Sehr gehrter Herr Prof. Honnefelder,
meine Damen und Herren,
die Ringvorlesung des Guardini Kollegs stellt die Frage nach der
Verantwortung heute an Politik und Wirtschaft, an Medien und
Kirchen, an Universitäten und Europa. Und die Reihe der dazu
angekündigten Vorlesungen beginnt mit der Kultur. Ich
weiß nicht, ob das ein schierer Zufall ist, der auch mit der
Verfügbarkeit der angesprochenen Gastreferenten zu tun haben
könnte. Wenn es denn so wäre, würde ich das als
einen besonders glücklichen Zufall empfinden, und wenn die
Reihenfolge ganz bewusst so gewählt war, dann verdiente sie in
besonderer Weise gewürdigt zu werden als ein demonstratives
Bekenntnis zu der Einsicht, dass Kultur eben nicht die
liebenswürdige Nebensache ist, nach dem alles andere
vermeintlich wirklich Wichtige erledigt ist, das gehobene Programm
zum Feierabend gewissermaßen, sondern die Hauptsache, eine
Hauptsache jedenfalls.
Die Frage für den heutigen Abend „Wer trägt die
Verantwortung für die Kultur?“ ist geradezu simpel, auch
deshalb ist die Antwort alles andere als einfach. Die
Schwierigkeiten einer Beantwortung dieser Frage beginnen schon mit
dem in den letzten Jahren hoffnungslos inflationierten
Kulturbegriff. Von der Alltagskultur über die Esskultur und
Trinkkultur, die Hauptstadtkultur, die Streitkultur bis zur
Wohnkultur, um nur ein halbes Dutzend vieler hunderter
Begriffsbildungen der jüngeren Vergangenheit zu nennen. Eckard
Henscheid hat schon vor 5 Jahren eine Publikation mit dem Titel
„Alle 756 Kulturen – eine Bilanz“ vorgelegt, und
in diesem Zusammenhang einen virtuellen „Grand Prix der
Kulturen“ ausgelobt, der im übrigen in dieser Verbindung
von eindrucksvollen Quantitäten und ironisierender Nachfrage
die Schwierigkeiten im Umgang mit dem Thema schon hinreichend
illustriert.
Die kürzeste und zugleich richtigste mögliche Antwort
auf die Frage „Wer trägt die Verantwortung für die
Kultur?“ könnte und müsste lauten: Wir. Wir alle.
Die Bürgerinnen und Bürger, die Vereine und
Verbände, die Kirchen und die Medien, die Parteien und der
Staat. Der Staat nicht zuerst und ganz gewiss nicht zuletzt. Er hat
eine unverzichtbare, auch nicht kompensierbare, aber ganz sicher
keine exklusive Verantwortung für die Kultur dieses Landes und
dieser Gesellschaft.
„Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und
sozialer Bundesstaat. Die Gesetzgebung ist an die
verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und
die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“ Die
beiden Sätze werden Ihnen bekannt vorkommen, sie finden sich
im Artikel 20 unseres Grundgesetzes. Das Grundgesetz verpflichtet
diesen deutschen Staat ausdrücklich auf die Prinzipien der
Demokratie, den Sozialstaat, den Bundesstaat und den Rechtsstaat.
Von Kulturstaat ist in diesem Zusammenhang keine Rede. Insoweit
allerdings hat die politische Praxis die Verfassungstheorie
längst überholt bzw. eingeholt. Natürlich hat der
Staat, jeder Staat, eine kulturpolitische Verantwortung. Wie weit
oder eng auch immer der Staat seine Aufgaben versteht, er ist
für die Lebensbedingungen seiner Bürger verantwortlich,
mindestens mitverantwortlich. Dass dazu innere und
äußere Sicherheit, Polizei und Armee, Krankenhäuser
und Kasernen, Straßen und Bäder, nicht aber Sprache,
Geschichte, Tradition, also die Kultur eines Landes gehören
sollen, ist eine absurde Vorstellung. Zu den staatlichen Aufgaben
zählt natürlich auch die Verantwortung für Kunst und
Kultur. Dieses Selbstverständnis der Bundesrepublik
Deutschland als Kulturstaat hat nach manchen Bekräftigungen in
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts im Einigungsvertrag,
also im Kontext der Wiederherstellung der staatlichen Einheit
Deutschlands, erstmals ausdrücklich auch einen
verfassungsrelevanten Ausdruck gefunden.
