Mittelschicht in Der Literatur
Die Schriftsteller beobachten vor allem sich selbst
Anna Katharina Hahn weiß, was die gut situierte, fest in bürgerlichen Lebenszusammenhängen steckende Frau alles aushalten muss. Judith, eine der zwei Heldinnen aus Hahns Debütroman "Kürzere Tage", ist Hausfrau, kocht gesund und ökologisch, hat ihre zwei Jungs im Griff, nicht zuletzt mit Hilfe anthroposophischer Pädagogik, steht die Tage aber nur mit Tabletten durch. Leonie wiederum ist gern berufstätig, hat deshalb aber ein schlechtes Gewissen gegenüber ihren Kindern. Und da schaut sie dann schon mal sehnsüchtig rüber in das hell erleuchtete Heim von Judith und "hat das Gefühl, ein Bilderbuch aufzuschlagen, in dem alles so ist, wie es sein soll".
Ihr Roman ist eine schöne Milieustudie aus der Stuttgarter Bildungsbürgerwelt, die es so auch in Berlin-Prenzlauer Berg oder Frankfurt-Sachsenhausen gibt. Materiell ist hier alles vorhanden, der Lebensstil bis ins Mark verfeinert. Trotzdem fehlt immer etwas zum großen Lebensglück. Nach außen stellt sich vieles wie aus dem Bilderbuch dar, beim genaueren Hinsehen kommen aber viele kleine, hässliche Risse in der schönen neuen und heilen Bürgerwelt zum Vorschein.
Hahn ist mit "Kürzere Tage" ein Wagnis eingegangen. Denn der Stoff gibt nicht unbedingt viel her - über eine Generation der heute 30- bis 45-Jährigen, die zwischen Distinktion und Einbauküche schwankt, lassen sich wenig aufregende Geschichten erzählen. In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur betreibt man in der Regel doch lieber private Nabelschau (alle), entdeckt den Provinzroman neu (Henning Ahrens, Reinhard Kaiser-Mühlecker) oder bereitet erfolgversprechende historische Stoffe auf (die Deutschen Buchpreisträger Arno Geiger, Julia Franck und Uwe Tellkamp).
Langeweile ist ein Charakteristikum bürgerlicher Sicherheit, die viele jüngere Schriftsteller nur zu gut kennen. Sie entstammen einer wirtschaftlich meist noch gut abgefederten Mittelschicht, zumal aus den alten Bundesländern. Richtig interessant wird so eine Erzählung über eine Schicht wie diese erst, wenn die Sicherheit bedroht ist, wenn sich wie bei Hahn die Risse zeigen - oder gar ein Migrantenkind die bürgerliche Idylle vollends zerstört. Oder wenn, wie in "Sieben Jahre", dem neuen Roman von Peter Stamm, zu allem Ehe-Unglück ökonomische Schwierigkeiten hinzukommen. Bei Stamm geht es wie so oft um die Irrungen und Wirrungen zwischenmenschlicher Beziehungen - doch im Subtext seines Romans über eine handelsübliche Ehe und eine merkwürdige außereheliche Beziehung spielt die Arbeitswelt eine wichtige Rolle. Der 40 Jahre alte Ich-Erzähler Alex betreibt mit seiner Frau Sonja ein Architekturbüro, und parallel zu ihrer zunehmend kriselnden Beziehung holt sie die Wirtschaftskrise ein: "Ich bat Sonja, die Entlassungsgespräche zu führen, es waren ihre Leute, und sie war beliebter bei den Angestellten als ich. Die ersten Schreibtische wurden geräumt, ein Teil des Büros untervermietet, und es machte sich eine deprimierte Stimmung breit." Es folgt die Insolvenz und die schwierige Rettung des Büros, und Alex gewinnt die Erkenntnis, dass er zwar mitten im Leben steht, aber immer auch am Abgrund davon. Man könnte auch sagen: Er ist vergeblich auf der Suche nach einem "Glück in glücksfernen Zeiten", wie der letzte Roman von Büchnerpreisträger Wilhelm Genazino heißt.
Genazino ist der Schmerzensmann der westdeutschen Mittelschicht, seine Romane werden bevölkert von Figuren, die kleine Angestellte sind (Abschaffel!), die als Vertreter oder Kassiererinnen arbeiten. Die aber auch leitende Positionen bekleiden, wie der 41-jährige Gerhard Wahrlich in "Das Glück in glücksfernen Zeiten", der für die Organisation einer Großwäscherei zuständig ist. Sie alle haben Probleme mit den Gesamtmerkwürdigkeiten des Lebens, sie alle flanieren zum Ausgleich durch einen Alltag jenseits ihres Berufslebens, und sie alle wehren sich gegen ein Scheitern ihrer sowieso meist kleinen Lebensentwürfe. Der Absturz kann nur ein fürchterlicher sein, der Fall aus den Netzen der Mittelschicht. So wie es auch Darius Klopp widerfährt, dem 40 Jahre alten "dicken Reh" aus Terézías Moras Roman "Der einzige Mann auf dem Kontinent", der vor dem Hintergrund der globalen Wirtschaftskrise aller seiner Lebenssicherheiten beraubt wird. Oder wie der Held aus David Wagners Roman "Vier Äpfel". Wagners Ich-Erzähler ist eine Art Anti-Abschaffel, ein berufsloser Flaneur, der sich in einem Supermarkt, einem Museum der Dinge, wie er es nennt, den Erinnerungen an seine Kindheit und eine verflossene Liebe hingibt. Am Ende fragt er verzweifelt: "Kann es sein, dass am Ende unseres Lebens nur ein paar Einkäufe übrig bleiben?"
Der Autor ist Redakteur beim "Tagesspiegel" in Berlin.