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Gültig ab: 16.08.2005 00:00
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Kein Vertrauen in die Vertrauensfrage?

Bild: Günter Nooke und Hans-Christian Ströbele
Günter Nooke (CDU/CSU) und Hans-Christian Ströbele (Bündnis 90/Die Grünen).

Bild: Hans-Christian Ströbele
Im Gespräch: Hans-Christian Ströbele ...

Bild: Günter Nooke
... und Günter Nooke.

Streitgespräch: Auflösung des Parlaments

Auch wenn Neuwahlen nun verkündet sind – am Verfahren der gezielten Niederlage bei der Vertrauensabstimmung trotz einer vorhandenen Mehrheit gibt es Kritik, manche sehen darin eine Verfassungsmanipulation. Wäre es nicht besser, wenn sich das Parlament künftig selbst auflösen könnte? Ist unsere Demokratie nicht gefestigt genug, auf geradem Weg einen Neuanfang einzuläuten? Darüber führte BLICKPUNKT BUNDESTAG ein Streitgespräch mit dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Hans-Christian Ströbele, und dem CDU/CSU-Abgeordneten Günter Nooke, kultur- und medienpolitischer Sprecher seiner Fraktion.

Blickpunkt Bundestag: Hätten wir uns nicht viel politisches Gewürge ersparen können, wenn das Grundgesetz die Selbstauflösung des Bundestages erlaubte?

Günter Nooke: Die Diskussionen darüber, ob Neuwahlen sinnvoll sind oder nicht, werden immer lebendig sein, egal, wie die Verfassungslage aussieht. Langfristig halte ich das Selbstauflösungsrecht des Bundestages in der Tat aber für den richtigen Weg.

Hans-Christian Ströbele: Tatsächlich war es einigermaßen absurd, dass ich mein Vertrauen in den Kanzler dadurch demonstrieren sollte, dass ich ihm das Vertrauen verweigere. Diese Zumutung habe ich auch nicht mitgemacht. Dennoch bin ich dagegen, dass sich der Bundestag ein Selbstauflösungsrecht zubilligt. Denn dadurch bringen wir das gesamte Verfassungsgefüge durcheinander. Zudem erscheint es mir unangebracht, dass eine Parlamentsmehrheit, wenn für sie die Lage komfortabel erscheint, Neuwahlen ansetzen kann. Dann wären wir beim britischen Modell, das aber nicht zu uns passt.

Blickpunkt: Immerhin ist das Parlament der direkt gewählte oberste Souverän. Warum nicht ihm überlassen, was man jetzt dem Kanzler und dem Bundespräsidenten zuordnet?

Nooke: Ich finde auch, dass man diese wichtige Frage nicht allein dem Bundespräsidenten zuordnen sollte, zumal er ja von vielen Seiten unter Druck gesetzt wird. In meinen Augen ist es ehrlicher, wenn die Abgeordneten als erste Gewalt im Lande diese Verantwortung auf sich nähmen. Die Bedenken des Kollegen Ströbele, dass eine Mehrheit dann nach Belieben wieder Neuwahlen ansetzen kann, teile ich nicht. Erstens muss dem natürlich ein hohes Quorum entgegenstehen; außerdem: So spannend sind Wahlkämpfe nun auch wieder nicht, als dass man sie beliebig vom Zaun brechen würde. Dass mit dem Selbstauflösungsrecht kein Missbrauch getrieben wird, zeigt auch ein Blick auf jene Bundesländer, in denen es dieses Recht schon heute gibt.

Ströbele: Unser ganzes Verfassungssystem mit Fünf-Prozent-Hürde und konstruktivem Misstrauensvotum setzt auf stabile Mehrheiten. Mit der Einführung des Selbstauflösungsrechts würde dieses unterlaufen. Die Parlamentsauflösung soll eine absolute Ausnahme bleiben. Hat eine Regierung die Mehrheit nicht mehr sicher, sollen sich im einmal gewählten Parlament neue Mehrheiten zusammenfinden. Der scheinbar klare Weg der Selbstauflösung führt in die Gefahr des Missbrauchs. Auch hohe Quoren sind kein Schutz. Keine Opposition wird es politisch durchhalten, sich einem Antrag der Mehrheit auf Neuwahlen zu verweigern. Eine Opposition, die nicht jede Chance nutzt, zur Mehrheit gewählt zu werden, wird nicht mehr ernst genommen.