Es gibt gewiss viele große Kulturnationen. Aber es gibt
nur wenige Staaten, die für Kunst und Kultur absolut und
relativ so viele öffentliche Mittel einsetzen, wie Bund,
Länder und Gemeinden in Deutschland. Über 90 % der
Kulturausgaben in Deutschland werden aus staatlichen Haushalten
aufgebracht. Weniger als 10 % von Privatpersonen,
gemeinnützigen Organisationen, Stiftungen und Sponsoren, deren
Anteil an der Gesamtfinanzierung in der Öffentlichkeit
inzwischen maßlos überschätzt wird. Diese Relation
von ziemlich genau 90:10 öffentlicher und privater
bürgerschaftlicher Verantwortung für die
Finanzierungserfordernisse eines Kulturstaates versteht sich
keineswegs von selbst. Es gibt andere bedeutende Länder, in
denen die Relation völlig anders ist. In den Vereinigten
Staaten sind sie fast präzise umgekehrt: 10 % öffentlich
und 90 % privat bürgerschaftlich organisiert. Kunst- und
Kulturförderung wird dort als private, in Deutschland als
öffentliche Aufgabe verstanden. Gott sei Dank, wie ich
hinzufüge, und überhaupt nur verständlich und
erklärbar auf dem Hintergrund einer jahrhundertealten
Geschichte, in der ein Föderalismus, der damals noch nicht so
hieß, auch im konkurrierenden Repräsentationsaufwand
rivalisierender Fürstenhäuser die Vielzahl, die Breite,
die Verteilung der Kunst- und Kultureinrichtungen in Deutschland
möglich machte, die wir im besten Wortsinn geerbt haben und
manchmal etwas vorschnell für selbstverständlich
halten.
Nach dem letzten Kulturfinanzbericht sind im Jahr 2005 etwas
mehr als 8 Mrd. Euro als öffentliche Kulturfinanzierung
innerhalb der Bundesrepublik Deutschland aufgebracht worden. Von
diesen 8 Mrd. Euro entfällt wiederum der Löwenanteil auf
die Kommunen und die Länder, die zusammen knapp 90 % der
öffentlichen Mittel in Deutschland aufbringen, während
der Bund seinerseits gut 10 % dieser Kosten trägt, dazu kommen
allerdings noch 1 Mrd. Euro an Bundesmitteln für Programme und
Projekte der auswärtigen Kulturpolitik, für die er eine
originäre Verantwortung hat.
Die gerade vorgetragenen Größenordnungen sind wie
meistens sehr relativ, pro Einwohner bedeutet das, dass im Jahr
ziemlich genau 100 Euro für Kunst und Kultur aus
öffentlichen Kassen verausgabt werden. Der Anteil der Kunst-
und Kulturförderung an den öffentlichen Haushalten
beläuft sich damit auf übersichtliche 1,75 % und gemessen
an unserem Bruttoinlandsprodukt reden wir über einen Anteil
von 0,4 %. Die Kulturausgaben der öffentlichen Hände
sagen etwas über den Stellenwert, den die Förderung von
Kunst und Kultur in der Politik hat, sie geben aber zweifellos
keine hinreichende Auskunft, in welchem Ausmaß der Staat
seiner Verantwortung für die Kultur nachkommt. Dazu will ich
ein paar Hinweise geben, um deutlich zu machen, dass neben manchen
bemerkenswerten Errungenschaften dieses deutschen Kulturstaates es
auch manche beachtliche Fehlentwicklungen gibt, und dass wir
insbesondere Anlass haben, kritisch darüber nachzudenken, ob
hinter und unter der nach wie vor glänzenden Fassade nicht
zunehmend die Fundamente zu bröckeln begonnen haben.
