Grossbritannien
Das Fundament, auf dem die Mittelklasse ruht, ist der eigene Besitz
Wie in allen westlichen Ländern ist die Mittelschicht in Großbritannien das stärkste und gewichtigste Element der Gesellschaft - aber im Gegensatz zu allen anderen westlichen Gesellschaften empfindet sie es selber nicht. Die Wucht der Wirtschafts- und Finanzkrise wird in den Londoner Zeitungen nicht anhand des Schicksals einer "Durchschnittsfamilie" illustriert, sondern an den Beispielen reicher Investmentbanker und armer, sozial verelendeter Gestalten. Ein gemeinsamer gesellschaftlicher Nenner, verkörpert durch Prototypen wie "die Facharbeiterfamilie", oder "den Eckrentner" fehlt in der britischen Vorstellungswelt.
Ein anderes Wertgefüge und ungebrochene, auf dem historischen Dualismus von Adel und Bauern fußende Traditionen, sorgen dafür. Sozialstatistiken zeigen, dass die Einkommensschere im Vereinigten Königreich sich fast am weitesten spreizt im Kreis der westlichen Länder. Das wohlhabende Fünftel der Bevölkerung verdient das Siebenfache dessen, was die unteren 20 Prozent an Einkommen zur Verfügung haben. Und die regionalen Gegensätze sind noch weitaus krasser: Die ärmsten Gegenden auf den britischen Inseln erwirtschaften nicht einmal ein Achtel von dem, was die wohlhabendsten Gegenden, also Teile von London, zustande bringen.
In der britischen Vorstellungswelt rangiert der Grundwert der Freiheit, der sich auf das stolzeste Dokument der westlichen Verfassungsgeschichte, auf die Magna Charta des Jahres 1215 bezieht, unbedingt vor Gleichheit oder sozialer Gerechtigkeit. Der Erfolg der Thatcher-Ära in den 1980-er und 90-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts beruht auf dem Vermögen, der Dominanz des Freiheitsgedankens in einer Mehrheit der Bevölkerung wieder Geltung verschafft zu haben. Der Misserfolg der folgenden Ära von "New-Labour" liegt darin, dass Gegenversprechen nicht eingelöst zu haben: eine in arm und reich, erfolgreich und mutlos polarisierte Gesellschaft in der Mitte zu einen. Der stetige wirtschaftliche Aufschwung der Labour-Zeit beruhte nur zu geringen Teilen auf einheimischen Produktions- und Produktivitätsfortschritten, sondern maßgeblich auf dem steilen Erfolg des Londoner Finanzsektors und seiner Sogwirkung.
Die fundamentalen Disparitäten der britischen Gesellschaft blieben trotz Blairs Credo, "die Mitte" zu stärken, weitgehend unbeeinträchtigt. Das Schulsystem verzeichnet nach wie vor einen hohen Anteil desolater staatlicher und teurer privater Schulen - fast zehn Prozent der Bevölkerung geben ihre Kinder in Privatschulen und wenden dafür große Teile ihres verfügbaren Einkommens auf. Die Kosten der Aufstiegsambitionen ihrer Kinder prägen die Gesellschaftssicht vieler Familien, gerade in der Mittelschicht. Und das stabile Fundament, auf dem die Mittelklasse ruht, besteht nicht aus dem immateriellen Vertrauen auf den Staat und seine Daseinsvorsorge, sondern aus dem materiellen eigenen Besitz: dem (häufig allerdings mit einer Hypothek belasteten) Einfamilienhaus. "My home is my castle" gilt mehr denn je: Die Immobilie ist die Versicherung gegen den gesellschaftlichen Absturz und die Basis für den Aufstieg aller Briten.
Der Autor ist Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in Großbritannien.