Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Gäste!
Sehr geehrte Frau Schwan!
Der 17. Juni ist nicht irgendein Tag im Jahreskalender,
sondern ein herausragendes Datum der deutschen Freiheits- und
Einheitsgeschichte. Heute, auf den Tag genau vor 200 Jahren, am
17. Juni 1810, wurde Ferdinand Freiligrath geboren, neben
Heinrich Heine und Georg Herwegh der wohl populärste
deutschsprachige Lyriker zur Mitte des 19. Jahrhunderts.
Freiligrath begann seine Karriere als freier Schriftsteller. Auf
Empfehlung Alexander von Humboldts erhielt er 1842 ein Stipendium
vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. Nachdem
er begann, politische Gedichte zu schreiben, verzichtete er schon
nach zwei Jahren auf den königlichen Ehrensold und auf eine
mögliche Anstellung am Hof von Weimar, verließ wegen der
Gefahr polizeilicher Verfolgung Deutschland und siedelte 1845 nach
Brüssel über, wo er Karl Marx begegnete. Aus der sicheren
Schweiz heraus begrüßte er die 1848er‑Revolution
in Deutschland, wollte anders als Herwegh aber keine Freischar
bilden. Zitat:
Ich bin nicht zum General geboren, ich will nur ein Trompeter
der Revolution sein.
Trotzdem kehrte er nach Deutschland zurück, schrieb Verse
wie:
Pulver ist schwarz,
Blut ist roth,
Golden flackert die Flamme.
Er wurde wegen Anstiftung zum Hochverrat verhaftet, aber am
3. Oktober 1848 unter dem Jubel der aufgeregten Menschenmenge
in Düsseldorf von den Geschworenen freigesprochen. Freiligrath
wurde Mitglied im Bund der Kommunisten und war für kurze Zeit
auch Mitherausgeber der Neuen Rheinischen Zeitung von Marx
und Engels.
Nach der gescheiterten Revolution verebbte Freiligraths
Begeisterung für Klassenkampf und Proletariat. Er siedelte
nach London über, wo er ausgerechnet für eine Schweizer
Bank arbeitete, die obendrein einige Zeit später
zusammenbrach.
(Heiterkeit)
Wieder zurück in Deutschland, schloss er sich der
nationalen Begeisterungswelle an und antwortete auf die
französische Kriegserklärung 1870 mit einem "Hurrah
Germania!".
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, den
berühmt-berüchtigten Hurra-Patriotismus haben wir nach
den Erfahrungen der jüngeren deutschen Geschichte längst
hinter uns gelassen. Heute vor 20 Jahren, am 17. Juni 1990,
kamen Abgeordnete des Deutschen Bundestages und der frei
gewählten Volkskammer zusammen, um gemeinsam des
Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 in der DDR zu gedenken.
Damals, fast 40 Jahre nach dem Volksaufstand, begannen sich die
Wünsche und Forderungen derer zu erfüllen, die 1953 auf
die Straße gegangen waren und deren Hoffnungen damals
gewaltsam niedergeschlagen wurden. Es erfüllten sich damit
auch die Hoffnungen derer, die 1848 auf die Straße gegangen
waren, nämlich Freiheit und Demokratie für ganz
Deutschland.
Ausgelöst durch eine Normerhöhung, machte sich die
aufgestaute Wut in der Bevölkerung Luft. In einem spontanen
und sich rasant ausbreitenden Aufstand erhoben sich ‑
nicht nur, aber vor allem ‑ Arbeiter und Bauern gegen
die Partei, die sich selbst Arbeiter- und Bauernpartei nannte. Aus
der Sicht des Regimes stand fortan der größte Feind im
eigenen Land: das Volk selbst.
Der 17. Juni 1953 ist ein Schlüsselereignis der
deutschen und der europäischen Nachkriegsgeschichte.
"Deutschland und der Westen sind an diesem Tage zum ersten Mal seit
150 Jahren nicht Gegner gewesen, sondern Verbündete",
kommentierte die BBC acht Jahre nach dem Ende des Zweiten
Weltkrieges, und auf den Pariser Boulevards lösten die
Ereignisse in der DDR spontane Solidaritätsbekundungen aus.
Der Volksaufstand gegen die kommunistische Herrschaft in der DDR
war damals eine gesamtdeutsche Erfahrung. Für die Erinnerung
im geteilten Deutschland des Kalten Krieges galt diese
Gemeinsamkeit allerdings nicht mehr. Dort, wo mutige Deutsche ein
eindrucksvolles Bekenntnis zum Wunsch nach Freiheit und Einheit
abgelegt hatten, verunglimpfte das angegriffene Regime den
Volksaufstand als vom Klassenfeind gesteuerten faschistischen
Putsch. Und im Westen? Hier verlor sich der symbolisch begangene
Tag der deutschen Einheit bis in die 80er-Jahre zunehmend im
fröhlichen Familienausflug ins Grüne.
