Navigationspfad: Startseite > Der Bundestag > Präsidium > Reden des Präsidenten > 2008 > Föderalismus und Parlamentarismus - Rede vor dem Bayerischen Landtag
Präsident Alois Glück: Ich bitte die Medienvertreter, den
Raum wieder freizugeben.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Ich
begrüße Herrn Bundestagspräsidenten Prof. Dr.
Lammert im Namen des Hohen Hauses herzlich im Bayerischen Landtag.
Herr Bundestagspräsident, herzlich willkommen.
(Allgemeiner Beifall)
Nach unseren intensiven Recherchen in den Archiven sind Sie, lieber
Herr Prof. Dr. Lammert, der erste Bundestagspräsident, der
während einer Plenarsitzung zu den bayerischen
Landtagsabgeordneten spricht. Soweit wir wissen, trifft dies auch
für die anderen Landtage zu, abgesehen von Festakten.
Jedenfalls sind Sie -- das wissen wir jetzt aus eigener Erfahrung
-- der erste Parlamentspräsident, den wir als Redner in
unserem neuen Plenarsaal begrüßen können. Wir sehen
in Ihrem Besuch eine besondere Anerkennung und Wertschätzung
der Landesparlamente durch den Repräsentanten des Deutschen
Bundestages und des Parlamentarismus in Deutschland.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, niedrige Wahlbeteiligungen bei
den letzten Landtagswahlen in Hessen und in Niedersachsen sowie bei
den Kommunalwahlen in Bayern unterstreichen die entsprechenden
Umfragen, deren Ergebnisse man in den Medien nachlesen konnte:
Viele Bürgerinnen und Bürger haben immer weniger
Vertrauen in Politiker und in politisches Handeln. Das sind keine
neuen Entwicklungen. Natürlich sind wir immer bemüht,
selbstkritisch unsere Arbeitsabläufe und Strukturen, unsere
Debattenkultur und unsere politischen Rituale zu hinterfragen.
Bisher haben wir jedoch noch keinen Königsweg gefunden, dem
vorbeschriebenen Trend wirksam zu begegnen.
Welche Rolle haben in diesem Zusammenhang die Parlamente? Wie
leistungsfähig können sie sein angesichts der stetig
steigenden Anforderungen und der parallel dazu steigenden
Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger? Diese Fragen sind
nicht nur für uns Abgeordnete von Bedeutung. Die Rolle und das
Ansehen der Parlamente sind zentral für die Demokratie.
Herr Bundestagspräsident, Sie selbst haben in Ihrer
Antrittsrede die Bedeutung der Parlamente so beschrieben. Ich
zitiere: "Was ein politisches System als Demokratie qualifiziert,
ist nicht die Existenz einer Regierung, sondern die Existenz eines
Parlamentes und seine gefestigte Rolle im Verfassungsgefüge
wie in der politischen Realität." Soweit das Zitat.
Zu einer gefestigten Rolle gehört auch das Vertrauen und
Zutrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Kompetenz der
politischen Akteure, nach sachgerechten und vor allem auch
gerechten Lösungen zu suchen. Eines unserer Werkzeuge in den
Parlamenten, Vertrauen in uns und in unsere Entscheidungen zu
fördern, sind die föderalistischen Strukturen. Im
Zeitalter der Globalisierung müssen wir als Länder und
als Bundesrepublik Deutschland, als Landtage und als Bundestag
bereit sein, Aufgaben an die nächste Ebene abzugeben, in der
die Aufgaben am sachgerechtesten erledigt werden können.
In der Föderalismusreform I sind dafür wichtige Schritte
getan worden, auch hinsichtlich der Neuverteilung der Aufgaben
zwischen dem Deutschen Bundestag und den Landesparlamenten sowie
zwischen Bund und Ländern. Der Bund ist in seiner
Handlungsfähigkeit gestärkt worden, die Länder
ebenfalls.
Solche Veränderungen setzen die Bereitschaft voraus,
politisches Handeln nicht primär als Machtfrage zu verstehen
und darauf zu reduzieren, sondern in erster Linie im Hinblick auf
Handlung und Verantwortung zu reflektieren. Über die Bedeutung
des Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger in ihre Akteure
haben Sie, Herr Bundestagspräsident, in Ihrer Antrittsrede
Folgendes gesagt. Ich zitiere: "... denn die Bewältigung der
großen Herausforderungen, vor denen unser Land steht --
andere Länder übrigens auch --, setzt gerade angesichts
weitreichender, vielfach unerwünschter Veränderungen der
gewohnten Lebensbedingungen vor allem eines voraus: Vertrauen in
die dafür verantwortlichen Institutionen, Vertrauen in die
Legitimation, in die Kompetenz und in die Integrität der
politischen Akteure."
Herr Bundestagspräsident, ich bitte Sie, nun zu uns zu
sprechen.
(Allgemeiner Beifall)
Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert: Sehr geehrter
Herr Landtagspräsident, Herr Ministerpräsident, verehrte
Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, verehrte
Gäste! Zunächst ganz herzlichen Dank für die
freundliche Einladung und die liebenswürdige
Begrüßung. Dass ich mich freue, heute bei Ihnen im
Bayerischen Landtag zu Gast sein zu können und zu Ihnen und
mit Ihnen sprechen zu können, ist zugegebenermaßen keine
besonders originelle Einleitung, aber dafür ist es die reine
Wahrheit.
