Sehr geehrter Herr Dr. Görling,
Herr Professor Gramke,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,
die weitverbreitete, ebenso liebenswürdige wie leichtfertige
Neigung zu Übertreibungen kommt auch in der Ankündigung
zum Ausdruck, niemand sei für die Behandlung des für die
heutige Veranstaltung angekündigten Themas geeigneter oder gar
berufener als der Präsident des Deutschen Bundestages. Ich
kann das offen gestanden nicht erkennen. Ich bin weder
Wirtschaftswissenschaftler noch Unternehmer, auch nicht
Moralphilosoph, ich fühle mich bei diesem Thema
ausdrücklich nicht als Experte, sondern verfüge
hoffentlich gerade mal über das Maß an gesundem
Menschenverstand, das nach meiner Lebenserfahrung allerdings
für die Bewältigung der meisten fundamentalen
Herausforderungen einer Gesellschaft ebenso unverzichtbar wie
auskömmlich ist. Aber natürlich beteilige ich mich gerne
an einem Dialog, an einer möglichst breiten gesellschaftlichen
Auseinandersetzung mit einem Thema, das leider dringend geworden
ist, nachdem wir in den vergangenen Wochen und Monaten mit einer
bedrückenden Serie von Ereignissen und Vorgängen
konfrontiert waren, die nicht nur das Ansehen von konkreten
Persönlichkeiten, sondern die Reputation von Institutionen und
das Vertrauen in Systeme, in die politische und wirtschaftliche
Verfassung dieser Gesellschaft mehr als nur oberflächlich
tangiert haben.
Nun kann man natürlich mit den konkreten Fällen, die ich
hier nicht in Erinnerung rufen muss, sowohl in einer
dramatisierenden wie in einer banalisierenden Weise umgehen. Und
vermutlich stimmen wir sofort alle miteinander überein, dass
beides unangemessen wäre.
Der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Industrie,
Jürgen Thumann, hat vor wenigen Tagen in einem Interview
erklärt, er könne nicht bestreiten, "dass es derzeit eine
Negativserie gibt, aber aus meiner Sicht sind es Einzelfälle."
Er hat dann in dem gleichen Interview hinzugefügt:
"Offensichtlich stimmen bei einigen Managern die Grundwerte
einfach nicht mehr. Da geht sogar der Respekt für Menschen
verloren." Die zweite Bemerkung ist jedenfalls so markig, dass sie
bei der Wahrnehmung von wenigen Einzelfällen übertrieben
erscheinen müsste. Tatsächlich müssen wir uns nicht
mit der Frage quälen, in welchem statistischen Verhältnis
die Problemfälle zu den Normalfällen sich in unserer
Gesellschaft und in unserer Wirtschaft bewegen. Natürlich
reden wir nach wie vor über Ausnahmen von der Regel. Aber
zugleich reden wir über eine Situation, in der immer mehr
Menschen den Eindruck haben, dass die Ausnahmen immer häufiger
vorkommen und deswegen die Regel immer weniger stabil erscheint.
Dieser Befund ist nun allerdings ernsthaft genug, um eine
gründliche Befassung zu verdienen sowohl in der Wirtschaft wie
in der Politik. Der rapide Verlust von Ansehen und Vertrauen nicht
nur in Unternehmen oder Unternehmer, sondern in unsere
Wirtschaftsordnung, hat pünktlich zu den Feierlichkeiten zum
60jährigen Bestehen der Sozialen Marktwirtschaft zum ersten
Mal Daten erreicht, bei denen die Anzahl derjenigen, die Vertrauen
in die Soziale Marktwirtschaft haben und sie für ein
überlegenes Wirtschaftsmodell halten, nur noch die Minderheit
gegenüber den Skeptikern und den Zweiflern darstellt. Neu
daran ist, dass es sich hier nicht nur um ein historisch jedenfalls
verständliches, ausgeprägtes Misstrauen im östlichen
Teil Deutschlands handelt, sondern dass auch bei differenzierter
Zählung zum ersten Mal auch in Westdeutschland nur noch eine
Minderheit der Befragten ihre Zustimmung, ihr Vertrauen zu dieser
Wirtschaftsordnung artikuliert.
Die im gleichen Zusammenhang erhobenen Daten zu Themen wie
Einkommens- und Vermögensverteilung, Verteilungsgerechtigkeit,
Anspruch auf soziale Gerechtigkeit im allgemeinen führen in
der Gesamtbeurteilung fast zwangsläufig zu dem
generalisierenden Befund, den ich gerade vorgetragen habe. Nur noch
ein gutes Drittel der deutschen Bevölkerung ist im
Jubiläumsjahr 2008 von den Vorzügen der Sozialen
Marktwirtschaft überzeugt. Die Dramatik des Befundes wird
besonders deutlich, wenn jeder für sich die Frage beantwortet,
für wie glaubwürdig er eine solche Auskunft vor zehn
Jahren gehalten hätte.
Ich werde zum angekündigten Thema "Moral in der Wirtschaft"
nun keinen Vortrag halten, schon gar keinen Festvortrag, zumal sich
das Thema für einen solchen auch besonders wenig eignet,
sondern ich habe mir vorgenommen, ein paar Anmerkungen im Umfeld
dieses Themas zu machen, die sich mit Zusammenhängen
beschäftigen, in denen man wohl das Problem verorten und
mögliche Lösungen suchen muss. Da geht es um das
Verhältnis von Ordnung und Moral, von Demokratie und Markt,
von Gleichheit und Ungleichheit in einer Gesellschaft, von
Ansprüchen und Erwartungen, es geht um Gerechtigkeit und es
geht um Gemeinwohl, es geht um ein längst gründlich
verändertes Verhältnis von Kapital und Arbeit, es geht um
ein - wie mir scheint - auch zunehmend anderes Verhältnis von
Unternehmen und Unternehmern und es geht schließlich im Saldo
um das Verhältnis von Vertrauen und Misstrauen, das es in
unserer Gesellschaft gegenüber Menschen und Institutionen
gibt.
Ich will mit den beiden Begriffen Ordnung und Moral bzw. Demokratie
und Markt beginnen. An den Anfang meiner Hinweise stelle ich ein
Zitat von Jürgen Habermas, der heute seinen 79. Geburtstag
feiert und nicht nur deswegen besondere Erwähnung verdient. In
seiner berühmten "Theorie des kommunikativen Handelns", einem
seiner philosophischen Standardwerke, hat Jürgen Habermas
geschrieben: "Zwischen Kapitalismus und Demokratie besteht ein
unauflösliches Spannungsverhältnis; mit beiden
konkurrieren nämlich zwei entgegengesetzte Prinzipien der
gesellschaftlichen Integration um den Vorrang." Allein mit dieser
These könnte man sich jetzt mühelos den Rest des
Vormittages auseinandersetzen. Ich will mich mit zwei knappen
Anmerkungen begnügen, zumal wir ja auch anschließend
diskutieren wollen. Ich glaube, dass diese Beobachtung
natürlich nicht frei erfunden, im Kern gleichwohl unzutreffend
ist. Ich glaube, dass auch und gerade bei sorgfältiger und
kritischer Betrachtung der Gemeinsamkeiten und der Unterschiede
zwischen einer wettbewerbsgesteuerten Wirtschaftsordnung auf der
einen Seite und einer demokratischen politischen Ordnung einer
Gesellschaft auf der anderen Seite ihre Gemeinsamkeiten relevanter
sind als die Unterschiede. Beiden Systemen, der Wirtschaftsordnung
Markt und der politischen Ordnung Demokratie, liegt das gleiche
Strukturprinzip zugrunde, nämlich im Wettbewerb Ergebnisse
zustande kommen zu lassen, nach nicht identischen, aber eben
strukturell ähnlichen Verfahren.
Wir machen nicht erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts die
gelegentlich ernüchternde Erfahrung, dass auch in stabilen
demokratischen Systemen Fehlentwicklungen und Fehlleistungen
möglich sind und dass sie auch in höchsten Rängen
von Politik und Wirtschaft stattfinden können. Aber wir
sollten mit dem notwendigen richtigen Hinweis auf diese
Möglichkeit nicht den Blick auf die Erfahrung verstellen, dass
unter den bisher bekannten politischen wie ökonomischen
Systemen es keine ausgewiesenen Alternativen gibt, die schneller
und wirkungsvoller stattgefundene Fehlentwicklungen und
Fehlleistungen als solche offenbaren und Veränderungen
erzwingen. Diese Fähigkeit, Transparenz zu erzwingen,
Fehlentwicklungen zu identifizieren, Irrtümer zu korrigieren
und falsche Entwicklungen abzustellen, ist keinesfalls ein
zweitrangiges Merkmal für die tatsächliche
Leistungsfähigkeit von Ordnungssystemen.
Der Umgang mit moralischen Ansprüchen gegenüber
kodifizierten Systemen ist eine besonders delikate Herausforderung.
Ich bin, wie Oswald von Nell-Breuning, der nicht als bedeutender
Unternehmer, sondern als bedeutender Sozialethiker in die
Nachkriegsgeschichte eingegangen ist, der Überzeugung, dass
man diejenigen politischen und ökonomischen Systeme allen
anderen Varianten vorziehen sollte, die die geringsten
Ansprüche an die individuelle Moral stellen. Diese auf den
ersten Blick verblüffende Auskunft, die man selbst auf den
zweiten Blick für einen Anflug von Zynismus halten
könnte, ist bei genauerem Hinsehen sehr gut durchdacht. Ein
System, ob in der Wirtschaft oder in der Politik, das nur dann
funktioniert, wenn alle Beteiligten mit hohen moralischen
Ansprüchen an ihr eigenes Verhalten und insbesondere
natürlich an das Verhalten anderer zu Rande kommt, kommt in
der Regel überhaupt nicht zu Rande. Denn es zahlt Prämien
auf diejenigen, die sich diesem erwarteten Moralkodex nicht beugen
und nur den eigenen Vorteil verfolgen. Deswegen will ich
ausdrücklich unter Betonung der Ernsthaftigkeit des Problems,
das ich nicht für ein marginales und schon gar nicht für
ein banales halte, gleich zu Beginn meine ausdrückliche
Skepsis gegenüber gesetzlichen Regelungen zu Protokoll geben.
Eine Gesellschaft, die moralische Ansprüche kodifizieren muss,
die in gesetzliche Verpflichtungen umsetzen muss, was sie an
sozialem Verhalten von ihren Mitgliedern erwartet, hat die Schlacht
schon verloren, die auf dem Feld der Gesetzgebung gar nicht
gewonnen werden kann.
Vielleicht kann ich in diesem Zusammenhang mit einem anderen Zitat
weiterhelfen, das von Joseph Kardinal Ratzinger stammt, dem
heutigen Papst: "Eine Moral, die [...] die Sachkenntnis der
Wirtschaftsgesetze überspringen zu können meint, ist
nicht Moral, sondern Moralismus, also das Gegenteil von Moral."
Gleichwohl haben wir Anlass darüber nachzudenken, ob in
unserem Wirtschafts- wie in unserem politischen System, die beide
aus guten Gründen so verfasst sind wie beschrieben, das
Maß auch und gerade an moralischen Standards, an
Verhaltensmustern gesichert ist, verlässlich unterstellt
werden kann, ein Maß, ohne das Verfassungsinstitutionen wie
Wirtschaftsunternehmen zwar nicht notwendigerweise ihre
Funktionsfähigkeit, ganz sicher aber ihre Glaubwürdigkeit
riskieren. Deswegen möchte ich ein paar Bemerkungen machen zum
Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit als zwei nun
tatsächlich sich besonders heftig im Wege stehenden
Orientierungen nicht nur, aber insbesondere moderner
Gesellschaften, die sich normativ durch den Gleichheitsgrundsatz
und statistisch durch ein eher wachsendes Maß an Ungleichheit
auszeichnen. Wie gehen Gesellschaften damit um, dass sie das
Prinzip der Gleichheit aller Menschen als Verfassungsprinzip wie
eine Fahne vor sich hertragen und gleichzeitig im täglichen
Leben, in den tatsächlichen Lebensverhältnissen der
Menschen ein immer höheres Maß an tatsächlicher
Ungleichheit, wenn schon nicht bewirken, so doch zumindest
tolerieren? Ich persönlich glaube nicht, dass es ein
generelles Bedürfnis nach Gleichheit der tatsächlichen
Lebensverhältnisse gibt. Anders formuliert, ich habe den
Eindruck, dass die allermeisten Menschen mit dieser gerade
erwähnten statistischen Ungleichheit relativ gut zurande
kommen. Ungleichheit ist eine der größten Vorzüge
der Schöpfung. Die Menschheit befände sich in einer
völlig anderen Verfassung, wenn es Ungleichheit mit ihren
stimulierenden Wirkungen einschließlich der
Frustrationserfahrungen nicht gäbe. Ungleichheit wird aber
immer dann ein Problem, wenn es keinen plausiblen Zusammenhang mehr
gibt zwischen individueller Leistung und individuellem Einkommen,
meinetwegen auch Exklusivität eines Angebots oder einer
Leistung und damit verbundenem Einkommen oder Vermögen,
sondern wenn der Eindruck entsteht, dass selbst bei verweigerter
Leistung oder bei nachgewiesenen Fehlleistungen die Bezahlungen
oder Abfindungen besonders üppig ausfallen.
