30.03.2004 - Rede von Frau BM Renate Schmidt zur
Ausstellungseröffnung "Weiße Rose" am 30.03.04 in
Berlin
Sehr geehrter Herr
Bundestagspräsident,
sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestages,
sehr geehrte Vertreter und Vertreterinnen der "Weiße Rose
Stiftung",
lieber Franz Josef Müller,
sehr geehrte Herren und Damen,
Sophie Scholl sagte in ihrer Verhandlung vor dem Volksgerichtshof:
"Was wir sagten und schrieben, denken ja so viele. Nur wagen sie
nicht, es auszusprechen."
Wer damals dem Nationalsozialismus widersprach, begab sich in
Lebensgefahr und viele, die es dennoch taten wie Sophie Scholl und
andere Mitglieder der Weißen Rose, kamen darin um.
Heute leben wir in einem freiheitlich demokratischen Rechtsstaat
und nicht in einem totalitären Staat. Heute bedarf es keines
besonderen Mutes, Zivilcourage zu zeigen. Heute besteht für
niemandem Lebensgefahr.
Wir, die wir für unser demokratisches Gemeinwesen eintreten,
sind die Mehrheit und die, die rechtsextrem, fremdenfeindlich
denken und gewalttätig sind, in der Minderheit. Doch dieser
Minderheit darf kein Fußbreit Raum gelassen werden.
In den letzten Jahrzehnten gab es über 1000 Schändigungen
jüdischer Friedhöfe. Zu viele Menschen sind von
rassistisch eingestellten Tätern und Täterinnen
erschlagen, erstochen, aus fahrenden Zügen geworfen, zu Tode
gehetzt oder verbrannt worden.
Diese Gewalttaten sind eine Kampfansage an unser demokratisches
Gemeinwesen, die wir ganz entschieden beantworten müssen. Wir
dürfen es nicht zulassen, dass Menschen bei uns durch Gewalt,
Beleidigung oder Diskriminierung verletzt werden. Wir alle sind
aufgefordert, hinzuschauen, was läuft falsch, was können
und müssen wir tun, wo müssen wir protestieren?
Mit der Wanderausstellung "Die Weiße Rose – der
Widerstand von Studenten gegen Hitler – München
1942/1943" haben Otl Aicher und Franz J. Müller und die
"Weiße-Rose-Stiftung" die erste authentische Darstellung der
"Weißen Rose" realisiert. Unter Mitwirkung von Teilnehmenden
der "Weißen Rose" und Angehörigen der Hingerichteten
stellen sie beispielhaft das historisch, politische Umfeld von
1933-1945, das Entstehen der studentischen Widerstandsgruppe
"Weiße Rose" und deren Aktionen dar. Ihnen ist es gelungen,
aus Aussagen von Zeitzeugen und bekanntem und auch bisher
unbekanntem Bild- und Textmaterial aus privaten und
öffentlichen Beständen eine anschauliche und
überzeugende Präsentation zu konzipieren.
Eine Präsentation, die zum Nachdenken anregt. Zum Nachdenken
über die Ursachen, Zusammenhänge und Folgen der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Zum Nachdenken
darüber, wann wir selbst etwas machen müssen, um
verantwortlich zu handeln. Wie es die Mitglieder der Weißen
Rose taten.
Sie begaben sich in Lebensgefahr, weil sie widersprachen, weil sie
aktiv Verantwortung übernahmen, weil sie nicht geschehen
ließen. Sie sind unser aller Vorbilder des Widerstands und
des Freiheitswillens.
Daher begrüße ich es sehr, dass seit dem 22. Februar
diesen Jahres, dem 60. Todestag von Sophie Scholl, ihre Büste
stellvertretend für alle bekannten und unbekannten
Persönlichkeiten des Widerstands im Dritten Reich in der
Walhalla aufgestellt wurde. Sie zieht damit als fünfte Frau in
den Bayerischen Olymp, einem der bedeutensten deutschen
Nationaldenkmäler, ein. Sie findet Platz neben Feldherren,
aber auch neben Goethe und Schiller, Beethoven und Bach, Bismarck
und Barbarossa.
Das Aufstellen der Büste war nicht unumstritten. Ich selbst
bin seit 1998 sehr für die Aufnahme Sophie Scholls
eingetreten. Denn die deutsche Geschichte ist nicht nur von
Feldherren, Kaisern und Künstlern geprägt, sondern auch
vom Widerstand gegen einen totalitär auftretenden Staat.
Daher kann ich meiner Kollegin Hildegard Kronawitter, die erreicht
hat, Sophie Scholls Büste in der Walhalla aufnehmen zu lassen,
nur beipflichten, wenn sie sagt:" Sophie Scholl ist ein Vorbild
demokratischer Gesinnung, Mut und Zivilcourage. Gerade in der
heutigen Zeit rechtsradikaler Gewalt in Deutschland brauchen wir
nicht nur eine negative Abgrenzung gegen rechts, sondern mit der
Aufnahme der Büste Sophie Scholls in die Walhalla auch ein
positives Vorbild."
Und:
Als Kultstätte für Rechte ist die Walhalla damit wertlos
– ich denke, das hätte Sophie Scholl gefallen.
