Zusammenhalt
Zwei Familien berichten, wie sie finanziell schwierige Zeiten überstehen und auf eine Veränderung hoffen
Auf dem Küchentisch der Familie Müller liegen selbstgebackenes Brot und Wurst aus eigener Schlachtung. Die Milch in der Karaffe kommt von den eigenen Kühen, nur Kaffee, Butter und Käse sind gekauft. "Wir verhungern jedenfalls nicht", sagt Silke Müller, 34 Jahre alt. Fatalismus und Durchhaltewillen liegen bei der Mutter dreier Kinder zurzeit nah beieinander. Ihre Schwiegereltern sitzen mit am Tisch. Mal haben sie die einjährige Janika auf dem Schoß, mal schmieren sie ein Brot für Doreen (7) oder Alena (9). Silke und ihr Mann Wolfgang, 37 Jahre alt, bewirtschaften ihren Hof im hessischen Vogelsberg seit elf Jahren. Doch das Leben auf dem Land, das auf den ersten Blick so idyllisch wirkt, ist hart geworden.
Als Wolfgangs Eltern 1969 den Betrieb übernahmen, waren die Bedingungen andere: "Damals hatten wir 16 Milchkühe und konnten davon gut leben, wir sind auch mal essen gegangen und regelmäßig zum Kegeln. Heute sind es 75 Kühe, und wir sparen sogar an der Kleidung für uns oder für die Enkelkinder", sagt Altbäuerin Edith (59). "Wir haben eine Lebensversicherung aufgelöst, um einkaufen zu können." Die Tränen steigen der Seniorchefin in die Augen. "So schwer wie heute war es noch nie."
An ihren Sorgen ist nicht die Wirtschaftskrise schuld, sondern der Milchpreis. Vor zwei Jahren lag er bei 40 Cent pro Liter. Da plante die Bauernfamilie, einen neuen Stall für hundert Kühe zu bauen. Einen Boxenlaufstall, der neuen EU-Verordnungen entspricht. Mit einem modernen Melkstand, in dem das Melken zwei Mal am Tag nicht zwei Stunden dauert, sondern in dem es einer alleine in einer Stunde schaffen kann. Fast 400.000 Euro kostet der Stall. Die Müllers haben einen Kredit dafür aufgenommen.
Doch seit dem Frühjahr ist der Milchpreis im freien Fall, etwas mehr als 20 Cent bekommen die Bauern noch. Die Produktionskosten liegen bei 23 Cent: Futter, Maschinen, die Pacht für die Felder, Lohn für eine Hilfskraft, das Geld für die Milchquote, Versicherungen, Zins und Tilgung - "zurzeit können wir nicht kostendeckend arbeiten", sagt Wolfgang Müller. "Das macht uns Angst", sagt seine Frau. "Wir arbeiten für umsonst." Und sie arbeiten viel: Der Juniorchef und sein Vater sind 80 Stunden pro Woche auf den Beinen, freie Zeit gönnt sich die Familie nur sonntags nachmittags. "Da fahren wir nach Bad Soden-Salmünster und essen ein Eis", sagt Silke Müller. Für Hobbies oder Urlaub reichen weder Zeit noch Geld.
Herum kommt Wolfgang dennoch: Er ist Ortslandwirt, sitzt im Ortsbeirat des 30-Einwohner-Dorfes Rabenstein, engagiert sich in der Vertreterversammlung der Raiffeisenbank und der Molkerei. Im Sommer arbeitet er, so lange es draußen hell ist; abends schraubt er zurzeit zusammen mit seinen großen Töchtern im neuen Stall das Stahlgestänge zwischen den Boxen der Kühe an. Täglich melken Wolfgang und seine Eltern morgens um sechs; danach füttern sie Rinder, Bullen und Kälber, 200 Stück Vieh insgesamt. 120 Hektar Land sind zu bearbeiten - kein kleiner Hof, eher ein größerer, und trotzdem reicht der Ertrag nicht zum Leben. Von der Molkerei kamen im Monat bisher um die 17.000 Euro Milchgeld, jetzt sind es nur noch 10.000 Euro. Den durchschnittlichen Nettolohn eines Fünf-Personen-Haushalts von 4.000 Euro im Monat, den das Statistischen Jahrbuch für 2008 ausweist, erreichen die Müllers bei weitem nicht.
Trotz ihrer wirtschaftlichen Probleme ist die Familie nicht unglücklich. Wolfgang Müller ist froh, dass er sein eigener Herr ist. Stundenlang zu einer Arbeit zu pendeln, bei der er die Kinder nicht sähe, würde ihn traurig machen. "Wir wirtschaften hier alle zusammen, jeder packt mit an." Bei jeder Mahlzeit treffen sich alle am großen Küchentisch. Wolfgang ist landwirtschaftlicher Meister; Silke, selbst Bauerntochter, ist Erzieherin. Nach ihrer Hochzeit haben die beiden voller Optimismus ein geräumiges zweieinhalbstöckiges Haus an das alte Bauernhaus angebaut. Silke arbeitete auch noch in ihrem Beruf, als die älteren Töchter schon auf der Welt waren. Das ging nur mit Hilfe der Schwiegermutter. Silkes Einkommen half, den Kredit für das Haus zu bedienen. Alt und Jung stehen zusammen auf dem Müllerschen Hof, und natürlich sind Wolfgangs Eltern stolz darauf, dass er den Betrieb in sechster Generation führt.
