Für das, was wir gerne etwas pauschal Lebensqualität
nennen, spielen die Städte und Gemeinden eine überragende
Rolle. Sie tragen ganz maßgeblich dazu bei, jenes
Lebensgefühl in den Menschen zu wecken, das wir Heimat nennen.
Im Übrigen spricht manches dafür, dass in Zeiten der
Globalisierung - die heute nicht mein Thema ist - das
Orientierungsbedürfnis im Allgemeinen und das
Identifikationsbedürfnis im Besonderen wachsen wird. Das
Bedürfnis, irgendwo zu Hause zu sein, nicht als nostalgischer
Blick zurück - der im Übrigen auch nicht zu beanstanden
ist -, sondern als vitales Bedürfnis, irgendwo einen festen
Punkt zu haben, von dem aus man das immer rasantere Geschehen um
einen herum wenigstens halbwegs gesichert beobachten, wenn auch
nicht mit Aussicht auf Erfolg im Einzelnen beeinflussen kann,
dieses Bedürfnis ist ganz sicher gewachsen und manches spricht
dafür, dass es weiter zunehmen wird.
Wir halten heute, nach manchen Irrungen und Wirrungen der
deutschen Geschichte, die politische Verfassung unseres Landes in
Gestalt einer parlamentarischen Demokratie beinahe für
selbstverständlich. Damit geben wir unserer Überzeugung
Ausdruck, dass wir es für einen nicht mehr
dispositionsfähigen Fortschritt unserer Geschichte halten,
dass im Mittelpunkt unserer politischen Ordnung der Souverän
steht und dass dieser Souverän der Bürger ist - der
Bürger als Wähler, der Wähler als Bürger. Und
dies gilt dann selbstverständlich für alle politischen
Entscheidungsebenen, für die der Kommunen in genau der
gleichen, und wie sich bei genauem Hinsehen zeigen wird, eben dann
doch wieder etwas anderen Weise als für die Entscheidungsebene
der Länder und des Bundes.
Ich möchte, wenn Sie mir das gestatten, ein paar eher
prinzipielle Bemerkungen zu diesem Verhältnis der
verschiedenen politischen Ebenen zueinander in historischen
Kontexten und vielleicht auch zu den politischen Perspektiven
machen, die sich daraus für die überschaubare Zukunft
ergeben.
Ich will anfangen mit dem historischen Kontext, also dem
Verhältnis der Entwicklung kommunaler Selbstverwaltung zu
derjenigen der parlamentarischen Demokratie, von der ich vorhin
gesagt habe, dass alle Welt sie inzwischen für eine schiere
Selbstverständlichkeit hält, als sei es in Deutschland
nie anders gewesen.
Wenn es so etwas wie eine Geburtsstunde der modernen politischen
Gemeinde in Deutschland gibt und damit auch so etwas wie einen
Startpunkt für politische Partizipation von Bürgern, dann
war es das Jahr 1808 mit der von Freiherr vom Stein initiierten
preußischen Städteordnung. Es ist im Übrigen nicht
völlig banal, sich ins Bewusstsein zu heben, dass diese
Initiative zu einem Zeitpunkt stattfand, als das Heilige
Römische Reich Deutscher Nation nach einer wiederum
jahrhundertelangen komplizierten Geschichte mit manchem Glanz und
manchem Elend beinahe unauffällig an sein Ende gekommen war
und als sich an Stelle dieser aufgelösten, zunehmend
erodierten Ordnung längst neue politische Größen
etabliert hatten, mit wachsendem Gewicht darunter besonders
auffällig Preußen. Man tritt dem Freiherrn vom Stein
ganz sicher nicht zu nahe, wenn man darauf hinweist, dass seine
Initiativen mit Blick auf kommunale bürgerschaftliche
Partizipation auch die Stärkung des Staates Preußen
durch Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern in dieses
Gemeinwesen zum ausdrücklichen Ziel hatten. Ich habe im
Übrigen aus der damaligen Zeit ein ganz aufschlussreiches
Zitat gefunden, das die Motivationslage des Initiators
verdeutlicht. "Man erwartet", sagte Freiherr vom Stein damals in
der Begründung seiner Initiative, "man erwartet alles vom
Staate, ohne Vertrauen zu seinen Maßregeln und ohne wahren
Enthusiasmus für die Verfassung. Alle diese Wahrnehmungen
haben die Gesichtspunkte zu der Bearbeitung der neuen
Städteordnung gegeben... Die Bürgerschaft bekommt die
ungeteilte Verwaltung des Gemeinwesens. Die ganze Entwicklung des
Staates beschränkt sich auf die bloße Aufsicht." Aus
dieser nun wahrlich historischen Initiative ist nicht nur genau das
geworden, was beabsichtigt war: kommunale Selbstverwaltung und
bürgerschaftliche Partizipation, sondern ein kunstvoll
kompliziertes, im Laufe der Jahrzehnte mehrfach verändertes
Beziehungsgeflecht zwischen den verschiedenen politischen
Entscheidungsebenen, deren Relevanz sich in den fast 200 Jahren,
die wir seitdem hinter uns gebracht haben, mehrfach beachtlich
verändert hat.
