Navigationspfad: Startseite > Der Bundestag > Präsidium > Reden des Präsidenten > 2008 > Rede bei der Gedenkveranstaltung zu Ehren von Dr. h. c. Annemarie Renger, Bundestagspräsidentin a. D.
Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Frau Bundeskanzlerin!
Herr Bundesratspräsident!
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts!
Liebe Familienangehörige von Frau Renger!
Herr Bundeskanzler Schröder! Exzellenzen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren!
Es gibt Persönlichkeiten, von denen man sagen darf: Sie haben
Parlamentsgeschichte geschrieben. Annemarie Renger gehört
zweifellos dazu. Als sich am 9. November 1989 im Bonner Wasserwerk
in die laufenden Beratungen des Bundestages hinein die Nachricht
von der Öffnung der Mauer verbreitete, war die amtierende
Präsidentin Annemarie Renger. Für sie schloss sich damit
der Kreis einer eindrucksvollen politischen Laufbahn von den
Anfängen der Bonner Republik bis zu ihrem absehbaren Ende.
Annemarie Renger gehörte zur Generation des demokratischen
Neubeginns. Die Erfahrungen von Diktatur und Krieg haben ihre
Biografie geprägt. Aus einem sozialdemokratischen Elternhause
stammend, in Leipzig geboren, von ihrem in der Arbeiterbewegung
engagierten Vater politisch geprägt, litt sie unter dem
Zerfall des demokratischen Deutschlands. Sie erlebte sehr bewusst
politische Repression, Krieg und Verbrechen der
nationalsozialistischen Diktatur, den politischen, wirtschaftlichen
und moralischen Zusammenbruch Deutschlands, den demokratischen
Wiederanfang im Westen und die neue Diktatur im Osten.
Der 8. Mai 1945 war für Annemarie Renger persönlich wie
politisch ein befreiender Einschnitt. Sie nutzte die neue Freiheit
für politisches Engagement, zunächst als Assistentin und
Vertraute von Kurt Schumacher. Fast alle kennen das berühmte
Foto, das Kurt Schumacher zeigt, gestützt von Annemarie
Renger. Dieses Foto, unzählige Male gedruckt, ist geradezu
eine Ikone der Nachkriegsgeschichte.
Dass sie politisch etwas bewegen wollte, hat Annemarie Renger schon
sehr früh gewusst. "Politik war mein Lebenselement", schreibt
sie in ihren Erinnerungen. Nach Kurt Schumachers Tod strebte sie
selbst politische Verantwortung an und kandidierte als Abgeordnete
für den Deutschen Bundestag. Sie gehörte damals zu den
Jüngeren und zu denen, die noch die Weimarer Republik erlebt
hatten und auf diese Weise eine Brücke zwischen der ersten
parlamentarischen Demokratie und dem demokratischen Neubeginn in
Deutschland herstellen konnten.
Von 1953 an gehörte sie bis 1990, also nicht weniger als 37
Jahre lang, ununterbrochen dem Deutschen Bundestag an. Das war eine
ganz seltene, außergewöhnlich lange und politisch
bemerkenswerte Zeit, die von den Aufbaujahren bis zum Fall der
Mauer und zur Wahl des ersten gesamtdeutschen Parlaments
reichte.
Ebenso außergewöhnlich wie die Dauer ihrer politischen
Arbeit war, verlief auch ihre politische Laufbahn: Sie war die
erste Frau, die in ihrer Fraktion Parlamentarische
Geschäftsführerin wurde. Sie gehörte zu den ersten
Frauen, denen der Sprung ins Parteipräsidium gelang. Der
Höhepunkt ihrer politischen Karriere aber war die Wahl zur
Präsidentin des Deutschen Bundestages. Sie war die erste Frau
der Welt an der Spitze eines frei gewählten Parlaments.
