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Marino Marini gilt neben Alberto Giacometti und Henry Moore als
einer der bedeutendsten Bildhauer des 20. Jahrhunderts. Unter dem
Eindruck der Kunst der Etrusker, deren Skulpturen im Boden seiner
toskanischen Heimat gefunden wurden, schuf er klassisch
ausgewogene, archaisch wirkende Reiterskulpturen. Diese
einprägsamen Reiter- und Pferd-Bildnisse entwickelte er in
seinem Spätwerk zu immer expressiveren und schließlich
nahezu abstrakten Chiffren eines tragischen Kampfes gegen die
Verzweiflung angesichts der erlebten Inhumanität seiner
Zeit.
Sein künstlerischer Werdegang begann in jener
Atmosphäre vibrierender Unruhe, die die italienischen
Künstler Anfang des 20. Jahrhunderts ergriffen und ihren
Ausdruck im Futurismus gefunden hatte: Filippo Tommaso Marinetti
hatte im Jahre 1909 sein futuristisches Manifest im "Figaro"
veröffentlicht und den radikalen Bruch mit allen Traditionen
propagiert. Er verherrlichte als neue Schönheitsideale
Dynamik, Geschwindigkeit und Maschinen, feierte in diesem Sinne
sogar den Krieg und forderte die Überwindung und
Zertrümmerung des klassischen Formenkanons. Gegen diese
provokant avantgardistischen Tendenzen bezog Marini bewußt
eine Gegenposition und schloß sich der gemäßigt
modernistischen Künstlergruppe "Novecento Italiano" an. In
diesem Sinne einer am klassischen Ideal orientierten
künstlerischen Haltung bekannte er in den fünfziger
Jahren seinerseits programmatisch: "Hier in Italien ist die Kunst
der Vergangenheit ein wesentlicher Bestandteil unseres Lebens. Wir
leben inmitten der Kunstwerke vergangener Zeiten. Ich zum Beispiel
bin in der Toskana geboren, wo in den letzten fünfzig Jahren
die Wiederentdeckung der etruskischen Kunst eins der
größten Ereignisse war. Deshalb wählte ich zu einer
gewissen Zeit so oft Vorbilder aus der Vergangenheit, wie das
Reiterstandbild, das an die nützliche Beziehungen zwischen
Mensch und Pferd erinnert, und nicht moderne Themen, wie das
Verhältnis zwischen Mensch und Maschine."
Im Jahre 1929 wird er an die Scuola d'Arte di Villa Reale in
Monza auf den Lehrstuhl für Bildhauerei berufen. Sein Atelier
befindet sich dort neben einem Pferdehof, wodurch er zu ersten
Pferdestudien angeregt wird, die "weit davon entfernt" sind, "etwas
Subjektives oder Apokalyptisches für mich zu bedeuten"
(Marini). Pferd und Reiter ziehen sich von nun an neben Akrobaten
und Tänzerinnen wie ein Leitmotiv durch sein
künstlerisches Werk.
Doch erst nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges
erfährt dieses Motiv bei Marini einen radikalen Wandel: Pferd
und Reiter bilden von nun an nicht mehr eine harmonische, vitale,
fast mythische Einheit von Mensch und Natur. Statt dessen beginnen
die Pferde sich aufzubäumen, drohen den hilflos wirkenden
Reiter abzuwerfen. Marini nennt diese Reiterbildnisse ab 1950
"Miracoli", möglicherweise eine Anspielung auf die Bekehrung
des Apostel Paulus, der vor Damaskus, von einem Blitz geblendet,
vom Pferd stürzte: "Meine Reiterstatuen drücken die
Beängstigung aus, die mir die Ereignisse meines Zeitalters
verursachen. Die Unruhe meiner Pferde wächst mit jedem neuen
Werk; die immer kraftloser werdenden Reiter haben die Herrschaft
über die Tiere verloren, und die Katastrophen, denen sie
erliegen, gleichen jenen, die Sodom und Pompeji vernichtet haben.
Ich suche so das letzte Stadium in der Auflösung eines Mythos
zu versinnbildlichen, des Mythos vom heldenhaften, siegreichen
Individuum, vom Uomo di virtù des Humanisten."
Dem bedrohlich-apokalyptischen Gehalt seiner Reiterstatuen entspricht die Auflösung der Form: Pferd und Reiter stoßen wie ein Schrei, ein "Grido" (so ein häufig verwandter Werktitel Marinis), in den Raum, erstarren mehr und mehr zu abstrakten expressiven Formen, die unverbunden aufeinanderstoßen. Ihre Oberfläche ist schrundig, zerkratzt, gewaltsam verletzt. So verkörpern seine Skulpturen gleichsam ein letztes Aufbäumen gegen die wachsende Inhumanität des Zeitalters, einen zu Materie erstarrten Aufschrei angesichts der Urgewalt chtonischer Kräfte, die, einmal entfesselt, nicht mehr beherrschbar sind – nicht zuletzt ein Ausdruck der Furcht des Künstlers vor einem Atomkrieg. Dieser ethische Appell, der aus seinen Skulpturen spricht, erfährt dadurch eine Verstärkung, daß weitere Gußexemplare in Tokio und Jerusalem aufgestellt sind. Auf diese Weise sind beide Städte mit Berlin in einem schicksalhaften Dreieck verbunden. Die Skulptur ist eine Schenkung von Irene und Rolf Becker an den Deutschen Bundestag. Ihre Stiftung setzt ein Mahnzeichen gegen Gewalt und Inhumanität. Auf der Freitreppe des Marie-Elisabeth-Lüders- Hauses am Ufer der Spree aufgestellt, wo sich Ost und West einst feindlich gegenüberstanden, bildet die Skulptur zugleich ein weithin sichtbares Symbol für den Geist, der das zusammengewachsene Berlin beflügelt – Blickfang und geistiger Anruf gleichermaßen.
geboren 1901 in Pistoia (Toskana), gest. 1980 in Viareggio
"Miracolo - L' idea di un' immagine",
Bronze, 450 x 270 x 180 cm, 1969 / 70
Text: Andreas Kaernbach
Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages