Samstag, 6. September 2008, Museum Koenig, Bonn
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! Herr Präsident
des Bundesverfassungsgerichts! Meine Damen und Herren Minister!
Frau Oberbürgermeisterin! Liebe aktive und ehemalige
Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten Europas, des Bundes
und der Länder! Verehrter, lieber Herr Professor Grosser!
Verehrte Gäste!
Als am 1. September 1948 in Bonn die 65 von den Landtagen der
elf Bundesländer gewählten Mitglieder des
Parlamentarischen Rates zusammentraten, 61 Männer und 4
Frauen, um dem nicht souveränen, unter der Kontrolle
alliierter Besatzungsmächte stehenden westlichen Teil
Deutschlands eine gemeinsame vorläufige Verfassung zu geben,
wurde in einer kaum vorhersehbaren, nachhaltigen Weise die
Grundlage der Bundesrepublik Deutschland gelegt, deren 60.
Geburtstag wir im nächsten Jahr begehen können.
Wir beginnen mit dieser Arbeit in der Absicht und mit dem festen
Willen, einen Bau zu errichten, der am Ende ein gutes Haus für
alle Deutschen werden soll.
So hat der damalige Ministerpräsident von
Nordrhein-Westfalen, Karl Arnold, in seiner
Eröffnungsansprache die Erwartungen an die Arbeit dieses
Gremiums formuliert. Diese Eröffnungsveranstaltung als Festakt
hat genau hier stattgefunden, im Museum Koenig. Es gibt
großzügigere Räumlichkeiten in Bonn, um eine solche
Festveranstaltung durchzuführen. Aber dieser Ort ist
authentisch. Damals waren die großen Tiere übrigens mit
großen, weißen Tüchern verhängt, jedenfalls
soweit es sich um ausgestopfte große Tiere gehandelt hat.
Dass wir diese Verkleidung heute beseitigt haben, soll den Zuwachs
an Transparenz und Liberalität demonstrieren, den dieses Land
in den inzwischen 60 Jahren gewonnen hat.
Heute wissen wir, dass mit der Konstituierung des
Parlamentarischen Rates gleich drei präjudizierende
Entscheidungen verbunden waren: für einen Standort, für
eine Persönlichkeit und für ein Konzept. Die
Entscheidungen für Bonn als Standort, für Konrad Adenauer
als Präsidenten des Parlamentarischen Rates und späteren
ersten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland und für die
parlamentarische Demokratie des Grundgesetzes haben die zweite
Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentlich geprägt. Das
Grundgesetz hat eine in der deutschen Verfassungsgeschichte
beispiellose Überzeugungskraft entwickelt, in deren Rahmen
schließlich die Wiederherstellung der deutschen Einheit
möglich geworden ist.
Die Anfänge waren durchaus bescheiden, sehr viel
bescheidener als die allermeisten, die in diesem Lande unter dieser
Verfassung groß geworden sind, heute für möglich
halten. Nachdem die Anfrage, ob sie sich zu einer Unterbringung des
Parlamentarischen Rates in der Lage sähen, sowohl in Köln
wie auch in Düsseldorf auf ein - vorsichtig formuliert -
begrenztes Interesse gestoßen war, hat sich
dankenswerterweise die vergleichsweise kleine Stadt Bonn am Rhein
zur Aufnahme des Parlamentarischen Rates bereiterklärt. Damals
gab es im Bonner Zimmernachweis im Herbst 1948, in dem bei den
Bürgern der Stadt Bonn um Quartier für Mitglieder des
Parlamentarischen Rates geworben wurde, einen weißen, mit
Schreibmaschine geschriebenen Zettel mit folgendem dezentem
Hinweis:
Für die Dauer der Aufnahme Ihres Gastes stehen Ihnen pro
Monat zusätzlich 10 cbm Gas, 10 kWh Strom sowie 90 g
Kaffee-Ersatz, 600 g Seifenpulver und 150 g Waschzusatzmittel zur
Verfügung.
Nicht nur deshalb, Frau Oberbürgermeisterin, wird die
Bundesrepublik Deutschland Ihre Stadt, diese Stadt, immer in ganz
besonderer Erinnerung behalten.