Der erste kritische Hinweis, den ich geben möchte, betrifft
die zuletzt im Zusammenhang mit der Föderalismusreform wieder
aufgelegte Debatte über die sogenannte
„Kulturhoheit“, also die Zuständigkeit staatlicher
Hände für die Förderung von Kunst und Kultur. Die
Länder haben hier mit großem Nachdruck ihre
Alleinzuständigkeit, jedenfalls was die grundsätzlichen
Verantwortlichkeiten angeht, reklamiert, was sich im übrigen
auch in einer Reihe von durchaus praktischen operativen Fragen der
Zuweisung oder der Duldung von Bundesaktivitäten in der
Förderung von Kunst und Kultur niederschlägt. Der immer
wieder aufflammende Streit zwischen Bund und Ländern um die
sogenannte Kulturhoheit ist nach meinem Verständnis gleich
doppelt abwegig. Erstens wird niemand vernünftigerweise den
Kulturstaat Deutschland bekräftigen und gleichzeitig eine
prinzipielle Unzuständigkeit des Bundes für diesen
Kulturstaat durchsetzen wollen. Und zweitens lässt sich das
Verhältnis des Staates zu Kunst und Kultur kaum
missverständlicher ausdrücken, als ausgerechnet mit
diesem Begriff „Kulturhoheit“. Ein Staat, der Kunst und
Kultur mit hoheitlicher Gebärde begegnet, ist sicher kein
Kulturstaat.
Zweite Anmerkung zur aktuellen Lage des Kulturstaates
Deutschland. Der Kulturstaat kann seinen Ansprüchen nur
genügen, wenn er von einer engagierten Bürgergesellschaft
getragen und getrieben wird. Dies gilt sowohl für die innere
Legitimation und Mehrheitsfähigkeit steuerfinanzierter
Kulturausgaben, die wie jede öffentliche Ausgabe auch
öffentlich rechenschaftspflichtig sind, als auch und erst
recht für deren notwendige Ergänzung durch
privatwirtschaftliche und gemeinnützige Aufwendungen. Dabei
erwarten Stifter und Spender regelmäßig, und, wie ich
finde mit vollem Recht, dass die von ihnen zur Verfügung
gestellten Mittel nicht statt öffentlicher Ausgaben sondern
zusätzlich bereitgestellt werden, um Programme und Projekte
möglich zu machen, die das vorhandene Angebot ergänzen
sollen.
Ich finde durchaus ermutigend, welche erstaunlich schnellen
Wirkungen das vor wenigen Jahren reformierte Stiftungssteuerrecht
in Deutschland ausgelöst hat, von dem nun Jahr für Jahr
in einem beachtlichen Umfang Gebrauch gemacht wird. Zurzeit gibt es
in Deutschland etwa 13.000 solcher gemeinnütziger Stiftungen,
die zusammen inzwischen über ein Kapital von beinahe 30 Mrd.
Euro verfügen, deren Erträge für gemeinnützige
Zwecke verwendet werden. Ein beachtlicher Umfang auch zur
Förderung von Kunst und Kultur und jedes Jahr kommen 800
– 1.000 neue Stiftungen dazu. Aber auch hier gilt wieder der
Hinweis über die Relativität solcher quantitativen
Befunde. Am Beginn des letzten Jahrhunderts war die Zahl der
gemeinnützigen Stiftungen in Deutschland fast 10mal so hoch
wie heute. Und sie ist über Weltwirtschaftskrisen,
vollständige Geldentwertung und eine politisch verfolgte,
jedenfalls nicht gewünschte und deswegen am Ende
gründlich ruinierte bürgerschaftliche Kultur auch und
gerade gemeinnützigen Engagements auf einen Rest geschrumpft,
den wir seit der Jahrhundertwende vom 20. zum 21. Jahrhundert nun
mühsam wieder zu restaurieren im Begriffe sind.
