Herr Ministerpräsident,
meine Damen und Herren Oberbürgermeister, Bürgermeister
und Landräte,
lieber Herr Schulte-Kemper,
Monsieur Tropéano,
liebe Kollegin Griefahn,
verehrte Gäste, meine Damen und Herren,
die Aufforderung, über Urbanität, Identität und
Integration zu reden, ist für einen gelernten
Sozialwissenschaftler eine geradezu unwiderstehliche Versuchung. In
einem älteren Staatslexikon aus dem 19. Jahrhundert, der Zeit
der Industrialisierung also und damit der Gründungszeit des
Ruhrgebiets, habe ich zu keinem dieser drei Begriffe Eintragungen
gefunden. In jedem modernen Handbuch der Soziologie dagegen
seitenlange Erläuterungen, hochgescheit und eher
unverständlich. Nun bin ich leider und glücklicherweise
zugleich nicht als Sozialwissenschaftler eingeladen, sondern als
politisch engagierter Bürger des Ruhrgebiets, von dem die
Veranstalter mit einem gewissen Recht erwarten, dass ich mit Blick
auf das Finale der Bewerbung des Ruhrgebiets als Kulturhauptstadt
Europa eine klare Position vertrete, obwohl ich als
Bundestagspräsident zu strenger Überparteilichkeit
verpflichtet bin. Ich will versuchen, mich als Kulturpolitiker aus
der Affäre zu ziehen; in dieser Eigenschaft fühle ich
mich hinreichend unbefangen und zugleich genügend
aufgeklärt, um drei Aspekte zu behandeln und eine damit im
Rahmen dieser Konferenz ganz unvermeidliche Frage vielleicht
beantworten zu helfen.
Die drei Aspekte sind: Erstens, was haben eigentlich
Urbanität, Identität und Integration mit Kultur zu tun?
Zweitens, was hat Kultur mit Europa und drittens, was hat Europa
mit dem Ruhrgebiet zu tun? Und vielleicht wissen wir dann am Ende
etwas besser, ob das Ruhrgebiet Europa oder vielleicht auch Europa
das Ruhrgebiet braucht.
Meine Damen und Herren, weder Urbanität noch Identität
sind ohne kulturelle Kontexte denkbar. Und deshalb hat auch und
gerade Integration, schon gar soziale Integration ganz gewiss
kulturelle Voraussetzungen. Es ist natürlich kein Zufall, dass
die Geburt Europas im Mittelalter mit der Entstehung und
Entwicklung der Stadt nicht nur zeitlich ganz unmittelbar verbunden
gewesen ist. Die europäische Stadtgeschichte ist die
Geschichte der vielfachen Anläufe, gelegentlichen
Rückschläge und wachsenden Erfolge bei der Emanzipation
von sozialer Unterdrückung und politischer Ungleichheit, der
allmählichen Herausbildung einer gesellschaftlichen,
politischen und kulturellen Öffentlichkeit, der wachsenden
Teilhabe von immer mehr Menschen an Entscheidungsprozessen der
eigenen Stadt, der eigenen Umgebung und des natürlich nicht
immer ungestörten, aber ganz offensichtlich unvermeidlichen
Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher sozialer und
ethnischer Herkunft mit vielfältigen religiösen und
kulturellen Orientierungen. In der europäischen Geschichte der
letzten Jahrhunderte sind es selbstverständlich die
Städte gewesen, die die zentralen Orte des wirtschaftlichen
Fortschritts waren, der gesellschaftlichen Integration, der
kulturellen Innovation - also Orte der Modernisierung und der
Entwicklung. Und wenn wir von den Anfängen in die Gegenwart
den großen Bogen schlagen, dann ergibt sich jedenfalls
insoweit kein anderer Befund, sie sind heute wie damals die
Plätze, an denen sich die Herausforderungen moderner
Gesellschaft nicht nur beobachten lassen, sondern an denen sie
bewältigt werden müssen.