Der für unser Thema in jedem Fall beachtliche Befund ist,
dass die kommunale Selbstverwaltung verfassungshistorisch die
Vorstufe zur parlamentarischen Demokratie in Deutschland war. Denn
die gab es damals ganz gewiss nicht. Und es gab sie im Übrigen
für eine beachtlich lange weitere Strecke nicht. Der Weg zum
frühkonstitutionellen Territorialstaat, zur
Märzrevolution 1848, schließlich zur deutschen
Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche ist ganz
wesentlich mit diesen Steinschen Reformen eingeschlagen worden. Und
es ist im Übrigen mehr als ein schöner Zufall, dass heute
auf den Tag vor 158 Jahren am 18. Mai 1848 die Frankfurter
Nationalversammlung in der Paulskirche zum ersten Mal
zusammengetreten ist. Aber wichtiger als diese zufällige
Koinzidenz der Daten ist die Erinnerung daran, dass sie gescheitert
ist, dass sie nicht den Weg freigemacht hat für eine
parlamentarische Demokratie in Deutschland und dass es nach
manchen, wiederum komplizierten Anläufen über den
Norddeutschen Bund und das Deutsche Reich und eine konstitutionell
orientierte Verfassung bis zum Jahr 1919 gebraucht hat, bis der
inzwischen zustande gekommene deutsche Nationalstaat seine erste
parlamentarische Verfassung erhielt. Ich vermute, dass niemand von
Ihnen das zur Stabilisierung des eigenen Selbstbewusstseins
braucht, aber es schadet ja nicht darauf hinzuweisen, dass die
kommunale Selbstverwaltung gute 100 Jahre älter ist als die
parlamentarische Demokratie in Deutschland. Und dass ohne diese,
gleichwohl bedauerlich lange Vorgeschichte, die Etablierung
parlamentarischer Strukturen in ganz Deutschland auf allen Ebenen
politischer Entscheidungen nur schwer vorstellbar erscheint.
Ich habe vorhin bereits einen knappen Hinweis darauf gegeben,
dass uns heute parlamentarische Entscheidungsprozesse, die
Legitimation der Ausübung politischer Macht durch Wahlen und
die Wahrnehmung der Rolle des Souveräns durch die
Bürgerinnen und Bürger und damit durch die
Wählerinnen und Wähler ganz selbstverständlich
erscheinen und dass wir dem Grunde nach auf allen
Entscheidungsebenen gleiche Legitimationsverfahren haben.
