Mittelschicht
Eine Politik für die Mitte sollte es denen leichter machen, die erst noch hinein wollen
Politik für die Mitte? Das klingt nach einer sicheren politischen Wette. In Umfragen rechnet sich die Hälfte der Bevölkerung einer ökonomischen und gesellschaftlichen "Mitte" zu, und auch andere Schichten streben dorthin. Es hat Tradition, in der Mitte zu stehen: Die Bundesrepublik der Nachkriegszeit (im Osten war es anders) sollte in den Worten des Soziologen Helmut Schelsky von Beginn an eine "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" werden - eine auf Ausgleich bedachte Gemeinschaft mit einer wachsenden Versammlung von Wohlstandsbürgern in der Mitte.
Also muss sich niemand wundern, dass im Bundestagswahlkampf 2009 quasi alle Parteien an die Mitte appellieren. Angela Merkel zieht mit der CDU als "einziger Volkspartei" in den Wahlkampf und bezeichnet diese als "Die Mitte". Die SPD ist nach einigen Ausflügen an den linken Rand wieder auf Gerhard Schröders Kurs der "Neuen Mitte" zurückgeschwenkt. Die FDP macht sich "stark für die Mittelschicht in der Gesellschaft". Die Grünen haben sich als eine Repräsentanz urbaner Mittelschichten etabliert, und sogar die Linke spricht immerhin von einer Entlastung "niedriger und mittlerer Einkommen".
Bloß: Wenn man näher hinschaut, ist dieses Buhlen um die Mitte ein gefährliches Spiel. Kurz vor der Wahl könnten sich die umworbenen Bevölkerungsschichten nämlich in eine verunsicherte, übellaunige und politikskeptische Wählerschaft verwandeln.
Zunächst einmal: Die Mitte schrumpft schon seit geraumer Zeit. Wie dauerhaft und wie stark diese Schrumpfung ist, darüber wird aber gestritten.
Unumstritten - und politisch wohl bedeutsamer - ist aber der Wandel bei den Aufstiegschancen innerhalb der Mittelschicht und in die Mittelschicht hinein. "Von einer Aufstiegsgesellschaft ist Deutschland heute weiter entfernt als jemals zuvor", schreibt Martin Werding, Sozialforscher an der Universität Bochum. 1940 geborene Männer hätten eine doppelt so große Chance gehabt, in die gehobene Mitte aufzusteigen, als Männer in der darauf folgenden Generation. Eine Schicht, in die man kaum aufsteigen kann, lässt aber im Rest der Gesellschaft eher Ressentiments entstehen als Träume und politische Leitbilder.
Und jetzt auch noch die Wirtschaftskrise! Sie hat Wertpapiervermögen dezimiert. Sie bedroht die Absicherungsinstrumente der Mittelschicht wie zum Beispiel Lebensversicherungen. Im Herbst dürfte die Krise den Jobmarkt einholen: vier bis fünf Millionen Arbeitslose lauten die Prognosen.
Nun könnte man sagen: Die Mittelschicht klagt besonders laut, aber in Wirklichkeit ist ihre Absturzgefahr gering. Auf eine Weise stimmt das auch: Die ungelernten Kräfte in prekären Arbeitsverhältnissen sind viel stärker von einer Flaute am Arbeitsmarkt bedroht, und ebenso die Zeitarbeiter und die befristet Beschäftigten.
Doch es stimmt auch, dass das Abbröckeln der Mittelschicht - das in den vergangenen Jahren bereits so viel Unsicherheit geschürt hat - vor allem an ihrem unteren Rand geschieht. Es betrifft die Facharbeiter, Techniker, niederrangige Führungskräfte im manuellen Gewerbe, also die jüngsten Zugänge zur deutschen Mittelschicht. Weil sich in ihren Kreisen zuletzt wieder prekäre Formen der Beschäftigung verbreitet haben, dürfte eine neue Welle der Arbeitslosigkeit sie stark treffen. Und selbst in den mittleren und oberen Segmenten der Mittelschicht, wo die statistische Wahrscheinlichkeit eines Jobverlusts viel geringer ist, hat man Grund zur Angst: Wenn es doch zum Ernstfall kommt, droht heute ein tieferer Sturz denn je. Dann fällt man aus ehemals gesicherten Verhältnissen irgendwann in Hartz IV, wo dann selbst die eventuell gebildeten Vermögensrücklagen aufgezehrt werden. Ein wirklich sattes Sicherheitsgefühl gibt es nur in den obersten Segmenten der Mittelschicht und bei den wirklich Reichen.