(Beifall)
Es waren damals aber nicht nur die ökonomischen Bedingungen
bescheiden. Für die politischen Perspektiven galt das in einer
sehr ähnlichen Weise. In seiner Antrittsrede als
Präsident des Parlamentarischen Rates hat Konrad Adenauer
damals erklärt:
Für jeden von uns war es eine schwere Entscheidung, ob er
sich bei dem heutigen Zustand Deutschlands ... zur Mitarbeit zur
Verfügung stellen ... sollte. Ich glaube, ... eine richtige
Entscheidung auf diese Frage kann man nur dann finden, wenn man
sich klar macht, was denn sein würde, ... wenn dieser Rat
nicht ins Leben träte. ... Welche Ergebnisse unsere Arbeit
für ganz Deutschland haben wird, das hängt von Faktoren
ab, auf die wir nicht einwirken können. Trotzdem wollen wir
die historische Aufgabe, die uns gestellt ist ..., unter Gottes
Schutz mit dem ganzen Ernst und mit dem ganzen Pflichtgefühl
zu lösen versuchen, die die Größe dieser Aufgabe
von uns verlangt.
Ob, in welchem Umfang und wie das gelungen ist, dazu wird uns
ganz gewiss Professor Grosser in seiner Festrede einige
zusätzliche Aufschlüsse vermitteln. Wir haben ihn schon
bei ähnlichen Gelegenheiten um seine Mitwirkung gebeten, weil
wir den Blick eines mit Deutschland und seiner Geschichte im 20.
Jahrhundert glänzend vertrauten Nachbarn und guten Freundes
sehr zu schätzen wissen und insbesondere seine mehrfach
demonstrierte besondere Begabung, auch unangenehme Einsichten mit
geradezu unwiderstehlichem französischem Charme vorzutragen.
Herzlich willkommen, Herr Professor Grosser!
(Beifall)
Das Grundgesetz, meine Damen und Herren, ist die freiheitlichste
Verfassung, die Deutschland in seiner Geschichte je hatte. Es ist
das wichtigste Dokument unseres demokratischen
Selbstverständnisses geworden. Dass dies heute so ist und
gänzlich unbestritten so ist, war keineswegs abzusehen, als
der Parlamentarische Rat das Grundgesetz verabschiedete, und es war
schon gar nicht selbstverständlich. Immerhin
äußerten im März 1949 40 Prozent der
Deutschen, ihnen sei die zukünftige westdeutsche Verfassung
schlicht gleichgültig. Noch fünf Jahre nach seiner
Verkündung kannten mehr als die Hälfte der Deutschen das
Grundgesetz überhaupt nicht. Zeitungen wie die Deutsche
Rundschau schrieben damals ebenso irritiert wie besorgt:
Heute ist Deutschland etwas sehr Unglückliches. Es ist so
komisch und so tragisch wie das Deutschland von Weimar: eine
Demokratie ohne Demokraten.
Dass es ganz anders gekommen ist, hat neben vielen weiteren
Gründen vor allem mit dem Grundgesetz zu tun. Es steht
für den Schutz der individuellen Freiheitsrechte, die
Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger in einer
pluralistisch und repräsentativ verfassten parlamentarischen
Demokratie und für die Verhinderung einer
verselbstständigten Staatsgewalt. Einer der herausragenden
Väter des Grundgesetzes, Carlo Schmid, sagte damals:
Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass es nicht zum
Begriff der Demokratie gehört, dass sie selber die
Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft.