Dass ich als Preuße westfälischer Herkunft mit einem
langjährigen Dienstort in Bonn und seit einigen Jahren wieder
mit dem Dienstort Berlin jemals im Bayerischen Landtag sprechen
würde, hätte ich mir trotz hinreichend entwickelten
Selbstbewusstseins ernsthaft nur schwer vorstellen können.
Deswegen möchte ich mich natürlich auch aus diesem Grunde
ganz herzlich bei Ihnen, insbesondere bei Ihrem Präsidenten
für die Einladung sehr bedanken, zumal ich weiß, dass
der Bayerische Landtag mit Einladungen an Gastredner noch
behutsamer und sparsamer umgeht als der Deutsche Bundestag.
Dass Bayern nicht irgendein Land in Deutschland ist, weder
historisch noch politisch, weder mit Blick auf Geografie noch
Ökonomie noch Kultur, bedarf keiner besonderen Betonung; hier
schon gar nicht. Vor einigen Tagen war in den meisten deutschen
Zeitungen zu lesen, dass Bayerisch die beliebteste Mundart in
Deutschland sei.
(Zuruf: Probieren Sie es nicht! -- Heiterkeit)
-- Ich habe den Zwischenruf gehört.
(Engelbert Kupka (CSU): Der kommt von der SPD!)
Ich greife ihn auch gerne auf, weil aus der Allensbach-Studie
hervorgeht, dass die Bayern selbst zu 77 % in die eigene Sprache
ganz verliebt sind, was den Durchschnittswert für Deutschland,
den ich gerade zitiert habe, locker mehr als verdoppelt.
Unter all den in dieser Umfrage nachgefragten Dialekten und
Mundarten in Deutschland ist die offenkundig unauffälligste
das Westfälische. Zwar mögen es nur 7 % aller Befragten
besonders, aber umgekehrt geben auch nur 2 % an, es überhaupt
nicht leiden zu können. Das halte ich für eine
vergleichsweise günstige Ausgangsposition. Ich gehe jetzt
einmal davon aus, dass ich nicht mit heftigem Rückenwind
rechnen kann, aber mich auch nicht unbedingt auf stürmischen
Gegenwind einstellen muss, wenn ich einige der Überlegungen
vortrage, von denen ich vermute, dass sie den Bayerischen Landtag
in ähnlicher Weise befassen und gelegentlich auch besorgen wie
den Deutschen Bundestag.
Im Übrigen ist mir dabei natürlich sehr bewusst, dass der
bayerische Staat noch älter ist als der deutsche und dass auch
mit Blick auf die Anfänge des Parlamentarismus, dessen Wachsen
und Entstehen hierzulande nicht immer nur eine einfache Übung
war, die Bayern früher unterwegs waren als manche andere.
Immerhin ist es jetzt genau 500 Jahre her, seit im Jahr 1508 die
Landstände Bayerns mit der erklärten Landesfreiheit ein
größeres Mitspracherecht erhielten. Vor genau 200
Jahren, 1808, hat Bayern seine erste einheitliche Verfassung
erhalten, die unter anderem die Gleichheit vor dem Gesetz und beim
Zugang zu Staatsämtern sowie die Gewissensfreiheit und die
damals gesetzlich noch etwas limitierte Pressefreiheit
gewährleistete. Bis zur Eröffnung des ersten Bayerischen
Landtags hat es dann zwar noch ein paar Jahre gedauert, aber er ist
immerhin 1819 zusammengetreten. Das ist fast 30 Jahre früher
als die Frankfurter Paulskirche, in der der erste ernsthafte
Versuch, Einheit und Freiheit, Nationalstaat und Parlamentarismus
zusammenzubinden, damals gescheitert ist.
Ich habe damit schon die beiden Stichworte angedeutet, über
die ich gerne sprechen möchte -- zwei Themen, die uns
gemeinsam angehen, den Bund wie die Länder und ihre Parlamente
zumal: den Föderalismus und den Parlamentarismus. Beide
Aspekte sind für unsere Verfassungsordnung konstitutiv. Wir
halten sie nicht nur rechtlich, sondern auch politisch für
völlig unverzichtbar. Für diese beiden unaufgebbaren
Festlegungen unserer Verfassungsordnung gilt bei nüchterner
Betrachtung: Sie sind beide nicht sonderlich populär. Es
wäre schön, wenn es anders wäre, aber der Blick auf
die Realitäten lässt eine andere Beurteilung schwerlich
zu.
Was den Föderalismus und seine Akzeptanz in Deutschland
angeht, gibt es einige interessante, auch wiederum nicht
gänzlich neue Befunde, die in einer Studie der
Bertelsmann-Stiftung deutlich werden, die gerade Anfang dieses
Jahres, im Februar fertiggestellt worden ist. Nach dieser Studie
hält jeder vierte Bürger in Deutschland die
Bundesländer für gänzlich überflüssig. In
acht von 16 Bundesländern -- das ist immerhin genau die
Hälfte -- spricht sich die Mehrheit der Befragten für
eine Fusion mit mindestens einem Nachbarland aus. Bundesweit, also
insgesamt betrachtet, sind 40 % aller Befragten für eine
solche Zusammenlegung. Nur 3 % der befragten Bürger in
Deutschland denken überhaupt an Landespolitik, wenn sie nach
besonderen Merkmalen ihres eigenen Bundeslandes gegenüber
anderen Bundesländern gefragt werden.
Um das im Konkreten zu bestätigen, was ich vorhin im
Allgemeinen gesagt habe: Bayern ist natürlich anders. Die mit
Abstand stärkste Identifikation mit der Landesebene findet
sich in einem westdeutschen und interessanterweise auch in einem
ostdeutschen Bundesland, nämlich in Bayern und
Mecklenburg-Vorpommern. Die meisten Bundesbürger
identifizieren sich nach ihren eigenen Auskünften zuerst mit
der Stadt, mit ihrer engeren Heimat, in der sie leben. Danach
folgen -- das ist interessant -- die Bundesebene und die
Europaebene. Die Ebene des Bundeslandes wird in mehr als der
Hälfte der Bundesländer von den Menschen am wenigsten
genannt, wenn es um die Identifikation mit politischen Einheiten
geht.
Auch hier fällt Bayern aus dem allgemeinen Befund deutlich
heraus. In Bayern ist die Identifikation der Menschen mit dem Land,
mit dem Freistaat, fast genauso hoch wie die Identifikation mit der
unmittelbaren engeren Heimat, deutlich höher als die
Identifikation mit der Bundesebene und nochmals deutlich
ausgeprägter als mit der europäischen Ebene.
Nun muss man solche durch Umfragen erhobenen Einschätzungen in
ihrer Bedeutung nicht überschätzen. Sie geben allerdings
in der Regel schon -- gerade weil sie meistens nicht auf
sorgfältigem Nachdenken beruhen, sondern spontan erfolgen --
reflexhaft Einschätzungen wieder, die die Verhaltensmuster der
Menschen prägen. Ich kann jedenfalls zwischen dem Befund und
manchen Erfahrungen im real existierenden deutschen
Föderalismus manche Parallelen entdecken, einschließlich
der Unterschiede, der Identifikation der Menschen mit ihren
jeweiligen Ländern, auf die ich gerade Bezug genommen
habe.
Der Freistaat Bayern jedenfalls ist ein besonders eindrucksvolles
Beispiel für lebendigen Föderalismus und für die
Vielfalt in der Einheit, die unser Land so attraktiv macht. Dass es
bei uns so viele unterschiedliche Städte, Regionen und
Landschaften gibt, so viele Bräuche, Traditionen, Kulturen und
Dialekte, macht im wörtlichen Sinn den Reichtum dieses Landes
aus und sollte uns gelegentliche Neigungen zur Verzweiflung
über Komplizierungen oder auch über Auswüchse des
real existierenden Föderalismus mit Gelassenheit ertragen
lassen.
Sie alle -- das gilt sicher nicht nur, aber ganz besonders auch
für den Bayerischen Landtag -- dürfen auf dieses Land
stolz sein und stolz sein auf die bemerkenswerten Leistungen und
Erfolge, die im Freistaat und weit über ihn hinaus für
unser deutsches Gemeinwesen erbracht worden sind. Ich finde, das
ist auch und gerade richtig unter Berücksichtigung mancher
aktueller Probleme und Ärgernisse, mit denen wir uns auch in
diesen Tagen auseinanderzusetzen haben.
Ich möchte diesen Hinweis mit einer ganz persönlichen
Bemerkung verbinden: Ich gehöre zu denjenigen, die nach dem
Zweiten Weltkrieg geboren sind, die fast genauso alt sind wie diese
zweite deutsche Republik und die sowohl in ihren persönlichen
Lebensbedingungen als auch in ihrer politischen Laufbahn
nachweislich auf den Schultern der Männer und Frauen stehen,
die dieses Gemeinwesen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut haben.
Ich möchte diese seltene Gelegenheit gerne nutzen, um meinen
ausdrücklichen Respekt gegenüber der
Gründergeneration zum Ausdruck zu bringen, die unter
weiß Gott bescheidenen Bedingungen die Grundlagen für
das gelegt hat, was heute vielen ganz selbstverständlich
erscheint.
(Allgemeiner Beifall)
Unsere heutige gelegentliche Neigung zu Bequemlichkeit oder zur
Resignation angesichts vergleichsweise bescheidener Probleme und
Herausforderungen wird geradezu beschämt von dem Mut und dem
Engagement einer Generation, die damals Grund gehabt hätte,
ihren Neuanfang für aussichtslos zu halten.
Diese Freude und der begründete Stolz auf das Erreichte werden
ein wenig durch die allgemeine Missstimmung gegenüber Politik
und politischen Institutionen eingetrübt, die auch der
Landtagspräsident gerade in seiner Begrüßung
angesprochen hat. Weder die Parteien noch die Parlamente, weder die
Regierung noch die Opposition befinden sich gegenwärtig auf
dem Höhepunkt ihres öffentlichen Ansehens. Es gibt viel
unzutreffende, es gibt aber auch manche berechtigte Kritik am
Zustand unseres politischen Systems.
Dabei müssen wir hier auch gar nicht über die
Zufälligkeiten und Unschärfen von Umfrageergebnissen
streiten. Eines wird man nüchtern feststellen müssen:
Das, was wir zum Funktionieren einer demokratischen modernen
Gesellschaft am dringendsten brauchen, geht zunehmend verloren,
nämlich Vertrauen. Dies gilt nicht nur für die Politik --
das ist wohl wahr -- und nicht nur für Politiker. Es gilt
für Unternehmer, es gilt für Banker, es gilt für
Sportler, für Funktionäre der unterschiedlichsten
gesellschaftlichen Bereiche, es betrifft die Medien, und es macht
auch nicht vor den Kirchen halt.
Ich empfehle uns dringend, nicht zu unterschätzen, welcher
Gesamteindruck sich in der Öffentlichkeit zunehmend fast
ergeben muss, denn, wo immer man hinguckt, immer häufiger
werden Erwartungen enttäuscht und wird das Vertrauen nicht
bestätigt, das man gerade mit der Übernahme prominenter
Aufgaben diesseits und jenseits der Politik -- wie ich finde --
zurecht verbindet.
Deshalb empfehle ich uns sehr, diesen Sachverhalt ernst zu nehmen.
Der Befund, über den wir hier reden, ist keineswegs eine
Momentaufnahme. Wir reden nicht über eine vorübergehende
Schlechtwetterfront. Wenn überhaupt, so reden wir über
climate change, über einen Klimawandel, der sich auch im
Verhältnis der Wählerinnen und Wähler gegenüber
der Politik seit nunmehr einer beachtlich langen Zeit in einem
besorgniserregenden stabilen Trend bemerkbar macht. Er wird in
vielen Indizien deutlich. Dazu gehört die auch von Alois
Glück genannte, seit Jahren rückläufige
Wahlbeteiligung. Dazu gehört auch der nicht zu
übersehende bemerkenswerte Verlust der Bindungskraft
politischer Parteien, insbesondere der Volksparteien. Alleine die
beiden großen Volksparteien in Deutschland haben in den
vergangenen 15 Jahren zusammen mehr als eine halbe Million
Mitglieder und noch mehr Wähler verloren.
Dieser geringe Anteil an erhaltener, schon gar wachsender
Bindungskraft führt, kombiniert mit der rückläufigen
Wahlbeteiligung, zu einem außerordentlich ernüchternden
Befund: Die Partei der Nichtwähler ist inzwischen die
politische Gruppierung in Deutschland mit den höchsten
Zuwachsraten.
Dennoch -- und gerade deshalb -- müssen wir sorgfältig
zwischen der Zustimmung zur Demokratie als Staatsform und der
Kritik an der Arbeit demokratischer Institutionen und den konkret
stattfindenden politischen Ereignissen unterscheiden. Diese Kritik
ist im Übrigen nicht nur erlaubt, sie ist auch notwendig, auch
wenn nicht jede Kritik berechtigt und in Art und Umfang
überzeugend ausfallen muss. Der bekannte Göttinger
Politikwissenschaftler Franz Walter hat in diesem Zusammenhang
einmal bündig festgestellt, dass wir uns "am Abschluss der
klassischen parlamentarischen Epoche" befinden. Das ist eine starke
Formulierung. Auch der amtierende Präsident des
Bundesverfassungsgerichts hat kürzlich öffentlich den,
wie er das nennt, Bedeutungsverlust der Parlamente beklagt und dies
um die Besorgnis ergänzt, wir hätten es mit einem
"verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Verfallsprozess"
zu tun. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist starker Tobak und
stammt von Leuten, deren Einschätzung es sich im Allgemeinen
als ernst zu nehmen empfiehlt. Man kann dem sicher auch mit
dröhnendem Selbstbewusstsein entgegentreten, als sei
ausgeprägtes und unerschütterliches Selbstbewusstsein
schon eine hinreichende Kompensation gegenüber starken und
unerfreulichen empirischen Belegen.
Aber ich will diesen beiden, beispielhaft aus der Wissenschaft und
aus der obersten Rechtsprechung genannten, kritischen
Einschätzungen auch eine auffällig gegenteilige
Einschätzung gegenüberstellen. Sie stammt vom
langjährigen Leiter des Max-Planck-Instituts für
ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht,
Armin von Bogdandy. Er hat einmal zum gleichen Sachverhalt genau
umgekehrt festgehalten:
Nach der herrschenden Lehre ist die Geschichte des
zeitgenössischen Parlamentarismus eine Verfallsgeschichte:
weniger Macht, geringere Kompetenzen, verschwindendes Ansehen. --
Tatsächlich aber ist der Parlamentarismus in den
zurückliegenden Jahrzehnten von Erfolg zu Erfolg geeilt.
Was ist denn nun eigentlich richtig? -- Ich beginne zunächst
einmal mit dem vermittelnden Vorschlag, dass die Behauptung vom
Ableben des Parlamentarismus ebenso übertrieben ist wie die
Vermutung einer unaufhaltsamen Erfolgsgeschichte. Wie auch sonst im
richtigen Leben ist bei einem genauen und nüchternen Blick die
Sache nicht ganz so spektakulär, wie das die Formulierungen in
manchen wissenschaftlichen und weniger wissenschaftlichen
Publikationen vermuten lassen. Die Realität im Allgemeinen ist
eher grau, und die Wirklichkeit spielt sich nicht tagtäglich
in großen Ereignissen ab, sondern sie schlägt sich in
der Abarbeitung von Alltagsanforderungen nieder. Dabei wird man
auch, und gerade was die Funktion und die Leistungsfähigkeit
von Parlamenten angeht, fairerweise nicht übersehen
dürfen, dass die Anforderungen, denen sie sich heute
ausgesetzt sehen, die Landtage wie der Bundestag -- und das
Europäische Parlament übrigens auch --, nicht nur anders
als früher sind, sondern höher, größer als
früher sind.
Ein so unverdächtiger, erfahrener und kluger Beobachter wie
Hans-Jochen Vogel, der Erfahrungen in der Kommunalpolitik, in der
Landes- und in der Bundespolitik hat, dessen größter
Teil seiner eindrucksvollen politischen Karriere mit diesem
Freistaat besonders eng verbunden ist, der in Regierungsämtern
und in Gesetzgebungsorganen über eine jahrzehntelange
Erfahrung verfügt, hat gerade im Kontext dieser
Auseinandersetzung einmal darauf hingewiesen, früher sei
vieles wesentlich einfacher gewesen. Heute -- und ich finde, das
ist ein beachtlicher Gesichtspunkt -- sei die Wahrung von Wohlstand
und sozialer Sicherung bei rückläufiger
Bevölkerungszahl und zunehmender Überalterung unter den
Wettbewerbsbedingungen der Globalisierung eine neue und große
Herausforderung, die es früher so nicht gegeben habe. Die
Erwartungen der Öffentlichkeit im Umgang mit diesen Problemen
sind allemal ausgeprägter als die tatsächlichen
Gestaltungsspielräume, die sowohl bei den Regierungen als auch
bei den Parlamenten regelmäßig sehr viel enger sind, als
die Öffentlichkeit in den großzügigen
Entwürfen erhofft und gelegentlich vermutet.
Große Koalitionen -- wenn ich mir diese Wasserstandsmeldung
aus Berlin erlauben darf -- machen das Finden von gemeinsamen
Lösungen nicht unbedingt einfacher, sondern eher schwieriger.
Große Koalitionen haben große Mehrheiten für das
Durchsetzen von Lösungen, die sie aber leider aus dem gleichen
Grund nur selten finden. Das macht wiederum einen erheblichen Teil
der operativen Probleme in der Gestaltung von Politik und schon gar
in der Vermittlung von Politik gegenüber den Wählerinnen
und Wählern aus. Es ist im Übrigen auch schwer zu
übersehen, dass die konkreten Erwartungen an Regierungen und
Parlamente sich nicht selten wechselseitig ausschließen, weil
das, was die einen für absolut dringlich halten, die anderen
mit Sicherheit für unzumutbar erklären und umgekehrt. Auf
diese Weise werden durch Festhalten an gewohnten Verhältnissen
und liebgewordenen Besitzständen genau die Veränderungen
verhindert, deren Ausbleiben die Wähler anschließend
Parteien, Parlamenten und Regierungen vorwerfen.
Die meisten Menschen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wissen
durchaus, dass Veränderungen unvermeidlich sind. Sie erwarten
aber, dass es dabei gerecht zugeht. Gerechtigkeit ist nach meinem
ganz persönlichen Empfinden das große Thema moderner
Gesellschaften überhaupt. Nachdem sich im Wettbewerb der
Systeme, der nun entschieden ist, liberale Demokratie und
marktwirtschaftliche Ordnung gegen autoritäre und
totalitäre Ordnungen durchgesetzt haben, empfinden die meisten
Menschen ihre Freiheit in der Regel nicht mehr als bedroht. Diese
halten sie für gesichert. Bedroht sehen sie vielmehr die
Gerechtigkeit bei der Entwicklung von Lebensverhältnissen und
Entwicklungsperspektiven. Da dies völlig unbeschadet von der
Frage geschieht, ob das eine hinreichende, vollständige und
wirklichkeitsnahe Erwartungshaltung ist, empfiehlt es sich für
Parteien wie für Regierungen und Parlamente sehr, sich redlich
Mühe zu geben, dieser Erwartung gerecht zu werden. Sonst
verlieren sie nämlich nicht nur Sympathie, sondern sie
verlieren auch Vertrauen.
Parlamente, meine Damen und Herren, müssen gewiss
lernfähig sein, ebenso wie Regierungen. Für die Parteien
gilt das ganz gewiss. Sie sollten aber nicht wankelmütig sein.