Die moderne Stadtentwicklung ist gleichzeitig gekennzeichnet
durch Wachstum und Schrumpfungsprozesse, durch Integration und
Ausgrenzung, durch Kooperation und Konflikte. Und das eine mit dem
anderen zusammenzubinden, ist die unausweichliche Herausforderung,
vor der jede Stadt steht, natürlich nicht nur hier im
Ruhrgebiet. Auch insoweit stehen die Städte prototypisch
für Europa, ein Kontinent, der diesen Prozess im Ganzen
bewältigen will und bewältigen muss. Insofern steht
tatsächlich die europäische Stadt für die
Entwicklung der freien Bürgergesellschaft im Europa der
letzten Jahrhunderte. Das Ruhrgebiet ist eine europäische
Stadt, die größte in Deutschland und eine der
größten in Europa. Und wenn es richtig ist, dass die
Strukturprobleme und Entwicklungschancen moderner Gesellschaften
insbesondere in den Städten zu beobachten und zu
bewältigen sind, dann gilt das für das Ruhrgebiet in
einer ganz besonderen Weise.
Diese Region ist in maßvoll übertriebener
Formulierung erst durch Zuwanderung entstanden. Das Ruhrgebiet
wäre nie zu dem geworden, was es heute ist, wenn es nicht eine
massive, jahrzehntelange kontinuierliche Zuwanderung gegeben
hätte. In einem Zeitraum von weniger als 100 Jahren, zwischen
1870 und 1950, sind vier Millionen Menschen in diese Region
eingewandert, weil sie hier ihre Zukunftschancen vermutet haben.
Die ersten, die mit der Industrialisierungsphase dieser Region mit
der Entdeckung und Förderung der Kohle ins Ruhrgebiet kamen,
waren übrigens entgegen einer langläufigen weit
verbreiteten Vermutung Franzosen, Belgier und Schotten, bevor dann
die erste große massive Zuwanderung aus ostdeutschen
Provinzen mit Menschen polnischer Sprache und zunehmend auch
polnischer Staatsangehörigkeit in diese Region gekommen sind.
Und am Beginn des letzten Jahrhunderts, etwa um das Jahr 1910,
haben im Ruhrgebiet bereits 300.000 Menschen mit polnischer
Herkunft gelebt. Das ist, um Relationen darzustellen, mehr als die
meisten der letzten Kulturhauptstädte Europas an Einwohnern
haben. Heute leben im Ruhgebiet mehr als 600.000 ausländische
Mitbürgerinnen und Mitbürger mit rund 140 verschiedenen
Staatsangehörigkeiten. Rund die Hälfte davon stammen aus
Ländern und Regionen, die über den europäischen
Kulturkreis deutlich hinausreichen. Wenn es eine Region in Europa
gibt, in der sich die Chancen, aber auch die Herausforderungen in
einer schwer noch überbietbaren Weise konzentrieren und
bündeln, über die wir im Zusammenhang mit den Stichworten
Urbanität, Identität und Integration reden, dann ist dies
ganz gewiss das Ruhrgebiet.
Das Verhältnis von Politik und Kultur und ihr jeweiliger
Beitrag zur Bewältigung dieser Herausforderungen ist - im
Unterschied zum Tagungsthema – keineswegs ein völlig
ungestörtes, harmonisches Zwillingsverhältnis. Was unter
kultureller Perspektive mit erheblicher Plausibilität als
nicht nur unverzichtbar, sondern als grandiose Bereicherung
erscheint, nämlich die Vielfalt von Sprachen, die Vielzahl von
Traditionen, von kulturellen und religiösen Orientierungen,
ist für die Politik, vorsichtig formuliert, mindestens auch
ein Problem, jedenfalls eine große Herausforderung.
Das eigentliche Paradoxon europäischer Politik besteht ja
geradezu darin, dass sie Pluralität vorfindet, Vielfalt
schützen will und Einheit herstellen muss. Wie das
gleichzeitig gehen soll, aber eben gehen muss, ist eine gigantische
und zugleich grandiose Herausforderung nicht nur, aber auch und
gerade für die politisch Verantwortlichen, die allerdings die
in Ämter und Mandate gewählten Politiker alleine ganz
gewiss nicht bewältigen können. Und nach meinem
Verständnis ist schon der Gedanke der Kulturhauptstadt Europas
die Frucht dieser Einsicht, dass die Integrationsaufgaben Europas
wenn überhaupt dann sicher nur mit Hilfe kultureller
Zusammenhänge, kultureller Kontexte und durch
Wiederentdeckung, Freilegung oder Begründung von kultureller
Identität gelöst werden können.