Man merkt es schon: Es erscheint fast unmöglich, für diese sozioökonomische "Mitte" eine gemeinsame Politik zu machen. "Die Mittelschicht ist schon seit einigen Jahren gespalten", sagt Stefan Hradil, Sozialforscher an der Universität Mainz. "In den vergangenen Jahren gab es eine geradezu gegensätzliche Entwicklung".
Es gibt jetzt zum Beispiel Umfragen, die zeigen, dass die Krise am unteren Rand der Mittelschicht den Ruf nach dem Staat hat lauter werden lassen. Vielleicht spricht das für einen stärkeren Zulauf zur Linken? Andererseits gibt es ein modernes, selbstbewusstes Segment der Globalisierungsgewinner. Dort ist man skeptisch ob der gewaltigen Konjunkturprogramme, fürchtet die Staatsverschuldung und wünscht sich eher einen verkleinerten Staat. Spricht das für einen stärkeren Zulauf zur FDP?
Der Heidelberger Sozialforscher Berthold Bodo Flaig macht im Milieu der "bürgerlichen Mitte" seit der Krise eine stärkere Ellbogenmentalität aus. Man entwickle stärkere Ressentiments gegenüber Migranten oder alternativen Lebensformen. Ob das einen Zulauf zu Splittergruppen am rechten Rand erwachsen lässt? Der Hamburger Soziologe Berthold Vogel sieht sogar eine Welle von "Verteilungskämpfen" auf uns zukommen. "Im Wahlkampf wird zur Zeit die Kohäsion sehr stark betont", sagt er, "aber niemand spricht offen aus, was danach kommt."
Da erscheint es schlicht aussichtslos, jemals wieder eine "Politik für die Mitte" nach alter Art zu versuchen: so wie in der Nachkriegszeit bis zum Ende der 1970er Jahre. Damals entstand die breite deutsche Mittelschicht überhaupt erst - als ein Produkt des Wohlfahrtsstaates. Sozialleistungen wie die Rente oder die Arbeitslosenversicherung wurden nach dem Prinzip der Lebensstandardsicherung gewährt: Ihre Höhe orientierte sich am Einkommen und damit an der erreichten gesellschaftlichen Position. Der Erwerb und der Ausbau privater Immobilien wurde gefördert. Bedürfnisse wie das Pendeln vom Stadtrand zum Arbeitsplatz oder das häusliche Arbeitszimmer wurden steuerbegünstigt. Der Beamtenstand wuchs, höhere Schulen und Universitäten blieben kostenlos, bildungsbürgerliche Treffpunkte wie die Oper erhielten Subventionen. All das war Stütze für die Mitte.
Interessanterweise fielen gerade in den vergangenen Jahren, während die Rhetorik der "Politik der Mitte" lauter wurde, einige letzte Bastionen dieser Politik. Der Häuslebau wird kaum noch gefördert, das heimische Arbeitszimmer ist nur noch selten absetzbar. Die Renten sind gekürzt, das standesgerechte Arbeitslosengeld der alten Art wird nur noch für kurze Zeit gewährt. Zur Verunsicherung der Mittelschichten hat das erheblich beigetragen.
Aber kann man dieser Schicht überhaupt noch helfen? Ein paar greifbare Zugeständnisse an die Mittelschichten finden sich 2009 durchaus in den Wahlprogrammen: Das bürgerliche Lager verspricht für eine unbestimmte Zukunft Steuersenkungen, die großen Volksparteien wollen die Familien stärken, fast alle Wahlbewerber möchten das anrechnungsfreie Schonvermögen bei Hartz IV erhöhen.
Es gibt aber auch Experten, die glauben, dass die einzig machbare Politik eine andere wäre: benachteiligten Gruppen einen Zutritt zur Mittelschicht erlauben. Frauen und Migranten spielen eine wachsende Rolle am Arbeitsmarkt, aber in der Mittelschicht sind sie deutlich unterrepräsentiert. Manche halten das für ein Problem eines überregulierten und verschlossenen Arbeitsmarktes. Andere kritisieren ein undurchlässiges Bildungssystem. So fordert der Münchener Ökonom Ludger Wößmann, Kinder im Vorschulalter besser zu fördern, mehr Wettbewerb zwischen staatlichen und privaten Schulkonzepten zuzulassen und mehr Möglichkeiten zur Berufsbildung eröffnen.
Politik für die "Mitte" muss man nicht unbedingt als eine kostspielige Standessicherung für Etablierte verstehen. Sie könnte es auch denen leichter machen, die erst noch hinein wollen.
Der Autor ist stellvertretender Ressortleiter der Wirtschaftsredaktion der "Zeit".