Dritte Anmerkung zur allgemeinen Lage. Der nach meiner
persönlichen Einschätzung Besorgnis erregendste Teil der
kulturellen Verfassung der Bundesrepublik Deutschland betrifft die
kulturelle Bildung in unserem Lande. Die Vermittlung von Grundlagen
und Interesse an bildender Kunst und Musik, wenn eben möglich
auch die Motivation zur eigenen aktiven künstlerischen
Betätigung ist in den deutschen Schulen längst notleidend
geworden. Der allgemein beklagte Unterrichtsausfall ist in den
musischen wie in den orientierenden Fächern eher
überdurchschnittlich ausgeprägt. Immer häufiger wird
der Unterricht fachfremd erteilt, also ohne die unbestrittene
Professionalität, die in geistes- und naturwissenschaftlichen
Fächern für völlig unverzichtbar gehalten wird.
Für den Umgang mit Kunst und Kultur gilt aber natürlich
in gleicher Weise wie für die Geistes- und
Naturwissenschaften, dass ohne Kenntnis auch kein Verständnis
und ohne Motivation auch kein Engagement zu erreichen ist. Wenn bei
Kindern und Jugendlichen das Interesse an Kunst und Kultur nicht
nachwächst, dann vermindert sich unvermeidlicherweise in
Zukunft sowohl das Angebot wie die Nachfrage für
künstlerische Berufe sowie die großen und kleinen
Kultureinrichtungen, deren Bestand keineswegs nur durch aktuelle
Haushaltsprobleme ihrer Träger gefährdet ist. Der
große und bunte Garten der deutschen Kulturlandschaft ist
nach meiner Überzeugung weit weniger in seinen Blüten
bedroht als in seinen Wurzeln.
Viertens. Der Staat ist nach unserem Staats- und unserem
Kulturverständnis nicht für Kunst und Kultur
zuständig, sondern für die Bedingungen, unter denen sie
stattfinden. Er hat keine materielle Zuständigkeit für
die Inhalte und die Formen, in denen sich Kunst und Kultur in einer
Gesellschaft entfalten. Aber er hat eine originäre und nicht
kompensierbare Verantwortung für die Bedingungen, unter denen
eine solche Entfaltung überhaupt möglich ist. Deshalb
kann Kulturpolitik gar nicht anspruchsvoll genug sein und muss
zugleich die Bescheidenheit einüben, zu deren Ende Heinrich
Böll auf der anderen Seite die Künstler seinerzeit
aufgerufen hat. Nirgendwo, in keinem anderen Bereich der
Gesellschaft ist die Distanz zum Staat so groß und so
demonstrativ und zugleich die Erwartung der Alimentierung so
ausgeprägt, wie in der Kunst und Kultur. Das scheint
intellektuell weder besonders zwingend noch moralisch von
bestechender Größe, aber es ist eine weitverbreitete
Attitüde, die ihrerseits beinahe kunstvoll genannt werden
kann. Worauf es aber allein ankommt, sie ist berechtigt. Die Kunst
hat einen Anspruch gegenüber dem Staat, soweit er denn
Kulturstaat sein will. Nicht aber der Staat gegenüber Kunst
und Kultur. Salopp formuliert: der Kunst kann der Staat egal sein,
dem Staat die Kunst nicht. Und die Kultur schon gar nicht.
Und damit bin ich bei meinem fünften und letzten und
vielleicht wichtigsten Aspekt, der allein durch die noch einmal
demonstrative Gegenüberstellung der beiden Begriffe Kunst und
Kultur deutlich macht, dass wir hier über einen nicht
auflösbaren Zusammenhang reden, aber eben nicht über ein
und dasselbe. Und dass dann, wenn wir von der Verantwortung
für die Kultur reden natürlich auch die Künste
gemeint sind, aber doch ganz sicher nicht nur sie.
Meine Damen und Herren, die inzwischen alte Einsicht –
mindestens Jahrzehnte alte Einsicht –, dass der moderne
demokratische Verfassungsstaat auf normativen Voraussetzungen
beruht, die er selbst weder schaffen noch garantieren kann, ist in
jüngerer Vergangenheit sowohl praktisch wie theoretisch in
mehrfacher Weise besonders eindrucksvoll bestätigt worden.
Praktisch durch das zunehmende Bewusstsein von Orientierungs- und
Integrationsproblemen in einer modernen Gesellschaft, die sich
keineswegs von alleine auflösen, und theoretisch durch einen
bemerkenswerten jüngeren Diskurs sowohl im Bereich der
Wissenschaft, der zeitgenössischen Philosophie wie im Bereich
der zeitgenössischen Theologie. Geradezu prototypisch für
diesen neuen Diskurs will ich auf den denkwürdigen Dialog
hinweisen, den vor etwas mehr als zwei Jahren Jürgen Habermas
und Joseph Ratzinger auf Einladung der Katholischen Akademie in
Bayern unter dem Arbeitstitel „Vorpolitische moralische
Grundlagen eines freiheitlichen Staates“ geführt haben.
In diesem damaligen Gespräch und einer Reihe sich daran
anschließender Publikationen hat Habermas darauf hingewiesen,
dass republikanische Gesinnungen sich inzwischen weitgehend von
ihren vorpolitischen Verankerungen gelöst haben, die wie ein
gemeinsamer religiöser Hintergrund und eine gemeinsame Sprache
für die Entstehung einer hochabstrakten
staatsbürgerlichen Solidarität hilfreich gewesen sei.
Habermas spricht von der Gefahr einer „entgleisenden
Modernisierung der Gesellschaft, …die jene Solidarität
auszehren könne, auf die der demokratische Staat, ohne sie
rechtlich erzwingen zu können, angewiesen sei.“ So liege
es auch im eigenen Interesse des Verfassungsstaates „mit
allen den kulturellen Quellen schonend umzugehen, aus denen sich
das Normbewusstsein und die Solidarität von Bürgern
speist“.
Habermas plädiert für eine selbstkritische
Neubestimmung des Verhältnisses von Glauben und Wissen und
weist zu Recht auf die unvermeidlichen Anpassungsprozesse hin, die
sich daraus für das religiöse Bewusstsein, wie für
die moderne säkularisierte Gesellschaft ergeben. Zwar habe die
Religion ihren Anspruch auf ein Interpretationsmonopol und
umfassende Lebensgestaltung im einem weltanschaulich neutralen
Staat verloren, was man übrigens auch als überzeugter
Christ nicht nur bedauern muss, dennoch sei die weltanschauliche
Neutralität der Staatsgewalt keineswegs mit einer politischen
Verallgemeinerung einer säkularistischen Weltsicht
gleichzusetzen. Weder dürften säkularisierte Bürger
in ihrer Rolle als Staatsbürger religiösen Weltbildern
grundsätzlich ein Wahrheitspotenzial absprechen, noch den
gläubigen Mitbürgern das Recht bestreiten, in
religiöser Sprache Beiträge zu öffentlichen
Diskussionen zu machen. Noch einmal Habermas: „Eine liberale
politische Kultur kann sogar von den säkularisierten
Bürgern erwarten, dass sie sich an Anstrengungen beteiligen,
relevante Beiträge aus der religiösen in eine
öffentlich zugängliche Sprache zu versetzen.“
Dass der Habermas-Fanclub durch diese Auskünfte auch eher
irritiert als gefestigt wurde, muss sofort einleuchten. Allerdings
füge ich der Vollständigkeit halber hinzu, dass dies
für den Ratzinger-Fanclub mit Blick auf seine damaligen
Äußerungen in diesem Dialog in einer ähnlichen
Weise gilt. Übrigens, meine Damen und Herren, ein
herausragendes Beispiel für diese von Habermas angesprochene
Übersetzungsleistung ist die Formulierung allgemeiner
Menschenrechte, die den religiösen Gedanken der
Gottesebenbildlichkeit aller Menschen in den rechtsförmigen
Anspruch auf Unantastbarkeit der Menschenwürde und daraus
hergeleitete Grundrechte umgesetzt haben.