Tatsächlich gibt es aber nicht nur diese große
prinzipielle Gemeinsamkeit, es gibt auch mindestens einen
beachtlichen Unterschied. Dieser Unterschied besteht nach meinem
eigenen Eindruck darin, dass wir auf der kommunalen Ebene
wesentlich intensivere, tiefer gestaffelte
Partizipationsmöglichkeiten des Souveräns, des
Bürgers, haben als wir uns das auf der Landes- und Bundesebene
gestatten wollen. Das beginnt mit der Direktwahl von
Bürgermeistern, Oberbürgermeistern und Landräten,
setzt sich über plebiszitäre Entscheidungsverfahren in
Gestalt von Bürgerentscheiden und Bürgerbegehren fort,
kommt in dem Nichtvorhandensein oder sehr viel bescheidenerem
Umfang von Mindestklauseln zum Ausdruck, von denen die
Repräsentanz von Wählergruppen in Gemeinde- oder
Stadträten abhängt, und geht weiter bis zum kommunalen
Wahlrecht für EU-Bürger, die nicht deutsche
Staatsangehörige sein müssen, sowie
semi-parlamentarischen Strukturen in Form von
Ausländerbeiräten, an deren Besetzung auch
Bürgerinnen und Bürger mitwirken können, die nicht
der Europäischen Gemeinschaft angehören und damit auch
keine EU-Staatsbürgerschaft besitzen. Wir haben mit anderen
Worten auf kommunaler Ebene ein im Vergleich zu Ländern und
Bund beachtliches Maß an Ergänzung der
repräsentativen Entscheidungsstrukturen durch
plebiszitäre Verfahren. Und es lohnt schon, von Zeit zu Zeit
darüber nachzudenken, ob die damit gemachten Erfahrungen, die
übrigens in verschiedenen Ländern unterschiedlich lang
sind, eigentlich einen hinreichenden Schluss erlauben, was ihre
Übertragbarkeit auch auf Landes- bzw. Bundesebene angeht. Ich
will Ihnen meine persönliche Einschätzung nicht
unterschlagen: Ich glaube persönlich nicht, dass wir auch
unter Berücksichtigung der kommunalen Erfahrungen eine
ähnliche Kombination von repräsentativen und
plebiszitären Entscheidungsverfahren auf Landes- und
Bundesebene etablieren sollten, wie das auf kommunaler Ebene
jedenfalls möglich und vielleicht auch nötig ist. Ich
habe vielmehr den Eindruck, dass die Erfahrungen, die mit diesem
plebiszitären Entscheidungsverfahren, mit der stärkeren
unmittelbaren Bürgerpartizipation, gemacht werden, durchaus
ambivalent sind, d. h., es gibt ermutigende, gelegentlich aber auch
ernüchternde Erfahrungen. Zu letzterem gehört etwa die
Entwicklung der Wahlbeteiligung zuletzt in Thüringen bei der
Kommunalwahl am 7. Mai 2006, die bei gerade mal 42 Prozent lag,
auch wenn ich selber nicht zu denen gehöre, die darin ein
Signal dramatischer Entfernung der Wähler von ihren
Parlamenten oder Vertretungskörperschaften erblicken. Derweil
man solche Entwicklungen sowohl verharmlosen als auch dramatisieren
kann, bin ich schon der Meinung, dass wir sie nicht auf sich
beruhen lassen dürfen. Dass sich in Deutschland, einem Land,
das es viel schwieriger hatte, Demokratie zu erlangen und zu
erlernen, nach einer Phase organisierter Begeisterung über
diese Errungenschaft nun auch im Wahlverhalten eine Normalisierung
gibt, die den Verhältnissen in anderen gefestigten Demokratien
ähnelt, in denen es keine Wahlverpflichtung gibt - nur die
sind miteinander vergleichbar - das finde ich nicht Besorgnis
erregend, die zunehmende Gleichgültigkeit im Umgang mit dem
Wahlrecht als dem Königsrecht des Souveräns zur
Bestellung und Abberufung seiner Repräsentanten allerdings
schon. Zur Normalität gehört auch die Frage nach der
Kultur des Mandats, etwa im Bundestag.