Anrede,
die Ergebnisse dieser Wanderausstellung sind beachtlich: Seit 2001
war es möglich, die Ausstellung in 23 deutschen Städten
zu sehen. Genutzt wurde diese Chance von über 10.000 Besuchern
und Besucherinnen, darunter viele Schulklassen.
Es fanden 25 Gespräche mir den Zeitzeugen Anneliese Knoop-Graf
und Franz Josef Müller statt, denen ich an dieser Stelle
ausdrücklich für ihr unermüdliches Engagement danken
möchte. Diese Möglichkeit nutzen rund 2000 Schüler
und Schülerinnen.
Ab heute erhalten wir auch die Möglichkeit, auf drei
zusätzlichen Tafeln ausgewählte Schulprojekte
kennenzulernen. Sie entstanden im Rahmen des Ausstellungs- und
Jugendprojektes der Weiße Rose Stiftung e.V. "Zerreißt
den Mantel der Gleichgültigkeit" in Brandenburg, Sachsen und
Thüringen.
Außerdem entwarfen 160 Schulen gemeinsam mit der Stiftung
"Weiße Rose", bei der ich mich an dieser Stelle ebenfalls
für ihre tägliche beispielgebende Arbeit bedanken
möchte, Projekte zum Thema "Widerstand im Dritten Reich" und
"Zivilcourage heute".
Die Thematik des zuletzt genannten Projekts "Zivilcourage heute"
zeigt, worauf die Ausstellung Wert legt: In fundierter und
lebendiger Form wird jungen Menschen der Widerstand der
"Weißen Rose" gegen den Nationalsozialismus nahe gebracht.
Doch die Ausstellung bleibt hier – in der Vergangenheit
– nicht stehen. Sie geht weiter.
Sie verlangt ein Nachdenken und Handeln heute und morgen. Sie zeigt
deutlich, dass über die Reflexion der Vergangenheit die
Auseinandersetzung mit der Gegenwart folgen muss.
In einem Gespräch mit einer Schulfreundin begründete
Sophie Scholl ihr entschiedenes Eintreten für den Widerstand
gegen den Nationalsozialismus mit dem Satz: "Man muss etwas machen,
um selbst keine Schuld zu haben."
Die Projekte zeigen uns, dass es Menschen gibt, die diese Haltung,
diese damals wie heute so immens wichtige Einstellung ernst nehmen.
Jugendliche, die klar Stellung beziehen gegen die Verletzung der
elementaren Menschenrechte Leben und Freiheit – für
Toleranz und Demokratie.
Für Jugendliche ist es heute zweifellos schwierig, sich das
ungeheure Geschehen und die Gräuel des Nationalsozialismus
vorzustellen. Zeitzeugen gibt es immer weniger. Sie können
ihre Stimme immer seltener erheben, nicht mehr erzählen, wie
sie diese Zeit wahrgenommen haben. Umso mehr freue ich mich, dass
so viele junge Menschen die Chance zum Gedankenaustausch
anlässlich der Ausstellung "Zerreißt den Mantel der
Gleichgültigkeit" genutzt haben. Und ich darf heute ganz
besonders die Zeitzeugen Herrn Franz J. Müller und Frau Karin
Friedrich begrüßen, die es sich zum Ziel gesetzt hat,
das geistige Vermächtnis des Widerstands im Dritten Reich
weiterzureichen.
Die Bundesregierung beabsichtigt die Stärkung der
demokratischen Kultur und des zivilen Engagements gerade auch bei
jungen Menschen. Die Bekämpfung von Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus, ihre
Entstehungsgründe und Erscheinungsformen haben für uns
hohe Priorität.
Mit dem umfassenden Aktionsprogramm "Jugend für Toleranz und
Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit
und Antisemitismus" stärkt die Bundesregierung demokratisches
Verhalten und ziviles Engagement und fördert Toleranz und
Weltoffenheit.
Ich begrüße sehr, dass auch die Wanderausstellung
"Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit" im Rahmen
dieses Programms Fördermittel erhalten konnte.
Das ist gut angelegtes Geld, denn unsere Demokratie braucht aktive
Beteiligung junger Menschen.
Das Ausstellungs- und Jugendprojekt der "Weiße Rose Stiftung"
hat sehr gute Erfahrungen damit gemacht, dass junge Menschen eigene
Projekte entwickeln und diese in Eigenverantwortung umsetzen. Die
Mobilisierung der Jugend für die Jugend gegen
Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit ist wichtig, da sie ihre
eigenen Wege zur Vermittlung von Toleranz und Demokratie
findet.
"Jeder ist verantwortlich für das, was er geschehen
lässt." Mit diesem Satz aus einem Flugblatt der Weißen
Rose möchte ich deshalb enden. Es galt damals und er gilt
heute.
Sehr gerne bin ich heute hierher gekommen, um eine Ausstellung zu
eröffnen, die ihresgleichen sucht, eine Ausstellung, die
zeigt, dass wir alle diesen Satz ernst nehmen und ernst nehmen
müssen. Wir tragen Verantwortung dafür, was geschieht,
was wir geschehen lassen!