Navigationspfad: Startseite > Presse > Pressemitteilungen > 2009 > 01.11.2009
Vorabmeldung zu einem Interview in der
nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 2. November
2009),
- bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung
–
Der Präsident des Europäischen Parlaments, Jerzy Buzek, mahnt mehr Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten der EU an. „Erst, wenn wir noch stärker gemeinsam handeln, haben wir wirklich gewonnen“, sagte der frühere polnische Ministerpräsident in einem Gespräch mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 2. November).
Zugleich nannte er die Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise als vordringliche Aufgabe in der laufenden Legislaturperiode des Europaparlaments. Weitere wichtige Themen seien eine gemeinsame Energiepolitik und der Klimawandel sowie die Migrationspolitik. „Unser Ziel ist es, die Solidarität zwischen den Ländern zu vergrößern“, betonte der Parlamentspräsident.
Es sei „dringend notwendig, auf eine gemeinsame Energiepolitik zu setzen“, betonte Buzek. Dies gelte sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU. Es gehe um mehr Energiesicherheit, was beispielsweise bedeute, gemeinsam mit den Energieversorgern zu sprechen. „Und natürlich wollen wir uns auch für freie Energiemärkte einsetzen, die, wie wir gesehen haben, zu niedrigeren Preisen führen“, fügte der EU-Parlamentarier hinzu.
Mit Blick auf mögliche Erweiterungen der Europäischen Union nannte er es einen „großen Erfolg, wenn Staaten – wie beispielsweise die Länder auf dem Balkan – darum konkurrieren, in die EU aufgenommen zu werden, anstatt wie früher gegeneinander zu kämpfen“. Auch sei die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft für die Beitrittskandidaten „eine wichtige Motivation zur Reform derjenigen Politikfelder, die noch nicht auf EU-Standard sind“, sagte Buzek und nannte es „unbedingt notwendig, diesen Prozess weiterzuführen“.
Er kündigte zudem weitere Anstrengungen zur besseren Information über die Arbeit des Europaparlaments an. Man habe bereits eine Reihe von Neuerungen wie die Fragestunde mit dem EU-Kommissionspräsidenten oder Online-Übertragungen aus Ausschusssitzungen eingeführt und plane einen europäischen Parlamentskanal. „Außerdem möchten wir die Informationsarbeit in den Ländern, zum Beispiel durch einen Ausbau der Europahäuser, verstärken, erläuterte Buzek und gab das Ziel aus, bei der Europawahl in fünf Jahren eine Wahlbeteiligung von 50 Prozent zu erreichen. Im Juni dieses Jahres lag die Beteiligung an der Europawahl lediglich bei 43 Prozent.
Das Interview im Wortlaut:
Herr Präsident, Sie werden zu den Feierlichkeiten
am 9. November in Berlin sein. Welche Erinnerungen verbinden Sie
ganz persönlich mit diesem Tag vor 20 Jahren?
Es war wirklich ein symbolischer Tag. Ich war damals sehr
glücklich, weil ich gespürt habe, dass wir in Polen nicht
mehr alleine sind. Ich hatte in diesem Moment das Gefühl, in
einem freien Land zu leben. Nur wenige Monate zuvor war bei den
ersten freien Wahlen am 4. Juni in Polen eine nicht-kommunistische
Regierung gebildet worden. Und in dem Moment, in dem die Mauer in
Berlin fiel, stürzten im übertragenen Sinne auch die
anderen eisernen Regime des Ostblocks in sich zusammen.
Und wie haben die Polen diesen Tag erlebt? Welche
Stimmung herrschte dort?
An diesem Tag war der
damalige Bundeskanzler Helmut Kohl zu Gast. Nachdem er vom Fall der
Mauer gehört hatte, sagte er zu unserem damaligen
Premierminister Tadeusz Mazowiecki, er möge ihn für
einige Stunden entschuldigen, denn er müsste wegen des Falls
der Mauer nach Deutschland zurück. Und so wie er es
versprochen hatte, kam er wieder nach Warschau zurück, um dort
seinen Besuch zu beenden. Das war wirklich fantastisch.
Was bedeutete das für die Menschen?
Für Polen war es ein wichtiges Signal, dass eine so bedeutende
Person wie Helmut Kohl aus einem demokratischen Land zu uns kam, um
uns zu unterstützen. Das gleiche gilt natürlich auch
für den früheren US-Präsidenten George Bush, die
ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher oder den
damaligen französischen Präsidenten Francois
Mitterrand.
Sie sind der erste Präsident des Europäischen
Parlaments aus einem osteuropäischen Land. Was können Sie
Besonderes in dieses Amt einbringen?
Auf der einen
Seite kenne ich die Länder Ost- und Mitteleuropas sehr gut.
Und daher weiß ich vielleicht auch besser als jemand
anderes, wie sich die Menschen dort fühlen. Auf der anderen
Seite bin ich in meinem Amt aber auch für die ganze
Europäische Union verantwortlich und nicht nur für einen
Teil – das „alte Europa“ gibt es nicht mehr.
Aber es gibt doch noch ein erhebliches Gefälle in
der Europäischen Union?
Selbstverständlich
gibt es noch vielerorts Unterschiede beim Lebensstandard und
verschiedene Regionen entwickeln sich unterschiedlich. Aber wir
haben in Osteuropa die Verantwortung, uns zu integrieren und zu
kooperieren. Dabei muss man allerdings bedenken, dass Erweiterung
und Integration nicht dasselbe sind. Ich denke, dass die neuen
Beitrittsländer nach einer sehr großen Erweiterungsrunde
auf einem guten Weg sind, sich äußerst erfolgreich zu
integrieren.