Joseph Ratzinger, damals noch Präfekt der vatikanischen
Glaubenskongregation, interpretiert diese verschiedenen
Menschenrechtserklärungen als „in sich stehende Werte,
die aus dem Wesen des Menschseins folgen und daher für alle
Inhaber dieses Wesens unantastbar sind“ und weist zugleich
daraufhin, dass die Evidenz dieser Werte heute keineswegs in allen
Kulturen anerkannt sei. Der Islam habe seinen eigenen, vom
westlichen abweichenden Katalog der Menschenrecht definiert und
China stelle unbeschadet seiner im westlichen Kulturkreis
entstandenen marxistischen Grundauffassungen immer häufiger
die Frage, ob es sich bei den Menschenrechten nicht um eine typisch
westliche Vorstellung handele, die für die eigene Gesellschaft
und ihre Kultur hinterfragt werden müsse.
Es ist – wie ich glaube – für den
zeitgenössischen Diskurs über die Grundlagen einer
modernen freiheitlichen Gesellschaft von kaum zu
überschätzender Bedeutung, dass so herausragende und
gleichzeitig so unterschiedliche Repräsentanten der modernen
Philosophie und der modernen Theologie wie Habermas und Ratzinger
von der Kultur des christlichen Glaubens wie der Kultur der
säkularen Rationalität als den „beiden großen
Kulturen des Westens sprechen.“ Wobei ausgerechnet der
heutige Papst deren faktische Nichtuniversalität betont.
Unsere säkulare Rationalität ist eben nicht einfach
weltweit gleichermaßen evident. „Ihre Evidenz“,
schreibt Papst Benedikt, „ist faktisch an bestimmte
kulturelle Kontexte gebunden und sie muss anerkennen, dass sie als
solche nicht in der ganzen Menschheit nachvollziehbar und daher in
ihr auch nicht im Ganzen operativ sein kann. Mit anderen Worten,
die rationale oder die ethische oder die religiöse Weltformel,
auf die sich alle einigen und die dann das ganze tragen
könnte, gibt es nicht. Jedenfalls ist sie gegenwärtig
unerreichbar“.
Im Lichte dieser Einsichten ist die öffentliche Debatte in
Deutschland über die normativen Grundlagen unseres
demokratischen Staates und seiner Verfassungsordnung auffällig
mutlos und lustlos allemal. Sie hat jahrelang schlicht nicht
stattgefunden, und wenn überhaupt wurde für die
Verweigerung der Debatte die theoretische Überhöhung
gesucht und gefunden. Der Ersatz für diese Debatte war die
Aufforderung zum Dialog der Kulturen, die vielleicht auch deswegen
so populär geworden ist, weil viele damit das
Missständnis verbinden, die Aufforderung zum Dialog ersetze
den eigenen Standpunkt. Tatsächlich setzt ein Dialog der
Kulturen eine Kultur des Dialogs voraus. Und die
Mindestvoraussetzung eines Dialogs ist erstens der eigene
Standpunkt und zweitens die Toleranz für den anderen. Und das
nicht nur im Sinne des Ertragenmüssens, dass es leider andere
gibt, die andere Meinungen haben, sondern des Ernstnehmens anderer
Überzeugungen und Orientierungen.
Nun wird in diesem Zusammenhang gerade in Deutschland immer
wieder gerne auf das Grundgesetz verwiesen und die im Grundgesetz
doch für alle hier lebenden, keineswegs nur deutschen
Staatsbürger geltenden Rechte und wenige Verpflichtungen.
