Begriff
Die »Mittelschicht« gibt es noch nicht lange. Für die Demokratie ist sie systemrelevant
Klasse ist Kampf. Dem hartgesottenen Marxisten ist dieser Gedanke so vertraut wie dem Katholiken das sprichwörtliche Amen in der Kirche. Auch wenn Karl Marx Zeit seines Lebens nie einen präzisen Klassenbegriff entwickelt hat: Sein Schlachtruf von der Geschichte als Abfolge von Klassenkämpfen hallt noch weit ins 20. Jahrhundert. So schrieb etwa der Soziologe Ferdinand Tönnies in seinem Buch "Geist der Neuzeit", dass "der große und entscheidende, immer erneute Kampf um die ökonomische, die politische, sowie die geistig moralische Macht immer ein Klassenkampf" sei.
So klingt der Zungenschlag der Revolution. Indes: Um die Verknüpfung von Klasse und Kampf haben Altphilologen schon zuvor kein Geheimnis gemacht. "Classicum", jene Sprachwurzel, aus der später die Ordnungsstruktur moderner Gesellschaften erwuchs, bezeichnete im alten Rom nämlich zunächst nicht mehr als eine Trompete, welche die Bürger zu Krieg und Waffen rief. Erst mit der Centuriatsverfassung von Servius Tullius wurde aus dem alten Schlachten- ein neues Schichtenvokabular. Bei dem Versuch, die römische Gesellschaft in Vermögensklassen einzuteilen, hat Servius Tullius fünf unterschiedliche Stände ersonnen. Sortierte er mit den classici die edelsten Edelleute an die Spitze, so fanden sich am Fuße der Leiter sogenannte proletarii - Menschen, die weder über Vermögen noch Waffen verfügten. Denn der Grad der militärischen Ausrüstung war für die frühe Klassengesellschaft schlagkräftigstes Argument.
Ob Klassenkampf oder kämpfende Klassen - weder das junge Rom noch der frühe Marx legten, bei allen Klassifizierungsversuchen, ein Augenmerk auf die soziale Mitte. Dabei wusste schon Aristoteles: "Das mittlere Leben ist das Beste." Und wenn es um Begriffe wie Kampf und Abwehr geht, dann scheint sich das kriegerische Vokabular in den vergangenen Jahren von den sozialen Randlagen ohnehin ins Zentrum verlagert zu haben. Denn, so heißt es aller Orten, die Mitte schrumpft. Der Kampf um Aufstieg und Abstieg, er ist zum Kampf innerhalb einer einzigen Gesellschaftsschicht geworden. Ein erstaunliches Phänomen. Denn bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hat es diese Schicht nicht einmal auf einen akzeptablen Begriff gebracht. Erst 1777 tauchte der "Mittelstand" erstmals in einem Lexikon auf. Es war "derjenige Stand, welcher zwischen reich und arm, zwischen vornehm und gering in der Mitte" war.
Von da an wurde der "Mythos Mitte" indes schnell zur Erfolgsgeschichte. Er schuf den idealen Ausgleich zwischen überkommenem Adel und revoltierendem Plebs. Hegel etwa schrieb in seiner Rechtsphilosophie: "In dem Mittelstande ist das Bewusstsein des Staates und die hervorstechende Bildung." Als mit der Revolution von 1848 der Mittelstand dann sogar zur politischen Führung strebte, war die Mitte endgültig zum Taktgeber des republikanischen Bewusstseins geworden. Im Mittelstand, so die damals aufkommende Meinung, würde Demokratie überhaupt erst möglich gemacht. Doch ein solcher Satz lässt sich auch umkehren. Das Ergebnis: Erst stirbt die Mitte, dann stirbt die Demokratie. Der Kampf der Mitte, er wäre historisch betrachtet somit nicht nur ein interner Klassenkampf - er wäre Ausdruck einer fundamentalen Systemfrage.
Der Autor ist freier Journalist in Berlin.