Sind in dieser Europäischen Union die Werte,
für die Sie in den 1980er Jahren als aktiver Teil der
polnischen Gewerkschaftsbewegung eingetreten sind, verwirklicht
worden?
Ja, das glaube ich. Wir treten in der Union
für eine Politik ein, mit der wir schwächeren Regionen
ermöglichen wollen, wettbewerbsfähiger zu werden. Um das
zu erreichen, unterstützen wir Forschungsprojekte oder die
Entwicklung neuer Technologien. Wir tun also eine Menge, um
bestimmte Werte wie Solidarität oder Zusammenhalt in der EU zu
verwirklichen. Dafür ist die Union ein hervorragender Ort,
aber ich denke, wir können noch mehr tun.
Sie sind jetzt mehr als 100 Tage im Amt. Welches sind
für Sie die wichtigsten Aufgaben in dieser
Legislaturperiode?
An erster Stelle steht
natürlich, dass wir die Wirtschafts- und Finanzkrise in den
Griff bekommen. Ein weiteres wichtiges Thema ist eine gemeinsame
Energiepolitik. Auch der Klimawandel und die Migration sind
wichtige Themen in dieser Legislaturperiode. Unser Ziel ist, die
Solidarität zwischen den Ländern zu
vergrößern. Denn erst wenn wir noch stärker
gemeinsam handeln, haben wir wirklich gewonnen.
Sie haben sich kürzlich für eine
Europäische Energieagentur ausgesprochen. Wie soll die konkret
aussehen?
Ich denke, es ist dringend notwendig, auf
eine gemeinsame Energiepolitik zu setzen – sowohl innerhalb
als auch außerhalb der Gemeinschaft. Es geht aber auch um
mehr Energiesicherheit, was zum Beispiel heißt, dass wir
gemeinsam mit unseren Energieversorgern sprechen. Und
natürlich wollen wir uns auch für freie
Energiemärkte einsetzen, die, wie wir gesehen haben, zu
niedrigeren Preisen führen.
Der Vertrag von Lissabon sieht vor, die Beziehungen
zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen
Parlamenten zu stärken. Gibt es dafür schon konkrete
Pläne?
Wir brauchen dafür ein gutes
Netzwerk zwischen unseren Ausschüssen und Berichterstattern.
Es ist aber wichtig, nicht nur vor den Gesetzgebungsverfahren,
sondern auch hinterher miteinander zu reden. Die Zusammenarbeit
zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen
Parlamenten ermöglicht es uns auch, über unsere Kollegen
aus den nationalen Parlamenten einen besseren Kontakt zu unseren
Bürgern zu bekommen, denn fünfzig Prozent der nationalen
Gesetze werden in Brüssel gemacht. Der besser informierte
nationale Abgeordnete, der auch mitgestalten kann, kann den
Bürgern auch nützliche Informationen zu europäischen
Projekten – und was diese für das jeweilige Land
bedeuten – geben.
Ist mit dem Vertrag das oft beklagte Demokratiedefizit
des Europäischen Parlament kleiner geworden?
Die verstärkte Zusammenarbeit zwischen unseren Parlamenten ist
eine wichtige Verbesserung. Auch wird mit dem Vertrag von Lissabon
das Mitentscheidungsverfahren zur Regel und es wird in
Zukunft ein europaweites Bürgerbegehren geben.
Während Ihrer Zeit als polnischer
Ministerpräsident begannen die Gespräche für den
EU-Beitritt Polens. Wie sehen Sie heute die Erweiterungsperspektive
der Union?
Ich glaube, es ist ein großer
Erfolg, wenn Staaten – wie beispielsweise die Länder auf
dem Balkan – darum konkurrieren, in die EU aufgenommen zu
werden, anstatt wie früher gegeneinander zu kämpfen. Am
14. Oktober hat die EU-Kommission einen Erweiterungsbericht
publiziert, in welchem der Stand der Verhandlungen mit den
aktuellen Beitrittskandidaten Kroatien, Mazedonien, Island und
Türkei dargelegt wird. Die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft
ist für die Beitrittskandidaten eine wichtige Motivation zur
Reform derjenigen Politikfelder, die noch nicht auf EU-Standard
sind. Es ist unbedingt notwendig, diesen Prozess
weiterzuführen. Auch mein Land hat durch die Mitgliedschaft in
der EU sehr wichtige Impulse sowie eine in die Zukunft gerichtete
Perspektive erhalten.
Trotz vieler Erfolge der EU sind im Juni nur 43 Prozent
der Europäer zur Europawahl gegangen. Was ist Ihr Rezept gegen
diese Europamüdigkeit?
Im Sinne einer besseren
Transparenz und leichteren Verständlichkeit unserer Arbeiten
haben wir eine Reihe von Neuerungen wie die Fragestunde mit dem
EU-Kommissionspräsidenten oder etwa Online-Übertragungen
aus Ausschusssitzungen eingeführt und wir planen einen
europäischen Parlamentskanal. Außerdem möchten wir
die Informationsarbeit in den Ländern, zum Beispiel durch
einen Ausbau der Europahäuser, verstärken. In fünf
Jahren möchten wir eine Wahlbeteiligung von 50 Prozent
erreichen. Bei allem Bedauern über die niedrige
Wahlbeteiligung dürfen wir aber auch nicht vergessen, dass in
den USA an den letzten Kongresswahlen nur 37 Prozent der Menschen
teilgenommen haben. Und in Amerika sagt deswegen auch niemand, dass
es ein Demokratiedefizit gibt.
Das Interview führte Annette Sach.
Jerzy Buzek (69) ist Mitglied der EVP und seit Juli 2009 Präsident des Europäischen Parlaments. Von 1997 bis 2001 war er polnischer Ministerpräsident.