Meine Damen und Herren, ich rede nicht über eine theoretische
Fallkonstellation. Ich rede jetzt über die Lebenswirklichkeit.
Nach jüngeren verfügbaren Statistiken erhalten die 128
Vorstände Deutscher Aktiengesellschaften mehr als eine Million
Euro im Jahr. Die Chefs der 30 DAX-Konzerne verdienten im Jahr 2006
nach einer Untersuchung der Deutschen Schutzvereinigung für
Wertpapierbesitz durchschnittlich 3,42 Millionen Euro. Ist das ein
Problem? Ich glaube nicht. Gibt es deshalb kein Problem? Doch, es
gibt eins. Das Problem sind die zunehmend aus dem Lot geratenen
Proportionen. Das Verhältnis der Vorstandsgehälter zu den
Einkommen der übrigen Beschäftigten desselben
Unternehmens hat sich in einer erstaunlichen Weise
verselbständigt. In den 70er Jahren erhielt der
Vorstandsvorsitzende eines Großkonzerns rund 25- bis 30-mal
so viel Gehalt wie ein Arbeiter seines Unternehmens. In den 80ern
war es rund 40-mal so viel, 1990 war es 100-mal so viel, im Jahr
2001 schließlich 350-mal so viel. Ich rede über
Durchschnitte. In den Vereinigten Staaten, damit wir wenigstens den
leisen Trost haben, anderswo sei es ja noch extremer, bekam der
Vorstandsvorsitzende von Wal Mart 2005 mit 17,5 Millionen Dollar
rund 900-mal so viel wie das Durchschnittseinkommen der
Beschäftigten seines Unternehmens. Selbst als
leidenschaftlicher Anhänger der Unverzichtbarkeit von
Ungleichheit finde ich für diese Relationen keine
überzeugende Begründung. Alles spricht für die
Vermutung, dass die haushohe Mehrheit aller real existierenden
Gesellschaften für solche Relationen keine nachvollziehbare
Begründung findet. Was übrigens unter den Bedingungen
einer demokratisch verfassten Gesellschaft hinreichend
einschlägige Folgen hat. Für die Einschätzung der
Angemessenheit von Relationen ist nämlich nicht das
Selbstbewusstsein der Vorstandsmitglieder maßgeblich, sondern
die Mehrheitsverhältnisse in der Wählerschaft. Und
deswegen kann ich uns nur wechselseitig dringlichst empfehlen, die
Erosionen ernst zu nehmen, die längst stattfinden. Und wenn
ich jetzt nach den vorhin vorgetragenen Zahlen über die
Reputation der Wirtschaftsordnung die Daten zum politischen System
vortragen müsste, wären sie ja nur marginal besser. Die
Bereitschaft, die Demokratie als bessere gegenüber denkbaren
Alternativen zu akzeptieren, ist immer noch gerade so die
Mehrheitsmeinung. Ein stolzer Befund. Aber die Minderheit, die auch
das schon nicht mehr gelten lässt, wächst bedrohlich. Und
zur Ergänzung des Befundes: Die Verteilung von Einkommen und
Vermögen empfinden in Deutschland 73 Prozent der
Bevölkerung als ungerecht. So hoch war der Anteil nie. Noch
bei einer vergleichbaren Untersuchung vor gerade mal einem Jahr
waren es 56 Prozent, die an dieser Stelle Vorbehalte gegenüber
der Gerechtigkeit der Verteilungsrelationen angemeldet haben. Und
was vielleicht noch aufschlussreicher ist: differenziert man die
Skepsis der Befragten nach Parteipräferenzen, dann wird Sie
nicht gänzlich überraschen, dass 91 Prozent der
Anhänger der Linkspartei die Einkommens- und
Vermögensverteilung in Deutschland als ungerecht empfinden.