Mit Abstand wichtiger und wirksamer als die schwankende
Popularität einer Politik ist ihre Glaubwürdigkeit. Was
die Politik an Glaubwürdigkeit verliert -- wodurch auch immer
--, durch Wankelmütigkeit, durch Wortbruch, durch
Gleichgültigkeit, durch Beliebigkeit -- warum auch immer --,
kann sie an Popularität weder gewinnen noch ausgleichen. Wenn
mich mein Eindruck über die, vorhin vom
Landtagspräsidenten angedeutete und von mir nun etwas
entfaltete, Vertrauenskrise, die es zweifellos gibt, nicht
täuscht, dann glaube ich, legt das die Schlussfolgerung nahe,
dass wir alle, nicht nur die Politiker, aber die Politiker ganz
gewiss, möglicherweise bescheidener in unseren
Ankündigungen werden sollten, dafür aber anspruchsvoller
in den Zielen und mutiger in den Entscheidungen.
(Allgemeiner Beifall)
Streit ist nicht nur erlaubt, sondern im Ringen um die beste
Lösung unverzichtbar. Er sollte aber immer an der Sache
orientiert sein. Er muss Diffamierungen und Übertreibungen
vermeiden.
Die Politik kann im Übrigen immer nur so gut sein wie die
Leute, die sich für das Gemeinwohl zur Verfügung stellen.
Buh-Rufe von den Zuschauerplätzen sind zwar auch erlaubt,
ersetzen aber nicht das eigene Engagement. Jeder, der sich für
die Politik für zu gut hält, muss wissen, dass er sie
damit anderen überlässt, die er selbst für
schlechter hält.
(Heiterkeit und Beifall bei der CSU und bei Abgeordneten der
SPD)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die meisten prinzipiellen
Vorbehalte und Vorwürfe gegenüber dem Parlamentarismus
sind weder neu noch überzeugend. Es ist natürlich nicht
zu bestreiten, dass die öffentlichen Debatten über
wichtige und manchmal auch weniger wichtige Entwicklungen in
Wirtschaft und Gesellschaft weder ausschließlich noch immer
zuerst in den Parlamenten stattfinden. Nachfragen wird man
allerdings müssen, ob dies zum einen überhaupt nötig
und zum anderen jemals anders gewesen ist. Die Vorstellung, dass
alles und jedes, was von politischer Bedeutung ist, in erster Linie
im Parlament und vor allen Dingen in jedem Fall zuerst dort
stattfinden müsse, ist weder wirklichkeitsnah noch sinnvoll.
Wenn man neben dem Interesse an öffentlichen Diskursen auch
noch ein Restinteresse an Ergebnissen dieser Diskurse hat, kommt
man vernünftigerweise zu neuen Einsichten: dass nämlich
manche Entscheidungen vorbereitet werden müssen, wenn sie
überhaupt zustande kommen sollen, und dass das große
öffentliche Palaver nicht um so sicherer zu den
gewünschten Ergebnissen führt, desto lautstärker und
öffentlichkeitswirksamer es vorher inszeniert worden
ist.
(Beifall bei der CSU)
Dass ein beachtlicher Teil des politischen Entscheidungsprozesses
nicht auf der Vorderbühne, sondern in den Kulissen
stattfindet, ist für viele Beobachter ein Ärgernis; das
ist mir wohl klar. Das ist aber die Voraussetzung dafür, dass
Kompromisse überhaupt möglich werden, von denen Georg
Simmel einmal gesagt hat, sie gehörten zu den
größten Errungenschaften der Menschheit. Das mag man
für eine übertrieben pathetische Formulierung halten, das
ist aber in jedem Fall eine unaufgebbare Errungenschaft. Eine
Gesellschaft, die nicht mehr kompromissfähig ist, wäre
weder eine humane noch eine freiheitliche Gesellschaft. Also muss
ein politisches System, das sich von seinem Grundverständnis
her als Ordnungsrahmen einer freiheitlichen Gesellschaft versteht,
die Voraussetzungen dafür schaffen und erhalten, dass
Kompromisse möglich bleiben oder möglich werden.
Die Aufgaben der Parlamente haben sich nicht nur in Deutschland in
den vergangenen Jahren und Jahrzehnten sicher gewandelt, und sie
sind ganz gewiss nicht geringer geworden. Das gilt im
innerstaatlichen Verhältnis wie im europäischen
Zusammenhang. Der Lissabonner Vertrag, der in wenigen Wochen nicht
nur im Bundestag und Bundesrat ratifiziert wird, sondern
hoffentlich auch in allen anderen Mitgliedstaaten der
Europäischen Gemeinschaft, stärkt die Rolle der
Parlamente im europäischen Entscheidungsprozess -- eine
überfällige Korrektur von dessen Sitten mit Blick auf die
demokratische Verfassung der Europäischen Gemeinschaft,
für die wir alle miteinander über viele Jahre hinweg
gemeinsam eingetreten sind.
Für die Föderalismusreform gilt im Übrigen
präzise das Gleiche. Man mag gegenüber den Ergebnissen
der Föderalismusreform manche Vorbehalte haben -- da fielen
mir auch ein paar Hinweise ein --, aber dass diese
Föderalismusreform die Rolle der Parlamente geschwächt
hätte, kann man beim besten Willen nicht erkennen, ganz im
Gegenteil: Durch die eindeutigere Zuweisung von
Zuständigkeiten und die damit verbundene Stärkung auch
der Rolle der Landtage im jeweiligen eigenen
Zuständigkeitsbereich der Länder ist die Aufgabenstellung
und die Verantwortung der Parlamente gewachsen und keineswegs
diminuiert worden.