Wenn es zu einer erfolgreichen Bewerbung für ein
politisches Mandat kommt, beträgt die durchschnittliche
Mandatszeit im Bundestag zwei Legislaturperioden. Die
öffentliche Wahrnehmung orientiert sich an den Elefanten, die
man immer im Fernsehen sieht und die vielleicht auch deswegen
Elefanten geworden sind, weil sie solange dabei sind und sich
über viele Legislaturperioden hinweg, zu Recht oder zu
Unrecht, da irgendwo als Häuptlinge ihrer jeweiligen
Indianerstämme haben etablieren können. Daraus
schließt der Fernsehzuschauer messerscharf: Die sind doch
alle seit Jahrzehnten da. Nein, es ist eben nur eine kleine
Minderheit lange da. Oder anders formuliert: Es sind nur wenige,
die sich in diesen Funktionen über einen wirklich langen,
über einen mit einer beruflichen Laufbahn vergleichbaren
Zeitraum halten können, während die Allermeisten ein
berufliches Engagement als Abgeordneter nur zwei Legislaturperioden
wahrnehmen. Das heißt, die durchschnittliche Mandatszeit
eines Abgeordneten in Landtagen oder gar im Deutschen Bundestag ist
deutlich niedriger als die durchschnittliche Wahrnehmung
beispielsweise kommunalpolitischer Mandate - mit all den
Vorzügen und Problemen, die sich daraus auf der einen wie auf
der anderen Seite ergeben. Dass im Übrigen auch für
"große politische Karrieren" kommunalpolitische Erfahrungen,
wenn schon nicht unabdingbare Voraussetzung, so doch ganz
offenkundig jedenfalls auch kein unüberwindlicher
Wettbewerbsnachteil sind, das macht die Reihe der deutschen
Bundeskanzler von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl deutlich. Auch
Willy Brandt und Helmut Schmidt haben in Stadtstaaten
kommunalpolitische Erfahrungen gesammelt, bevor sie zu ihren
bundespolitischen Karrieren durchgestartet sind. Und von, um nur
zwei Namen zu nennen, die mir spontan einfallen, von Walter
Wallmann aus Frankfurt bis Wolfgang Tiefensee aus Leipzig, hat es
immer wieder Rekrutierungen aus Kommunen, aus Städten für
nationale politische Spitzenämter gegeben.
Ich möchte ein bisschen dafür werben, dass wir das
Verhältnis von Kommunalpolitik zu Bundespolitik, - und ich
schließe jetzt mal ohne förmlichen Auftrag die
Landesebene in diese Betrachtung mit ein - dass wir dieses
Verhältnis nicht als eine organisierte Rivalität, sondern
als eine Kooperation mit unterschiedlichen Rollen verstehen. Dabei
ist ja wahr, dass sich aus dem jeweiligen Mandat heraus die
Aufgabenstellung definiert und auch die Loyalitäten. Um mit
der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der jeder von ihnen
seine primäre Aufgabe und seine primäre Loyalität
gegenüber der eigenen Gemeinde, der eigenen Stadt und den
dortigen Wählerinnen und Wählern sieht, sieht
selbstverständlich jeder Abgeordnete auf Landes- oder
Bundesebene seine Loyalitäten in dem größeren
Kontext. Und natürlich ist richtig, dass auch und gerade bei
den so genannten Gemeinschaftsaufgaben sich daraus gelegentlich
komplizierte Gefechtslagen ergeben. Ich verstehe schon gut, dass
die Kommunen sich dabei nicht selten an einem ziemlich schwachen
Hebel befinden, was die Möglichkeit des Ausgleichs von
politischen Einflüssen der anderen Ebene betrifft. Das ist
sicher wahr. Und darüber gemeinsam nachzudenken, ist nach
meiner Überzeugung mindestens so wichtig wie die ungleich
populärere Frage, ob wir nicht auch auf Landes- und
Bundesebene stärker plebiszitäre Elemente brauchen. Ich
persönlich glaube, dass eine intelligente Neuregelung der
Aufgabenverteilung zwischen den drei repräsentativ verfassten
Ebenen, Kommunen, Land und Bund, mit Abstand wichtiger ist als die
Neujustierung des Verhältnisses zwischen repräsentativen
und plebiszitären Entscheidungsstrukturen. Hier ist nach
meiner persönlichen Einschätzung das öffentliche
Interesse umgekehrt proportional zu den Dringlichkeiten.