Viele der Dinge, die die Glücksforschung als Elemente eines gelungenen Lebens ausmacht, haben die Müllers: Sie erleben Gemeinschaft, familiären Zusammenhalt und Heimat, sie sind eng verbunden mit der Natur. An der Anerkennung ihrer Arbeit hapert es - das ist der große Wermutstropfen. "Noch nie waren Lebensmittel so billig wie heute", klagt Silke Müller. "Keiner in der Stadt weiß mehr zu schätzen, was wir hier tun." Von der Politik verlangen sie stabilere Rahmenbedingungen. Für ihre Kinder wünschen sich die Müllers, dass sich die Zeiten ändern: "Wenn die Preise so bleiben, kann man ihnen nicht raten, in der Landwirtschaft zu bleiben."
65 Kilometer weiter südöstlich Richtung Frankfurt wohnen in einer Reihenhaussiedlung in der 35.0000-Einwohner-Stadt Rodgau Marcus und Anita Koslowski , 37 und 35 Jahre alt. Auch sie sind in diesen Sommerferien nicht in den Urlaub gefahren. Denn die Koslowskis spüren die Wirtschaftskrise. Früher mieteten sie in Marcus' Heimat Polen ein Ferienhaus an der Ostsee. In diesem Sommer zelteten Marcus und Anita ein paar Tage lang mit ihren Kindern Jan (9) und Dana (4) an einem nahe gelegenen See. "Die Kinder hatten trotzdem Spaß," sagt Anita. Im Januar hat Marcus' Arbeitgeber, ein Automobilzulieferer in Offenbach, Kurzarbeit angemeldet. Seither fehlen von den 2.300 Euro netto, die er als Elektromonteur verdient, zwischen 100 und 300 Euro - "genau das Geld, das wir sonst für einen Urlaub ausgeben würden", sagt er.
Marcus hat früher in Handwerksbetrieben gearbeitet; schon zweimal wurde er aufgrund schlechter Konjunktur entlassen. Nun macht er sich Gedanken über seine berufliche Zukunft: "Bei Kurzarbeit weiß man nie, wie es weitergeht." Doch existenzielle Sorgen sind das nicht: Sein Arbeitgeber hat eine Jobgarantie bis 2010 ausgesprochen. Marcus ist sich sicher, bei einer kleineren Firma sofort wieder Arbeit zu finden. Doch er schätzt die Vorteile eines Großunternehmens - von den geregelten Arbeitszeiten bis zu den Sozialleistungen. Als Vorarbeiter richtet er Maschinen zur Herstellung von Antriebswellen ein, mal in der Frühschicht von 6 Uhr bis 14 Uhr, mal in der Spätschicht von 14 Uhr bis 22 Uhr.
Anita hat nach dem Abitur eine Lehre als Groß- und Außenhandelskauffrau gemacht und bis zur Geburt ihres Sohnes gearbeitet. Das hat ihr Spaß gemacht. Heute ist sie froh, Vollzeit-Mutter zu sein. "Wir hatten uns das immer so vorgestellt, und zum Glück können wir es uns leisten", sagt sie. "Mit zwei Gehältern hätten wir vielleicht zwei Autos. Aber Geld ist nicht alles", sagt er. Frühestens, wenn Dana alleine von der Schule nach Hause kommt, will Anita wieder arbeiten. "Meine Mutter stellte das Essen auf den Tisch, wenn ich kam - das möchte ich meinen Kindern auch bieten. Ich bin kein Karrieremensch", sagt sie.
"Wenn Markus studiert hätte, hätte ich vielleicht auch meine Ziele höher gesteckt", sagt sie. "Wenn Anita studiert hätte, hätte ich den Techniker gemacht", sagt er. Doch Ehrgeiz hat seinen Preis. Marcus schätzt es, nach der Arbeit Zeit für die Familie zu haben, anstatt den Kopf in Bücher stecken zu müssen. Die Familie lebt sparsam - ohne das Gefühl, auf etwas verzichten zu müssen. "Wir kaufen Qualität, aber achten auf den Preis." Kindersachen vom Flohmarkt kombiniert Anita mit Markenkleidung. Jan würde gerne Tennis spielen - doch das ist den Eltern zu teuer, 900 Euro im Jahr würde das Training kosten. Musikschule, Ballett - nach diesen zum Teil teuren Nachmittagsangeboten fragt Dana noch nicht.
Für ihre Kinder wünschen sich Marcus und Anita, dass sie Abitur machen. Andernfalls befürchten sie, dass sie keinen guten Ausbildungsplatz bekommen. Von der Politik erwarten sie nicht viel. Anita ist froh, dass für Dana jetzt das zweite Kindergartenjahr kostenlos ist. Marcus gibt sich illusionslos: "Wer vor der Bundestagwahl Steuersenkungen verspricht, der nimmt uns doch später an anderer Stelle das Geld wieder aus der Tasche."
Die Autorin ist Redakteurin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".