(Beifall bei der CSU)
Ich will allerdings auch unter dem Eindruck der tatsächlichen
Folgen der gerade verabschiedeten Föderalismusreform den
vorsichtigen Hinweis geben, dass es vor allem unter diesem
Gesichtspunkt auch hilfreich wäre, wenn Landesregierungen und
Landtage noch tapferer der Versuchung widerständen, die
Aussicht auf finanzielle Beteiligung des Bundes für noch
interessanter zu halten als die gerade frisch gewonnenen, neuen
eigenen Kompetenzen.
(Beifall bei der CSU)
Das bringt mich zum vorletzten Punkt, auf den ich gerne zu sprechen
kommen möchte, nämlich zur originären
Gesetzgebungskompetenz der Parlamente. In diesem Zusammenhang gibt
es einen in der Literatur, in der Berichterstattung, in der
öffentlichen Wahrnehmung immer wieder erhobenen Vorwurf, der
lautet, dass die Parlamente ihre Gesetzgebungskompetenz immer
weniger wahrnähmen. Dieser Vorwurf, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ist gleich doppelt abwegig. Er ist zum einen abwegig,
weil sich die Funktion von Parlamenten schon unter den Bedingungen
moderner parlamentarischer Systeme keineswegs auf die Aufgabe der
Gesetzgebung reduziert und auch um Gottes willen nicht auf diese
Aufgabe reduziert werden darf. Zum anderen nehmen die Parlamente
die Aufgabe der Gesetzgebung nach wie vor in einem eher
erschreckenden Umfang wahr. Von einem Rückzug aus der
Gesetzgebung kann bei jeder nüchternen Betrachtung und bei
allerbestem Willen keine Rede sein.
In Deutschland befinden wir uns gegenwärtig geradezu auf dem
Höhepunkt einer politischen Kultur, die Sachverhalte
überhaupt erst dann für geregelt hält, wenn sie
durch Gesetz geregelt werden. Wenn wir mehr Zeit hätten, als
wir vernünftigerweise für eine solche gemeinsame
Beschäftigung in Unterbrechung Ihrer sonstigen Aufgaben der
heutigen Tagesordnung freiräumen können, könnten wir
der Reihe nach sämtliche Politikfelder in Deutschland
durchgehen, angefangen vom Schul- und Hochschulsystem über den
Arbeitsmarkt, den sozialen Sicherungssystemen im Allgemeinen bis
hin zu den Rahmenbedingungen der Förderung und Entwicklung von
Familien in Deutschland, von der Energieversorgung bis zum
Umweltschutz, von der Bildung bis zur Kultur, die sich für
besonders staatsfern hält -- wir könnten dutzendweise die
Gesetzgebungsanforderungen aufführen, denen deutsche
Parlamente leider mit erschreckender Regelmäßigkeit
nachkommen.
Ich mache überhaupt kein Hehl aus meiner festen, in mehr als
einem Vierteljahrhundert parlamentarischer Erfahrung gewachsenen
Überzeugung, dass deutsche Parlamente nicht zu wenig, sondern
zu viel Gesetzgebung machen
(Beifall bei der CSU)
und dass wir immer wieder von diesem Virus befallen sind, Themen,
die fraglos bedeutend sind, erst dann für erledigt zu halten,
wenn wir sie in Gesetzesform gegossen haben.
Im Übrigen -- diese Erfahrung werden viele von Ihnen teilen --
regeln Gesetze immer angenommene Durchschnittsfälle. Genau
diese Durchschnittsfälle kommen leider im richtigen Leben
nicht vor, sodass wir, kaum dass ein Gesetz die angenommenen
Durchschnittsfälle geregelt hat, über unsere
Sprechstunden oder über Petitionen mit den tatsächlichen
Fallkonstellationen konfrontiert werden und regelmäßig
mit der erstaunten, meist dann auch empörten Nachfrage, ob das
denn ernsthaft so gemeint gewesen sei. Die ehrliche Auskunft lautet
dann regelmäßig: natürlich nicht. Und schon beginnt
der Novellierungsprozess für das gerade abgeschlossene
Gesetzgebungsverfahren, das vielleicht besser von vornherein
unterblieben wäre.
(Heiterkeit und Beifall bei der CSU)
Das Nichtraucherschutzgesetz ist vermutlich nicht das letzte
auffällige Beispiel einer solchen langen Serie.
(Heiterkeit bei der CSU -- Franz Maget (SPD): Aber das
beliebteste!)
Niemand wird auf den Einfall kommen, ich hätte dabei
irgendjemanden ganz besonders im Auge; denn es ist zunächst
einmal im Deutschen Bundestag gegen meinen verzweifelten und nicht
ausreichenden Widerstand verabschiedet worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir in einer Gesellschaft, die
so verfasst ist, wie sie ist, nicht nur Parlamente, sondern auch
das Fernsehen haben und dass nicht nur in Parlamenten, sondern auch
im Fernsehen über Politik geredet wird,
(Engelbert Kupka (CSU): Zerredet!)
mag man je nach Betrachtungsweise als Bestätigung der
Verfallstheorie wahrnehmen oder auch nicht.