Dieser ausdrückliche Wunsch nach einer selbstbewussten und
abwehrbereiten Demokratie begründete sich aus der
Doppelerfahrung des Scheiterns der Weimarer Republik und der
nationalsozialistischen Diktatur. Wesentliche Teile des
Grundgesetzes sind deshalb durch die sogenannte "Ewigkeitsklausel"
gegenüber jeder substanziellen Veränderung
geschützt. Die Grundrechte, die nach der Weimarer
Reichsverfassung nur "nach Maßgabe der Gesetze" galten, sind
im Grundgesetz unmittelbar geltendes, gerichtlich durchsetzbares
Recht und damit verbindliche Orientierung für die
Gesetzgebung. Auch die Einrichtung des Bundesverfassungsgerichts,
das heute als Hüter der Verfassung in allen Umfragen das
höchste Vertrauen unter allen Verfassungsorganen bei den
Bundesbürgern genießt, gehört zu den
glücklichen Initiativen des Parlamentarischen Rates und seiner
neunmonatigen Beratungen seit Anfang September 1948 und zu den
beispielhaften Regelungen des Grundgesetzes, die auch international
hohes Ansehen und große Anerkennung gefunden haben.
Ich freue mich deshalb über die Anwesenheit des
Präsidenten und früherer Präsidenten des
Bundesverfassungsgerichts und seiner Mitglieder und auf die
anschließende Diskussion, die sich mit der Wirkungsgeschichte
des Grundgesetzes im Zeitablauf dieser sechs Jahrzehnte unter der
Moderation von Robert Leicht auseinandersetzen soll.
Ein wesentlicher Grund für die Funktionalität wie die
Reputation des Grundgesetzes ist gewiss auch seine Fähigkeit
zur Anpassung an veränderte Aufgabenstellungen, auch an
veränderte Verfassungswirklichkeiten, ohne sich dabei im
Wesensgehalt verändert zu haben. Konrad Adenauer soll noch in
der Schlussberatung des Parlamentarischen Rates neue Anträge
und Änderungswünsche mit dem Argument erfolgreich
gestoppt haben, der Parlamentarische Rat solle nur das Grundgesetz
und nicht die Zehn Gebote beschließen. Tatsächlich ist
das Grundgesetz weder so kurz noch so unveränderlich wie die
Zehn Gebote. Es hat in 60 Jahren manche Änderungen und
Ergänzungen erfahren, von denen manche unvermeidlich, einige
vielleicht unnötig waren, alle sicher gut gemeint, aber nicht
alle gleich gut gelungen.
Am 1. Juli 1948 hatten die Westalliierten den elf
Ministerpräsidenten der westdeutschen Besatzungszonen den
Auftrag erteilt, bis zum 1. September 1948 eine Verfassunggebende
Versammlung einzuberufen, mit der Maßgabe, sie solle "eine
demokratische Verfassung ausarbeiten, die für die beteiligten
Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs
schafft, die am besten geeignet ist, die gegenwärtige
zerrissene deutsche Einheit schließlich wieder herzustellen,
und die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine
angemessene Zentralinstanz schafft und die Garantien der
individuellen Rechte und Freiheiten enthält."
So war die Vorgabe. Das zumindest scheint gelungen,
übrigens innerhalb von 265 Tagen. Die Föderalismusreform
dauert länger. Sie ist wohl entschieden schwieriger.
Das ursprünglich als Provisorium gedachte Grundgesetz ist
heute die unangefochtene Grundlage der politischen Verfassung
unseres Landes. Das Grundgesetz ist auch und gerade deshalb im
wörtlichen und übertragenen Sinne das "Grund-Gesetz"
geworden, weil es in Grundrechten und Verfahrensregeln das konkret
formuliert, was im Allgemeinen gelegentlich bezweifelt oder gar
bestritten wird: die freiheitlich-demokratische Leitkultur, die
sich in unserem Land über manche Umwege und Irrwege entwickelt
und längst als unbestrittene Grundlage der politischen
Verfassung unseres Landes durchgesetzt hat.
Deshalb ist der 60. Jahrestag der Konstituierung des
Parlamentarischen Rates ein willkommener Anlass, die Männer
und Frauen zu würdigen, die diese Arbeit geleistet und ein
Werk hinterlassen haben, dessen Bedeutung und Nachhaltigkeit
vermutlich auch über die Erwartungen der unmittelbar
Beteiligten deutlich hinausweist: die Verfassung der Bundesrepublik
Deutschland, die manchen Besorgnissen zum Trotz zur Grundlage einer
gefestigten Demokratie in Einheit und Freiheit geworden ist.
(Beifall)