Als Annemarie Renger 1972 gegen manche - übrigens nicht nur
männliche - Vorurteile für das Amt des
Bundestagspräsidenten kandidierte, war das beinahe eine
Provokation. Aber sie brachte die "gesunde Portion
Selbstvertrauen", wie sie es selbst formulierte, mit - auch
gegenüber der eigenen Fraktion, wie sie auch später immer
freimütig bekannte. Immerhin brachte sie sich selbst ins
Gespräch, als es um die Kandidatur ging.
Wahrscheinlich brachte sie es ziemlich genau auf den Punkt, als sie
später in einem Interview sagte:
Ich habe mich in der Fraktion selber für das Amt des Bundestagspräsidenten vorgeschlagen. Glauben Sie, man hätte mich sonst genommen?
An Selbstbewusstsein und Initiative hat es ihr jedenfalls nie
gemangelt. Als sie nach dem Krieg von Kurt Schumacher hörte,
sagte sie:
Den Mann muss ich kennenlernen.
Auch hier war sie es, die die Initiative ergriff und ihm ihre
Mitarbeit antrug.
Bei ihrer Kandidatur 1972 galt es für Annemarie Renger gleich
eine doppelte Herausforderung zu meistern; denn zum einen stand das
hohe Amt überhaupt zum ersten Mal in der neuen Republik den
Sozialdemokraten zu, und zum anderen war der Bundestag ausgerechnet
1972 extrem männerdominiert. Zu Beginn der 7. Wahlperiode
saßen lediglich 30 Frauen im Deutschen Bundestag. Damit
betrug der Frauenanteil bei den Abgeordneten lediglich 5,8 Prozent
- so wenig wie in keiner Legislaturperiode zuvor und natürlich
in keiner danach. Rückblickend sagte Annemarie Renger:
Ich war der Meinung, dass man jedes Amt annehmen muss, das Frauen in den Stand setzt zu beweisen, Frauen können es genauso gut - vielleicht sogar besser als Männer.
Energisch, resolut, selbstbewusst, stark - das sind Attribute, mit
denen Annemarie Renger immer wieder charakterisiert wird. Wer sie
erlebt hat, kann bestätigen, dass sie alle zutreffend sind.
Ein anschauliches Beispiel für ihre Resolutheit, der sich kaum
jemand entziehen konnte, stammt aus den parlamentarischen
Anfangsjahren der Grünen - 1987 -: Als damals der Abgeordnete
Thomas Ebermann, an den sich der eine oder andere noch erinnern
wird, in recht salopper Kleidung zum Rednerpult geht, weist ihn die
amtierende Sitzungspräsidentin Annemarie Renger ebenso kurz
wie eindeutig zurecht: "Machen Sie das Hemd zu." Das war so
unmissverständlich und ultimativ, dass selbst Thomas Ebermann
der Aufforderung unverzüglich Folge leistete.
(Heiterkeit)
Sie selbst, stets Grande Dame, fiel durch stilvolle Kleidung auf.
Ihre Hüte und Frisuren waren legendär. Ihre
natürliche Autorität blieb ihr bis ins hohe Alter. Als
das Präsidium des Deutschen Bundestages zu ihrem 85.
Geburtstag hier im Hause einen Empfang gab, dominierte sie ganz
selbstverständlich die Szene und verteilte demonstrativ ihre
durchaus abgestuften Sympathiebekundungen.
Annemarie Renger hatte nicht nur Bewunderer und Freunde. Das trifft
übrigens auch für die Frauen zu, deren Sache ihr doch
stets am Herzen lag. Aber dem Feminismus konnte sie die von manchen
erwartete Bedeutung nie richtig abgewinnen. Auch ihre Partei hatte
es nicht immer leicht mit ihr - und sie nicht immer nur Freude an
ihrer Partei. Gelegentliche Dissonanzen ziehen sich jedenfalls
durch ihr gesamtes politisches Leben: Nur wenige Monate waren seit
ihrer Wahl zur Bundestagspräsidentin vergangen, als sie im
April 1973 aus dem Parteipräsidium abgewählt wurde.