Und das ist - und damit bin ich auch bei meinem letzten Punkt -
auch der eigentlich harte Kern, um den es jetzt bei der
Förderalismusreform geht. Ein Megathema, das wie alle Themen
mit diesem Anspruch zu dem von jedermann bejubelten unstreitigen
Erfolg gar nicht kommen kann, weil es in der Natur der Sache liegt,
dass hier viele Erwartungen gleichzeitig verfolgt werden, von denen
sich nicht wenige wechselseitig ausschließen. Ich sage das
auch mit Blick auf einen sehr ehrgeizigen Beratungsplan, auf den
sich Bund und Länder jetzt verständigt haben. Wir haben
ja gerade in dieser Woche die größte Anhörung in
der deutschen Parlamentsgeschichte und das ganze soll dann in einem
sehr intensiven Beratungsverfahren möglichst noch bis zur
Sommerpause entscheidungsreif gemacht werden. Natürlich gibt
es da auf der einen Seite die Durchhalteappelle, dass alles nun
genauso beschlossen werden müsse, wie es als Entwurf in diese
Beratung eingebracht worden ist. Und auf der anderen Seite gibt es
serienweise Empfehlungen, was unter Wahrung des Gesamtanliegens
aber auf jeden Fall verändert werden muss. Meine Prognose ist:
Auch hier werden sich die beiden extremen Positionen nicht halten.
Weder wird es bei realistischer Betrachtung serienweise
Veränderungen des gefundenen kunstvollen Kompromisses zwischen
Bund und Ländern geben können, wenn am Ende
tatsächlich eine Reform der förderalistischen Ordnung in
Deutschland zustande kommen soll, die - ich will das nur noch mal
nachrichtlich sagen - Zweidrittelmehrheiten sowohl im Deutschen
Bundestag wie im Bundesrat brauchen. Aber genauso weltfremd scheint
mir die Vorstellung, dass ausgerechnet das anspruchsvollste
Reformpaket, dass es zur Struktur der deutschen Verfassungsordnung
vielleicht in der Parlamentsgeschichte, ganz sicher in den letzten
Jahren oder Jahrzehnten gegeben hat, am Ende genau so beschlossen
werden könnte, wie es als Vorlage eingebracht worden ist. Zu
den strammen Faustregeln des deutschen Parlamentarismus
gehört, dass ein Gesetz nicht so aus dem Deutschen Bundestag,
und in der Regel auch nicht aus den Landtagen herauskommt, wie es
hereingebracht worden ist. Und man kann als eine noch so
gesichertere Faustregel davon ausgehen: Je anspruchsvoller das
jeweilige Gesetzgebungsverfahren ist, desto unvermeidlicher sind
die Änderungen durchs Beratungs- und Entscheidungsverfahren.
Warum das ausgerechnet für dieses Thema prinzipiell nicht
gelten soll, erschließt sich mir nicht. Es läuft ja
geradezu auf die Empfehlung hinaus, dass alle Beteiligten ihr
Urteilsvermögen schon vor Beginn der Veranstaltung abtreten
sollten, um nach Vortäuschen eines Beratungsprozesses am Ende
das zu beschließen, was vorher eh fest vereinbart ist. Das
ist mein Verständnis von Parlamentarismus nicht und meine
Vorstellung einer überzeugenden Modernisierung unserer
Verfassungsordnung schon gar nicht. Aber ich sage auch dazu, es
werden nicht alle Blütenträume wachsen und gedeihen
können, auch meine nicht. Ich habe gewissermaßen mit mir
selbst meinen inneren Frieden mit der Einschätzung gemacht,
dass wir, um die dringend notwendige Neuverteilung von klaren
Zuständigkeiten von Bund und Ländern überhaupt
hinzubekommen, eine Reihe von nicht gänzlich
überzeugenden Einzelregelungen im ersten Durchgang werden
hinnehmen müssen, um die große Bereinigung in der
Zuständigkeitsverteilung überhaupt hinzubekommen.