Das viel zitierte Leitmotiv der europäischen Union
„in Vielfalt vereint“, ist ja ebenso leicht formuliert
wie es schwer zu realisieren ist. Und wenn wir ehrlich miteinander
umgehen, werden wir auch alle miteinander einräumen
müssen, dass es da nicht nur beachtliche Fortschritte zu
besichtigen gibt, sondern ebenso beachtliche Defizite. Wer sich,
was nur eine begrenzt vergnügliche Beschäftigung ist,
gelegentlich mit europäischen Verträgen beschäftigt,
der wird nicht überlesen können, dass die Entstehung
einer Unionsbürgerschaft als zentrale Aufgabe der
europäischen Gemeinschaft markiert wird. Übrigens wird
mit zunehmender Erweiterung die Notwendigkeit, diese Aufgabe zu
leisten, immer deutlicher, ebenso wie die Schwierigkeit, dies
überzeugend zu leisten.
Ich finde in diesem Zusammenhang wird eher zu wenig darüber
nachgedacht, wie es sich mit der gerne beschworenen
europäischen Identität denn tatsächlich verhält
und in welchem Verhältnis sie zu anderen, zu regionalen, zu
nationalen Identitäten steht. Unser damaliger Bundeskanzler
Gerhard Schröder hat bei der großen Berliner Konferenz
über europäische Kulturpolitik vor zwei Jahren von der
allmählichen Entwicklung einer doppelten Identität der
Unionsbürger gesprochen. Und er hat damit gemeint, dass sich
neben die nationale Identität zunehmend „ganz
selbstverständlich und unspektakulär im Alltag der
Menschen eine europäische Identität entwickelt, beim
Reisen, beim Gebrauch der einheitlichen Währung, beim Einkauf,
beim Essen“. Das ist gewiss richtig. Dennoch vermute ich, die
nationale Identität ist den meisten Menschen im Unterschied
zur europäische sehr bewusst, die regionale bzw. lokale
übrigens auch. Die kulturelle Identität ist aber bei
genauem Hinsehen weder regional noch national bestimmt, sondern
europäisch. Insoweit ist die europäische Identität
real, aber in der Regel nicht bewusst, die lokale, regionale und
nationale Identität ist dagegen bewusst, aber immer weniger
real. Das müsste die Kulturpolitiker und die Kulturschaffenden
mindestens so aufregen wie die Oberbürgermeister,
Landräte, Ministerpräsidenten, Kanzler und Staatschefs:
die paradoxe Lage zwischen dem, was tatsächlich
Identitäten prägt und dem, was im Bewusstsein der
Menschen wirklich verfügbar ist.
Hier liegt eine der wesentlichen Aufgaben der europäischen
Gemeinschaft im Ganzen, ihrer Mitgliedstaaten im Besonderen, und
hier liegt eine der – wie ich glaube – vornehmsten
Zwecke der Regelmäßigkeit, eine europäische
Kulturhauptstadt zu identifizieren und damit gleichzeitig in
besonderer Weise auch zu fordern, sich der Verbindung des einen mit
dem anderen zu widmen.
Ich teile völlig, meine Damen und Herren, die
Einschätzung des Ministerpräsidenten, dass unter der
Fülle der guten Einfälle, Ideen und vorgeschlagenen
Projekte bei der Bewerbung Essens und des Ruhrgebiets als
Kulturhauptstadt Europas, diesem Twins-Projekt eine herausragende
Bedeutung zukommt. Weil dieses Projekt mehr als alles andere genau
diesen Zusammenhang – salopp formuliert – „auf
die Hörner nimmt“. (ein im Kontext der antiken
europäischen Geschichte ja nicht einmal völlig
unangemessener Vergleich) Und weil wir das, was Identitäten
vor Ort bildet und gleichzeitig in einem großen gemeinsamen
europäischen Zusammenhang längst verortet ist, in einer
Fülle von Begegnungen und von Aktionen und wie das ja
ausdrücklich gedacht ist, in Zukunft auch in gemeinsamen
Projekten miteinander weiter entwickeln wollen.