Gezweifelt aber hat Annemarie Renger nie - weder an sich noch an
ihrer Partei -:
Ich bin mit den Vorstellungen und Symbolen der Sozialdemokratie aufgewachsen. Sie haben mir und meinen Eltern während der Nazizeit inneren Halt gegeben.
So notierte sie in ihren Lebenserinnerungen.
Sie vertrat die sozialdemokratische Idee mit Überzeugung und
Loyalität - was sie allerdings nicht daran hinderte, sich als
Abgeordnete auch schon mal gegen ihre Fraktion zu stellen:
Dennoch habe ich in Fragen, die mir wichtig waren, eine eigene Meinung im Plenum vertreten, die zuweilen nicht "im Trend" lag.
So umschrieb Annemarie Renger diese Haltung, Art. 38 des
Grundgesetzes auf ihrer Seite wissend - eine Verfassungslage, liebe
Kolleginnen und Kollegen, die bis heute weder an rechtlicher
Verbindlichkeit noch an aktueller politischer Relevanz
eingebüßt hat.
Annemarie Renger bekleidete hohe politische Ämter, und sie war
Kandidatin ihrer Partei für das Amt des Staatsoberhauptes.
Gleichwohl kann man von ihrer Biografie gewiss nicht sagen, ihr
Leben sei vom Schicksal begünstigt gewesen - schon gar nicht
immer. Sie hatte im Gegenteil eine ganze Reihe persönlicher
Schicksalsschläge zu verkraften. Ihr erster Mann fiel im
Weltkrieg, ebenso drei ihrer Brüder. Auch ihren zweiten Mann
und ihren einzigen Sohn hat sie überlebt. Aber Annemarie
Renger besaß bewundernswerten Lebensmut und Durchhaltewillen.
Ihre Devise war:
Ich lasse mich nicht unterkriegen.
Ihre Rolle als Präsidentin füllte Annemarie Renger sowohl
nach dem Urteil ihrer Kolleginnen und Kollegen als auch in der
öffentlichen Wahrnehmung mit Bravour aus. Sie leitete die
Sitzungen überparteilich, souverän und mit der ihr
eigenen charmanten Resolutheit. Sie hat das Parlament nach
außen hervorragend repräsentiert und hat nach innen viel
bewegt. Sie hat lange überfällige Parlamentsreformen
angeschoben, sie brachte das Parlament den Bürgern näher.
Nicht zuletzt intensivierte sie die parlamentarischen Beziehungen
zu unseren östlichen Nachbarn und leitete die ersten
Bundestagsdelegationen nach Polen, Rumänien und in die
Sowjetunion.
Besonders lag ihr die Verbundenheit mit Israel am Herzen. 14 Jahre
lang war sie Vorsitzende der deutsch-israelischen
Parlamentariergruppe. Ihr Engagement um die Aussöhnung mit
Israel, um den christlich-jüdischen Dialog wurde mit hohen
Auszeichnungen gewürdigt, darunter mit der
Ehrendoktorwürde der Ben-Gurion-Universität, der
Buber-Rosenzweig-Medaille und dem Heinz-Galinski-Preis der
jüdischen Gemeinde Berlin.
Am Ende ihrer vierjährigen Amtszeit als
Parlamentspräsidentin hat Annemarie Renger mit berechtigtem
Stolz gesagt:
Ich habe erreicht, was ich wollte. Es ist bewiesen, dass eine Frau das kann.
Niemand wird das mehr in Zweifel ziehen.
Wir nehmen heute Abschied von einer bemerkenswerten Frau und einer
unverwechselbaren Persönlichkeit. Wir verneigen uns vor einer
bedeutenden Parlamentarierin, vor einer leidenschaftlichen
Demokratin. Annemarie Renger hat sich um Deutschland verdient
gemacht.