"Der 17. Juni hat unwiderlegbar bewiesen, daß die
Einheit Deutschlands eine historische Notwendigkeit ist", hatte
Marion Gräfin Dönhoff nur eine knappe Woche nach diesen
Ereignissen in der Zeit geschrieben:
Wir wissen jetzt, daß der Tag kommen wird, an dem Berlin
wieder die deutsche Hauptstadt ist. Die ostdeutschen Arbeiter haben
uns diesen Glauben wiedergegeben, und Glauben ist der höchste
Grad der Gewißheit.
Dass diese vermeintliche Gewissheit Wirklichkeit geworden ist,
verdanken wir der Bürgerrechtsbewegung in der DDR, der sich
1989 Hunderttausende anschlossen.
Meine Damen und Herren, der gescheiterte Volksaufstand von 1953
mit der deprimierenden Gewalterfahrung und die geglückte
Revolution von 1989/90 sind die zwei Seiten derselben Medaille. Sie
zeigen den Mut der Bürger, den unbändigen Willen zur
Freiheit und das Bekenntnis zur deutschen Einheit. In der
Rückschau erkennen wir, dass die dramatischen Ereignisse von
1953 und der Aufbruch 1989 Teil einer großen
Befreiungsbewegung waren. Der 17. Juni steht am Anfang einer
ganzen Reihe von Aufständen in Mittel- und Osteuropa gegen
Unfreiheit und kommunistische Herrschaft: in Ungarn 1956, in Prag
1968, in Polen 1980. Und ‑ bei allen
Einschränkungen historischer Parallelen ‑: Der
17. Juni steht auch für die Wiederaufnahme deutscher
Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie, die Menschen wie Ferdinand
Freiligrath im Revolutionsjahr 1848 angetrieben hatte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, der 17.
Juni mahnt, an die Opfer zu denken, die der Kampf um die Freiheit
gefordert hat, in Deutschland, aber auch anderswo.Unsere
Solidarität und Unterstützung gilt den Menschen im Iran,
in Thailand, in Ägypten und überall in der Welt, die
für ihr Recht auf Selbstbestimmung kämpfen, für die
scheinbare Selbstverständlichkeit, selbst zu bestimmen, von
wem sie regiert werden wollen. Nichts wiegt dabei stärker als
die Anerkennung durch ein Volk, das den Erzählungen über
das Erlebte zuhört und nicht vergisst.
Der Deutsche Bundestag fühlt sich dem Andenken an
diejenigen verpflichtet, die in der DDR für Freiheit und
Einheit Opfer gebracht haben. Deshalb erinnern wir auch in diesem
Jahr an die herausragende Bedeutung des 17. Juni 1953. Wir alle
sind gefordert, das Wissen um den Volksaufstand lebendig zu halten.
Und wir haben allen Grund dazu; denn es ist auch ein Tag der
Ermutigung. Wir können uns an diesem Tag mit Stolz einer
Traditionslinie deutscher und europäischer Freiheitsgeschichte
vergewissern, die länger als anderthalb Jahrhunderte
zurückreicht. Im vergangen Jahr haben wir diese
europäischen Bezüge mit der Enthüllung eines Teils
der Danziger Werftmauer am Reichstagsgebäude besonders
gewürdigt.
Sie, sehr geehrte Frau Professor Schwan, sind Polen und unseren
östlichen Nachbarländern in besonderer Weise verbunden
und haben sich als Wissenschaftlerin seit langem intensiv mit den
Kräften der Zivilgesellschaft im demokratischen Staat
beschäftigt. Dies werden Sie gewiss in Ihrem neuen Amt als
Präsidentin der Berliner Humboldt-Viadrina School of
Governance fortsetzen. Am 9. November 2008 haben Sie in einer Rede
auf die besondere Bedeutung von Erinnerung für den Einzelnen
wie die Gemeinschaft hingewiesen. Sie haben damals gesagt:
Freiheit ist, dies kann man wohl mit Fug und Recht behaupten,
das größte Menschheitsthema.
Nichts anderes lehrt uns die Erinnerung an den 17. Juni 1953.
Ich danke Ihnen, dass Sie in diesem Jahr zu uns sprechen
werden.
Herzlichen Dank.