Meine Damen und Herren, der moderne europäische
Integrationsprozess hat Mitte des vergangenen Jahrhunderts als
ökonomische Integration begonnen, zunächst mit der
Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und
dann mit der Europäischen Wirtschaftsunion (EWG). Dieser
damals begonnene ökonomische Integrationsprozess hätte
ohne das Ruhrgebiet gar nicht stattfinden müssen. Denn das
hier im Ruhrgebiet damals noch überragend geballte
wirtschaftliche Potential und seine nicht nur theoretischen,
sondern höchst handfesten politischen Implikationen waren der
Anlass für die Herstellung einer gemeinsamen europäischen
Verfügungsmöglichkeit über dieses scheinbar
regionale, tatsächlich aber europäische Potential. Heute
denke ich, wissen wir – jedenfalls sollten wir wissen –
dass dieser europäische Integrationsprozess mit dem
erklärten Ziel einer politischen Integration nur gelingen
kann, wenn er auch und gerade als kultureller Prozess begriffen
wird und wahrgenommen wird. Adolf Muschg, der Schweizer
Präsident der Berliner Akademie der Künste, einer der
herausragenden deutschsprachigen zeitgenössischen
Schriftsteller, hat in einer kürzlich erschienen Publikation
zu dem Thema: „Was ist Europa?“ dazu zwei – wie
ich finde – unwiderlegbar richtige Bemerkungen gemacht.
„Europa“, schreibt Adolf Muschg, „lässt sich
ohne ein anspruchsvolles kulturelles Repertoire nicht einmal
denken, geschweige denn schaffen. Europa wird ein kulturelles
Projekt oder es wird sich auch politisch nicht halten.“
Ich bin persönlich von dieser Einsicht fest überzeugt.
Und wenn – wozu wir jetzt weder die Notwendigkeit noch die
Zeit haben – wir gelegentlich auch noch über Europa
hinaus dächten und an die Entwicklung und mögliche
künftige Verfassung der Welt, dann würde ganz gewiss die
überragende Bedeutung von Kultur für diese künftige
Ordnung der Welt noch offenkundiger. Was hält eine
Gesellschaft zusammen und was wird Europa zusammenhalten?
Ökonomisch treibt Europa in Zeiten der Globalisierung
längst über sich selbst hinaus. Der Binnenmarkt definiert
längst nicht mehr die Grenzen der Aktionsspielräume
europäischer Unternehmen. Politisch wird die Orientierung
notwendigerweise immer wieder hinter gesamteuropäischen
Perspektiven zurückbleiben müssen, weil es
Verantwortlichkeiten vor Ort gibt, denen Politik nicht ausweichen
darf. Das, was diesen Kontinent zusammenhalten kann ist –
wenn überhaupt – Kultur. Das Wiederentdecken, das
Freilegen von Gemeinsamkeiten jenseits politischer und
ökonomischer Interessen. Und deswegen ist diese noch
vergleichsweise junge, aber inzwischen stolze Tradition der
jährlichen Auslobung einer Kulturhauptstadt Europas keine
Marginalie im Selbstverständnis dieser Gemeinschaft, sondern
sie ist in diesem Kontext eine Hauptsache, die wir aus guten
Gründen hier im Ruhrgebiet auch ganz besonders ernst genommen
haben.
Die letzte deutsche Kulturhauptstadt, meine Damen und Herren,
war Weimar. Eine der vielen Kulturstädte in Europa, deren
Einwohnerzahlen um vieles kleiner sind als die Anzahl der Menschen
mit unterschiedlichen nationalen und kulturellen Herkünften,
die hier alleine in dieser Region leben. Bei der
Eröffnungsveranstaltung zum Jahr der Kulturhauptstadt Europas
in Weimar hat am 19. Februar 1999 der damalige Bundespräsident
Roman Herzog in seiner Rede gesagt. „Eigentlich kann man ja
nicht zu einer Kulturstadt gewählt werden. Entweder man ist es
oder man ist es nicht.“
Meine Damen und Herren, das Ruhrgebiet ist eine Kulturstadt und
will es werden. Das Sein und das Werden, der Zustand und der
Prozess: genau das kennzeichnet die Lage des Ruhrgebiets. Das
Ruhrgebiet ist eine europäische Metropole, eine
Städteregion auf dem Wege, sich selbst neu zu erfinden und auf
diesem Wege dazu beizutragen, Europa eine Seele zu geben. Deshalb
braucht das Ruhrgebiet Europa und Europa das Ruhrgebiet. Als
größtes, ehrgeizigstes, spannendstes und
erfolgversprechendstes Projekt, in Europa Urbanität,
Identität und Integration durch Kultur zu verbinden.