Wenn mich jetzt jemand fragen würde, ob ich vor 10, 20 oder
30 Jahren genauso an das Thema herangegangen wäre, würde
ich, wenn ich meine eigene politische Biografie zutreffend
einschätze, ehrlicherweise sagen müssen: sicher nein. Ich
wäre in jüngeren Jahren vermutlich mit
größerem fundamentalistischem Eifer an dieses Thema
herangegangen und hätte fröhlich untergehakt mit vielen
Kombattanten am Ende dafür gesorgt, dass die Reform nicht
zustande kommt. Im Laufe der Zeit habe ich begriffen, dass man
sortieren muss, ob es außer dem, was einem im Einzelnen
wichtig ist, Dinge gibt, die im Ganzen noch wichtiger sind. Und mit
Blick beispielsweise auf die kunstvolle Neuordnung von
Zuständigkeiten im Bildungsbereich, wie sie jetzt vorgesehen
ist, bin ich persönlich ziemlich sicher, dass nicht alles, was
da jetzt beschlossen werden soll, das Ende des 21. Jahrhunderts
erreichen wird. Bei manchem wird sich kurz nach der
Beschlussfassung schon eine heftige Debatte darüber ergeben,
ob das wirklich durchdacht war. Und dann werden wir das tun, was
wir alle so gut beherrschen, nämlich die Novellierung gerade
beschlossener Gesetze. Und da wir das doch so gut beherrschen,
besteht auch gar kein Grund zu einer organisierten
Ängstlichkeit, dass deutsche Parlamente, wenn denn schon
gelegentlich Unfug beschlossen wird, nicht auch die Kraft
hätten, ihn wieder zu beseitigen. Wenn ich mich aber jetzt
entscheiden muss zwischen den beiden Optionen, entweder allen
denkbaren Unsinn ein für alle Mal schon zu Beginn zu
verhindern und damit gleichzeitig sicherzustellen, dass eine Reform
nicht stattfindet oder eine Reform möglich zu machen unter
Inkaufnahme einiger Unsinnigkeiten, die dann später
nachgebessert werden müssen, finde ich die zweite Variante
klüger. Dies ersetzt die sorgfältige Auseinandersetzung
mit diesen Regelungen nicht, ist aber vielleicht eine
Regieempfehlung für das abschließende
Abstimmungsverhalten, wenn zwischen diesen Wünschbarkeiten im
Einzelnen und den Notwendigkeiten im Ganzen Prioritäten
gebildet werden müssen. Es hat ohnehin etwas hochgradig
Kunstvolles, wenn eine Reform der föderalistischen Verfassung
in Deutschland unter Ausklammerung der beiden mit Abstand
wichtigsten Einzelfragen stattfindet, nämlich der
Größenordnung und der Anzahl der Länder und ihrer
Finanzverfassungen.
Ich weiß nun nicht, da ich dem nun unmittelbar
bevorstehenden Finanzminister weder die Zeit stehlen noch in seine
thematische Zuständigkeit intervenieren will, ob Sie am Ende
dieses Beitrages eher in der Zuversicht gestärkt als in den
Zweifeln stabilisiert in die Fortführung der gemeinsamen
politischen Arbeit von Bund, Ländern und Kommunen gehen, aber
ich würde Ihnen gerne ganz zum Schluss nicht nur meine
persönliche Versicherung mit auf den weiteren gemeinsamen Weg
geben, dass sich der Deutsche Bundestag und seine Mitglieder dieser
nicht nur komplizierten, sondern auch unaufgebbaren Verflechtungen
sehr bewusst ist, und dass wir uns um eine möglichst
wirkungsvolle, wirksame, effiziente Wahrnehmung dieser gemeinsamen
Aufgaben in den nächsten Jahren verstärkt bemühen
wollen.
Ich möchte Ihnen schließlich eine Botschaft mit auf
diesen Kongress geben, die den Stellenwert besonders eindrucksvoll
verdeutlicht, den auch nach meiner Überzeugung die Kommunen,
die Städte und Gemeinden, in unserer politischen
Verfassungsordnung haben. Dieser Satz stammt von Alexis de
Tocqueville. Wir verdanken ihm eine Reihe von prinzipiellen
Einsichten in die Funktionsbedingungen moderner Demokratie, von
denen manche oft, andere nie zitiert werden, und die zwei oder die
drei Sätze, die ich jetzt zum Schluss vortragen möchte,
gehören interessanterweise zu denen, die fast nie zitiert
werden: "Und doch ruht die Kraft der freien Völker", schreibt
Tocqueville, "in der Gemeinde. Die Gemeindeinstitutionen sind
für die Freiheit, was die Volksschulen für die
Wissenschaft sind. Sie machen sie dem Volke zugänglich. Sie
wecken in ihm den Geschmack an ihrem friedlichen Gebrauch und
gewöhnen es daran. Ohne Gemeindeinstitutionen kann sich ein
Volk eine freie Regierung geben, aber den Geist der Freiheit
besitzt es nicht."
In diesem Sinne sollten wir uns gemeinsam um den Geist der
Freiheit bemühen.