Bei der SPD sind es 76 Prozent, bei den Grünen-Wählern 75
Prozent, bei den Wählern der Union 66 Prozent und bei den
Wählern der FDP 65 Prozent. Klartext: Bei den Wählerinnen
und Wählern aller im Deutschen Bundestag vertretenen
politischen Parteien beträgt die Einschätzung, wir haben
es mit einer ungerechten Einkommens- und Vermögensverteilung
in Deutschland zu tun, mindestens zwei Drittel. Mal nur
nachrichtlich in Klammern: virtuell ist das eine
verfassungsändernde Mehrheit.
Ich glaube, dieser Vertrauensverlust hat viel zu tun mit der
grundlegenden Veränderung, die in den vergangenen drei, vier
Jahrzehnten in Zeiten der Globalisierung im Verhältnis der
beiden Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital eingetreten ist. Seit
Anfang der 70er Jahre, also seit fast vier Jahrzehnten, gibt es
einen völlig eindeutigen statistischen Trend, dass die
Wertschöpfung in unserer Volkswirtschaft, übrigens in
allen anderen entwickelten Volkswirtschaften in einer sehr
ähnlichen Weise, nicht mehr durch zusätzlichen
Arbeitseinsatz zustande kommt, sondern durch die Verbindung von
Kapitaleinsatz und Technologie, von Kapital und Wissen. Der Anteil
der Arbeit an der Wertschöpfung moderner Volkswirtschaften
befindet sich seit Jahrzehnten im Sinkflug. Und wir machen auch
seit Jahren die eher schwierige Erfahrung, dass weder Arbeit
verlässlich Wachstum schafft, noch Wachstum sicher Arbeit. Und
wenn Sie sich den Zuwachs des Volksvermögens seit den 70er
Jahren betrachten, dann machen Sie den ganz
unmissverständlichen Befund, dass dieser Zuwachs ganz
überwiegend auf Unternehmensgewinne und Kapitalerträge
entfällt, während der Anteil der Arbeitseinkommen
stagniert.
Nun müssen Sie mir nicht erklären, warum das so ist. Ich
begreife das schon. Ich will nur darauf aufmerksam machen, das dies
keine sich selbst erläuternde Entwicklung ist, die zu einer
unaufhaltsamen Sympathiewelle für ein so verfasstes
Wirtschaftssystem beiträgt. Und dass die Wirtschaft wie die
Politik trotz einer relativ frühen Erkenntnis über diesen
Zusammenhang nun seit Jahrzehnten das Thema einer
überzeugenden Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital
immer wieder vertagt hat, gehört zu den strategischen
Fehlentwicklungen unseres Landes in einer im Ganzen eindrucksvollen
60-jährigen Geschichte. Zumal ja bei den gegebenen
Rahmenbedingungen national und global fast nichts für die
Vermutung spricht, dass sich diese Relationen in den nächsten
Jahren in der gewohnten, vertrauten und viel sympathischeren Weise
wieder zugunsten von Arbeitseinkommen korrigieren könnte.
Ich hatte darauf hingewiesen, dass nach meinem Eindruck sich auch
das Verhältnis von Unternehmen und Unternehmern in einer
bemerkenswerten Weise verändert, naturgemäß viel
stärker in den größeren als in den kleineren und
mittleren Unternehmen. Aber der Typus des persönlich und mit
seinem Vermögen haftenden Unternehmers wird immer mehr zur
seltenen Ausnahme, und der Typus des smarten Managers, der die
Rentabilitätsinteressen des jeweiligen Unternehmens
befördert, dominiert die Szene. Das ist mehr als eine
marginale Veränderung der Rahmenbedingungen, zumal der zweite
Typus von Unternehmer aus wiederum naheliegenden, um nicht zu sagen
zwingenden Gründen ein ganz anderes Verhältnis zu seinem
Unternehmen hat, mit dem ihn zunächst nicht mehr als ein
Fünf-Jahres-Vertrag verbindet, übrigens bei statistisch
auch nachweisbar immer kürzeren tatsächlichen
Verweildauern im jeweiligen Unternehmen. Den Manager verbindet in
der Regel - platt gesprochen - fast nichts mit dem Produkt des
jeweiligen Unternehmens. Er hat ein vitales Interesse an den
Bilanzen, die auch in immer kürzeren Fristen auf
internationalen Kapitalmärkten Gegenstand intensiver
Besichtigungen sind.
