Parteien
Politikerlaufbahnen sind heute immer häufiger die Folge biografischer Zufälle. Das war früher anders
Weit verbreitet ist die Meinung, "die heutigen Politiker" seien nicht mehr von jenem alten Schrot und Korn, das frühere Politikergenerationen ausgezeichnet habe. An große Namen wie Willy Brandt, Franz Josef Strauß, Konrad Adenauer oder Theodor Heuss wird zur Untermauerung dieser Behauptung gern erinnert. Als letzter Mohikaner der besseren alten Zeit erfreut sich der unverwüstliche Altkanzler Helmut Schmidt allseitiger Verehrung. Inzwischen würden nicht mehr kantig konturierte Charaktere das Bild der Politik bestimmen, heißt es, sondern austauschbare Angehörige einer sozial und kulturell entorteten politischen Einheitsklasse.
Bei solchen Ansichten ist fast immer eine kräftige Portion "Früher-war-alles-besser-Nostalgie" im Spiel. Zieht man diese aber ab, enthält die These einen wahren Kern. Ja, die Politiker zu anderen Zeiten waren anders als die heutigen. Was hingegen nicht zutrifft, ist die mitschwingende Annahme, die Politiker der Gegenwart könnten überhaupt so sein wie jene längst vergangener Zeiten. Nicht anders als frühere Generationen von Politikern sind die heutigen geprägt durch gesellschaftliche und historische Rahmenbedingungen ihres Zeitalters. Was sich geändert hat, sind die Umstände.
Wer verstehen will, warum sich Politiker so verändert haben, der muss sich ein paar Umbrüche vor Augen führen, die unsere Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten erlebt hat - mit massiven Auswirkungen gerade auf diejenigen Organisationen, die Politiker hervorbringen und sozialisieren: die Parteien.
Parteien waren immer Vehikel, mit deren Hilfe neue Gruppen innerhalb der Gesellschaft Aufstieg und Emanzipation erstrebten. Wo Menschen kollektiv mit ihrer Lage haderten, gründeten sie politische Parteien. Noch heute sind die Wege fast aller wesentlichen Parteien weit ins 19. Jahrhundert zurückzuverfolgen. Die Liberalen sind die Erben der bürgerlichen Verfassungsbewegung gegen den Obrigkeitsstaat; die Sozialdemokratie entstammt der Arbeiterbewegung, wie sie sich im Zuge der Industrialisierung entwickelte; die CDU wurzelt zu guten Teilen im politischen Katholizismus, der gegen Bismarcks Ausgrenzung der katholischen "Reichsfeinde" eintrat.
Die historischen Konstellationen unterschieden sich. Immer jedoch handelte es sich bei den Parteien in ihrer Aufstiegsphase um politische "Aktionsausschüsse" gesellschaftlicher Bewegungen, die um Anerkennung kämpften. Innerhalb dieses Aufstiegsstrebens waren die jeweiligen Parteien zugleich stets auch Vehikel des individuellen Aufstiegs ihrer Funktionäre. Diese kamen so als Einzelne voran, aber sie blieben dabei doch Repräsentanten ihrer Bewegungen. Ein sozialdemokratischer Politiker war ein "Arbeiterführer", ein christdemokratischer Landwirtschaftspolitiker repräsentierte als "Bauernführer" eine ganze agrarisch-ländliche Lebensform. So wusste man stets, wofür ein Politiker stand, woher er kam und welches Milieu innerhalb der Gesellschaft er vertrat. Das verschaffte den Politikern "sozialen Kontext" und "Bodenhaftung".
Heute leben wir in einer anderen Welt. Geändert hat sich nicht zuletzt, dass inzwischen viel weniger Menschen als früher in geschlossene Milieus hineingeboren werden. Einst vollzogen sich auch die Lehrjahre späterer Politiker innerhalb ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Säule.
