des schwachen Einkommens- und Vermögensniveaus in der Region. Im Durchschnitt werden in Ostdeutschland 80 Prozent der westdeutschen Löhne gezahlt.
So denkt auch der Informatiker Häber über die Wirtschaftskraft seiner Region nach: "Mit Wirtschaftsinformatik wird das hier nichts werden. Bleibt Umschulung oder wir müssen eben nach München. Es gibt da eine Firma, da könnte ich vielleicht anfangen." Schweren Herzens würde Herr Häber seine sächsische Heimat verlassen, um endlich den beruflichen Einstieg zu finden.
In der Generation "Praktikum" zieht sich die berufliche Etablierung in der modernen Mitte immer länger hinaus. Um Phasen zeitweiliger Arbeitslosigkeit überstehen zu können, brauchen die akademischen Berufseinsteiger soziale und finanzielle Ressourcen, an denen es im Osten mangelt. Viele können den geforderten langen Atem nicht aufbringen und geraten dann sofort in die Hartz IV-Spirale. Auch im Westen der Republik gibt es ähnliche Schwierigkeiten, jedoch ungleich größere Reserven, eine Durststrecke zu überstehen. Das Nettovermögen hat in Westdeutschland von 2002 bis 2007 um etwa elf Prozent (auf durchschnittlich 100.000 Euro pro Person) zugenommen, während es in Ostdeutschland um zehn Prozent (auf durchschnittlich 31.000 Euro pro Person) zurückging.
Die politische Hoffnung, dass sich der Osten über Prozesse "nachholender Modernisierung" zu einer Mittelschichtgesellschaft nach bundesrepublikanischem Vorbild entwickelt, scheiterte bisher an der krisenhaften Transformationsentwicklung. Der Osten sollte in einem historischen Augenblick Anschluss an die etablierte Mittelschichtgesellschaft des Westens gewinnen als diese den Zenit ihrer Entwicklung längst überschritten hat.
Denn insgesamt lassen sich in der Mitte viel eher Prekarisierungs- als Etablierungstendenzen feststellen. So ordnen sich die Ostdeutschen in ihrem Selbstverständnis auch im zweiten Jahrzehnt nach der DDR mehrheitlich (57 Prozent) dem alten Identifikationsbild der Arbeiter zu. Die Prekarisierung der Angestellten muss in Ostdeutschland als Proletarisierung gedeutet werden.
Der Autor ist Professor an der Universität Jena. Der Soziologe beschäftigt sich mit Kultursoziologie und Milieuforschung. Er hat unter anderem das Buch "Soziale Milieus in Ostdeutschland" herausgegeben.