Wie soll man den Arbeitnehmern erklären, dass ihr Arbeitsplatz
nicht gehalten werden kann, wenn weder das Produkt, das sie
anbieten, am Ende seines Lebenszyklus angekommen ist, noch die
Firma, die dieses Produkt herstellt, weder einen signifikanten
Einbruch des eigenen Marktanteils hinnehmen muss noch eine negative
Veränderung von Umsätzen oder Erträgen, wenn ganz im
Gegenteil die Bilanz genau dieses betroffenen Unternehmens
steigende Marktanteile, steigende Umsätze, Rekordgewinne
ausweist und pro Beschäftigten des betroffenen Standortes
einen Millionengewinn? Wie soll die Politik, bei der die Probleme
dann regelmäßig abgeladen werden, wie soll die Politik
den Arbeitnehmern erklären, dass ihr Arbeitsplatz leider nicht
zu retten sei? Außer mit dem allerdings zutreffenden
Argument, dass sich die Rentabilitätsinteressen in Zeiten der
Globalisierung in der Weise verselbständigt haben, dass die
Prioritäten ein für allemal in dieser Reihenfolge
zementiert sind. Wenn dies aber die ehrliche und einzige Botschaft
ist, dann möchte ich die nächsten Umfragen über das
Ansehen von Marktwirtschaft am liebsten gar nicht mehr lesen.
Das heißt, ich empfehle uns dringend, uns mit
Wirkungszusammenhängen auseinanderzusetzen, die zwischen der
betriebswirtschaftlichen Rationalität vieler Entscheidungen,
die ich nicht bestreite, und den ungewollten politischen Wirkungen
eine zunehmend größere Diskrepanz entstehen lässt,
die am Ende die Aufrechterhaltung der Ordnung gefährdet, in
der überhaupt solche Zusammenhänge im wörtlichen und
übertragenen Sinne "gemanagt" werden können. Ich verkenne
nicht, dass es sowohl in vielen Unternehmen wie in den
Verbänden eine Reihe von bemerkenswerten Bemühungen gibt,
diesem Problem, diesen Entwicklungen zu Leibe zu rücken. Dazu
gehört ganz sicher auch der Versuch, über einen
"Corporate Governance Kodex" unterhalb von gesetzlichen Regelungen
Ansprüche zu formulieren, von denen man - mit gesundem
Menschenverstand - vermuten könnte, dass sie der
Glaubwürdigkeit und damit der Akzeptanz von Unternehmen und
von Systemen behilflich sind. Aber Sie können genauso wenig
wie ich übersehen haben, dass die Popularität dieses
Kodexes in der deutschen Wirtschaft an den Stellen am
ausgeprägtesten war, an denen die sich daraus hergeleiteten
Verpflichtungen am wenigsten belastbar war und umgekehrt die
Zögerlichkeit bzw. Verweigerung prompt an den Stellen am
ausgeprägtesten war, wo es handfest wurde: Offenlegung der
individuellen Gehälter, Haftungsregelungen für Manager,
Abfindungsregelungen. Meine Damen und Herren, da bleibt noch
manches zu tun.
Ich hatte gestern Mittag - pünktlich zur Erinnerung an meinen
heutigen Auftritt - in meiner Post den Brief eines internationalen
Management Consultant Unternehmens, der nach der Anrede mit dem
Satz beginnt: "All companies sell just one basic product - trust."
Vielleicht besteht unser Problem in der Wirtschaft wie in der
Politik im Augenblick darin, dass immer mehr Unternehmen, immer
mehr Institutionen beim Sortieren ihrer ständig neuen Angebote
dieses "basic product" vernachlässigen, jedenfalls immer
seltener im Schaufenster haben: Vertrauen.
Für andere Systeme mag gelten, dass sie jedenfalls über
eine gewisse Zeit auch ohne Vertrauen funktionieren. Für
Demokratie und Wettbewerbssysteme gilt das genaue Gegenteil. Sie
haben so lange Bestand, wie eine stabile Mehrheit der in der Regel
nicht unmittelbar beteiligten Menschen den Eindruck haben, dass es
im Großen und Ganzen fair und gerecht zugeht. Und wenn sie
diesen Eindruck verlieren, warum auch immer, dann kann man die
Eieruhr stellen. Und deswegen bin ich den Veranstaltern
außerordentlich dankbar, dass sie sich die wenig
gemütliche Aufgabe gestellt haben, dieses Forum mit einem
solchen Thema zu belasten, das allerdings mehr als manche andere
Tagesfragen eine intensive Beschäftigung verdient.