Der viel beschworene und millionenfach vollzogene "Aufstieg durch Bildung" in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte das. Schon der ehemalige Wehrmachtsoffizier Helmut Schmidt, nach dem Krieg einer der ersten Studenten der Universität Hamburg, taugt nicht mehr als Beispiel für die politische Sozialisation innerhalb eines geschlossenen Parteimilieus, so wie sie noch Adenauer, Heuss oder Schumacher erfahren hatten. Und erst recht ein Politiker wie Gerhard Schröder, hervorgegangen aus ärmlichsten Verhältnissen im Lipperland, hätte seinen politischen Weg auch in einer anderen Partei als der SPD gehen können.
Gewiss waren es in der Bundesrepublik vor allem die Sozialdemokraten, die ihre Gesellschaftspolitik am Leitbild "Aufstieg durch Bildung" ausrichteten. Doch gerade diese "kognitive Mobilisierung" (Ronald Inglehart) hat viele Millionen Menschen eben auch aus den vormals existierenden politischen Bindungen freigesetzt und eben dadurch zur Erosion ihrer Herkunftsmilieus beigetragen. Wer mehr Bildung besitzt, hat nun einmal größere Optionen. Folgerichtig lassen sich die parteipolitischen Zugehörigkeiten von Politikern immer weniger linear aus ihrer sozialen Herkunft ableiten. SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier (Jahrgang 1956) führt seine sozialdemokratische Gesinnung mit dem eigenen sozialen Aufstieg auf die sozialdemokratische Bildungs- und Gesellschaftspolitik zurück. Aber dieser Zusammenhang ist keineswegs zwingend. Andere Politiker interpretieren ihre individuelle Aufstiegserfahrung anders. Ronald Pofalla (Jahrgang 1959) blickt auf eine ähnliche soziale Herkunft zurück wie Frank-Walter Steinmeier. Nach dem Besuch der Volks- und Hauptschule Weeze am Niederrhein absolvierte er eine Ausbildung zum Sozialarbeiter. Dennoch landete er nicht bei der SPD, sondern amtiert heute als Generalsekretär der CDU.
In der bundesdeutschen Mittelschichtengesellschaft haben die Parteien aufgehört, vor allem politische Aktionsausschüsse bestimmter gesellschaftlicher Kräfte zu sein. Nicht zuletzt deshalb meinen Parteienkritiker, es existiere nur noch eine einheitliche, von der übrigen Gesellschaft abgekoppelte "politische Klasse". Das ist übertrieben. Richtig ist aber, dass Politikerlaufbahnen in immer stärkerem Maße von biografischen Zufällen abhängen.
Laufbahn- und Richtungsentscheidungen von Politikern hängen mit deren Herkunft also kaum noch zusammen. Dass gerade die sich "links" gebärdenden Nachwuchskräfte der Sozialdemokratie fast durchweg den bildungsbürgerlichen Mittelschichten entstammen, ist dafür ein besonders eindrücklicher Beleg. Man muss es indes nicht beklagen, wenn sich die Orientierung von Politikern immer weniger aus ihrer sozialen Herkunft ableiten lässt, sondern sollte dies als Ausweis der gewachsenen Freiheitsoptionen deuten, die sich den Angehörigen der breiten Mitte unserer Gesellschaft heute eröffnen.
Demokratiepolitisch bedenklich ist es freilich, wenn unterhalb dieser gesellschaftlichen Mitte neue Milieus von permanent Ausgeschlossenen entstehen, die aufgrund mangelnder Bildung und Integration erst gar nicht den Einstieg ins politische Personal der Republik finden. Wo die Abgehängten auf die demokratische Ordnung pfeifen, nimmt deren Legitimität irgendwann schweren Schaden. Nicht nur deshalb braucht dieses Land wieder mehr Aufsteiger - gerade auch in der Politik.
Der Autor ist Chefredakteur der Zeitschrift "Berliner Republik" und Vorsitzender des Think Tanks "Das Progressive Zentrum".