Dieser Hinweis ist richtig und unzureichend zugleich. Verfassungen
fallen nicht vom Himmel und sie werden im übrigen dort auch
nicht konserviert, wenn die Zeiten auf Erden turbulenter werden.
Voraussetzung jeder Verfassung ist Kultur, was eigentlich sonst.
Verfassungen setzen in rechtlicher Ansprüche und
Verpflichtungen um, was historisch und kulturell gewachsen ist.
Welche Erfahrungen eine Gesellschaft mit sich selbst gemacht hat,
welche Überzeugungen in ihr gewachsen sind, welche
Orientierungen sich daraus für individuelles und
gesellschaftliches Verhalten ergeben. Dies ist das Fundament, auf
dem jede beliebige Verfassung beruht. Und weil dieses Fundament
notwendigerweise unterschiedlich ist, je nachdem über welche
Gesellschaft mit welchen Erfahrungen und Orientierungen und
Überzeugungen wir reden, sind die Verfassungen
naheliegenderweise auch nicht identisch. Und dies reicht auch fast
als Erklärung dafür, warum auch die hartnäckigsten
Anstrengungen, scheinbar perfekte Verfassungstexte in Länder
zu exportieren, die sich um eine Modernisierung ihrer politischen
Strukturen bemühen, am Ende ausnahmslos alle nicht wirklich
gelingen. Bestand und Wirkungsmacht können Rechte, Grundrechte
nur haben, wenn ihre kulturellen Grundlagen nicht erodieren. Gerade
die deutsche Verfassungsgeschichte bietet für diesen
Zusammenhang einen deprimierend deutlichen Beleg. Die Verweigerung
oder Vertagung einer als lästig empfundenen Grundsatzdebatte
über unverzichtbare normative Voraussetzungen unserer Rechts-
und Verfassungsordnung und damit über Kultur als die Grundlage
unserer Gesellschafts- und Staatsordnung läuft auf die
bestenfalls naive Vermutung hinaus, man müsse sich nun um die
Wurzeln nicht mehr kümmern, nachdem die Bäume ja so
prächtig gediehen sind.
Eine ergänzende Bemerkung zum Schluss. Wenn ich mit
Nachdruck für die Reaktivierung der kulturellen Grundlagen und
Orientierungen als der Voraussetzung für die geistige und
rechtliche Verfassung unserer Gesellschaft und ihrer staatlichen
Ordnung werbe, dann reklamiere ich damit ausdrücklich nicht
einen Überlegenheitsanspruch der eigenen Kultur gegenüber
anderen. Ein solcher Dominanzanspruch zwischen Kulturen verbietet
sich von selbst, sowohl aus historischer Einsicht, wie aus Respekt
vor dem Reichtum, dem fremde Kulturen darstellen. Aber für die
innere Konsistenz einer konkreten Gesellschaft ist die Durchsetzung
eines solchen Anspruchs völlig unverzichtbar. Insoweit ist
jede Kultur, die sich selbst ernst nimmt, eine Leitkultur. Richard
Schröder hat vor ein paar Jahren schon in diese damals nicht
zustande kommende Diskussion hinein den Hinweis gegeben, Leitkultur
bedeute ja nicht, anderen Ländern deutsche Kultur
aufzudrängen, sondern unseren Erfahrungen, unseren
Überzeugungen und Prinzipien im eigenen Land Geltung zu
sichern. Das ist ganz sicher erlaubt. Nach meiner Überzeugung
dringend geboten.
Von Winston Churchill stammt der schöne, wenn auch für
unser Thema scheinbar unerhebliche Satz „Der Preis der
Größe heißt Verantwortung“. Mit Blick auf
unser Thema kann man wohl mit schwer widerlegbarer Berechtigung
sagen: die Verantwortung für Kultur ist Voraussetzung der
Erhaltung ihrer Bedeutung. Dieser Verantwortung müssen wir
gerecht werden. Wir alle.