Die inzwischen hoffnungslos inflationären Fernsehtalkshows
sind jedenfalls nach meiner persönlichen Einschätzung
weder immer unterhaltsam noch in der Regel politisch
bedeutsam.
(Beifall bei der CSU -- Hans Spitzner (CSU): So ist es!)
Geredet wird dort immer viel, entschieden wird
regelmäßig nichts.
(Beifall des Abgeordneten Hans Spitzner (CSU))
Entschieden wird in den Parlamenten. Deswegen besteht für
Minderwertigkeitskomplexe überhaupt kein Anlass. Mein
besonderer Respekt gilt den Kolleginnen und Kollegen, die der
Versuchung, sich an diesen Unterhaltungssendungen zu beteiligen,
tapfer widerstehen.
(Beifall bei der CSU -- Manfred Ach (CSU): Sehr gut!)
Unsere Parlamente sind nicht immer so gut, wie sie sein
könnten. Sie sind nicht immer so selbstbewusst, wie sie
gelegentlich sein sollten. Sie sind aber allemal wichtiger und
einflussreicher als die meisten Sendungen und Sitzungen, die sich
größerer öffentlicher Aufmerksamkeit
erfreuen.
(Beifall bei Abgeordneten der CSU)
Bei aller Neigung und Begabung zur Selbstkritik fallen mir weder im
historischen noch im internationalen Vergleich mehr als eine
Handvoll Parlamente ein, die einen ähnlichen Einfluss auf die
Bildung und Kontrolle der Regierung, die Gesetzgebung und die
Bildung der öffentlichen politischen Meinung haben als die
Parlamente in Deutschland.
Ganz zum Schluss möchte ich eine Bemerkung zur jungen
Generation machen, an deren Interesse und Engagement für viele
wichtige, manchmal auch nicht ganz so wichtige Dinge kein
ernsthafter Zweifel erlaubt ist, bei der wir aber auch nicht
übersehen dürfen, dass das vorhin im Allgemeinen
festgestellte begrenzte Vertrauen gegenüber politischen
Institutionen und vor allem gegenüber den Parteien eine ganz
besonders starke Ausprägung findet. Attraktiv erscheinen
für junge Leute insbesondere Institutionen, die mit Politik
wenig und mit Parteien gar nichts zu tun haben. Das muss uns
nachdenklich stimmen. Denn es ist zweifellos keine Errungenschaft,
es ist aber auch kein Naturgesetz. Deswegen wäre es nicht nur
schön, sondern dringend nötig, dass mehr junge Leute als
heute die öffentlichen Angelegenheiten für ihre
Angelegenheiten halten. Über welche Themen wir auch immer
reden und gelegentlich entscheiden, ob es Themen des
Arbeitsmarktes, der Zukunft unserer sozialen Sicherung sind oder ob
es auch ein scheinbar so abstraktes Thema wie die Zukunft des
europäischen Verfassungsvertrages ist, wir verhandeln nicht
über abgehobene abstrakte öffentliche Angelegenheiten,
sondern wir verhandeln über die Zukunftsperspektiven von
lebenden Menschen. Niemand ist von diesen Zukunftsperspektiven mehr
und länger betroffen als die heute junge Generation.
Roman Herzog, unser früherer Bundespräsident, hat einmal
gesagt: Es gibt viele demokratische Tugenden, Bequemlichkeit
gehört nicht dazu. Das ist ein kluger Satz. Er gilt nicht nur
für das Verhältnis der Bürger zu ihrem Staat. Er
gilt auch für das Verhältnis der Politik gegenüber
der Gesellschaft. Er gilt im Übrigen auch für das
Verhältnis von Parlamenten gegenüber Regierungen. Die
erste demokratische Tugend ist Verantwortung, Verantwortung
für sich selbst und Mitverantwortung für das eigene Land.
Parlamente und Parlamentarier müssen diese Verantwortung
beispielhaft wahrnehmen. Das gelingt nicht immer, es gelingt auch
nicht immer gleich gut. Dass es aber in diesem Land, in diesem
Freistaat und in dieser Republik seit gut 60 Jahren eine für
deutsche historische Verhältnisse so beispiellos lange Zeit im
Ganzen mit einem so vorzeigbaren Erfolg gelungen ist, ist ein
Anlass, Dank und Respekt gegenüber all denjenigen zu sagen,
die dazu beigetragen haben und es hoffentlich auch in Zukunft
weiter tun werden. -- Herzlichen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit.
(Lang anhaltender allgemeiner Beifall)
Präsident Alois Glück: Herr Bundestagspräsident,
herzlichen Dank für diese Rede. Das war und ist eine gute
Stunde für den Bayerischen Landtag und für den
Parlamentarismus in Deutschland. Herzlichen Dank dafür.
Ich darf Sie nun bitten, sich in das Ehrenbuch des Bayerischen
Landtags einzutragen. Anschließend wird die Sitzung kurz
unterbrochen. Es geht dann mit den Ersten Lesungen
weiter.