Blickpunkt: Ist das Grundgesetz zu stark auf parlamentarische Stabilität fixiert? Immerhin sind die Zeiten der labilen Weimarer Republik seit über 70 Jahren vorbei…

Nooke: Richtig ist, dass unsere Verfassung ein an den Negativprojektionen von Weimar und der Nazi-Zeit entstandenes Gebilde ist. Von der Grundtendenz ist unser Grundgesetz eine Nachkriegsverfassung. Inzwischen aber sind wir eine gefestigte Demokratie. Und deshalb finde ich, dass wir uns die Rechte, die auch andere Parlamente in der Welt haben, selbstbewusst zubilligen sollten. Ich denke wirklich, dass wir Abgeordnete damit verantwortungsvoll umgehen können.

Ströbele: Mit der bisherigen Regelung sind wir gut gefahren, wenn auch Parlamentsauflösungen in der Vergangenheit verfassungsrechtlich zweifelhaft waren. Vor allem aber: Man kann nicht beliebig ein Stück aus der Verfassung herausbrechen. Dann sollten wir die gesamte Verfassungskonstruktion überdenken, also auch die Fünf-Prozent-Klausel und die Frage, ob ein, drei oder fünf Direktmandate zum Einzug einer Partei in den Bundestag ausreichen.

Nooke: Ich erinnere daran, dass zwei hohe ehemalige Verfassungsrichter, Benda und Mahrenholz, durchaus eine solche, von anderen Dingen losgelöste Verfassungsänderung für möglich halten. Außerdem hat schon 1976 eine Verfassungskommission das Selbstauflösungsrecht des Bundestages vorgeschlagen. Also sollten wir ruhig etwas mehr parlamentarisches Selbstbewusstsein entwickeln.

Ströbele: Daran mangelt es mir und vielen anderen Abgeordneten bestimmt nicht!

Blickpunkt: Noch einmal nachgefragt: Werden Verfassung und auch das Wort Vertrauen nicht überstrapaziert, wenn – wie bei Brandt 1972, bei Kohl 1983 und nun bei Schröder geschehen – die Vertrauensfrage mit dem Ziel der Ablehnung gestellt wird, obwohl das Vertrauen der Mehrheit in den Kanzler durchaus vorhanden war?

Ströbele: Das ist mit dem Sinn der Verfassung schwer zu vereinbaren. Deshalb haben es sich viele Abgeordnete bei der Abstimmung ja auch nicht leicht gemacht. Jedenfalls gilt das für mich. Ich habe mich nicht danach entschieden, was mein Kanzler oder meine Fraktionsführung gerne hätten, sondern was ich für richtig und mit meinem Gewissen für vereinbar halte. Das war ganz schön schwierig.

Blickpunkt: Der Kanzler hatte die Vertrauensfrage ja sehr einsam beschlossen. Manche Abgeordnete empfanden dies als so etwas wie ein „Putsch von oben“, zumindest wenig demokratisch. Liegt hier ein Problem?

Nooke: Ich kann diese Gefühle durchaus nachempfinden. Das Ergebnis ist ja auch, dass sich der Kanzler verzockt hat. Denn er hat mit seinem Weg nicht uns als Opposition, sondern vor allem das eigene Lager in Unruhe versetzt. Das ist eben so, wenn man mit den Institutionen des Staates so umgeht wie er und wenn man ein Spieler ist und dabei nicht so sehr an die Verantwortung für das Land denkt. Dennoch will ich als Oppositionspolitiker auch anerkennen, dass es gute Gründe für Schröder gibt, sich einen ordentlichen Abgang zu organisieren und gut in die Geschichtsbücher einzugehen.

Ströbele: Das ist ja freundlich von Ihnen, Herr Kollege Nooke. Auch ich habe gleich nach der Ankündigung des Kanzlers gesagt: So geht es nicht. So salopp kann man mit dem Grundgesetz nicht umgehen. Man darf sich die Verfassung jetzt auch nicht einfach zurechtbiegen. Ich bleibe dabei: Das Grundgesetz sollte nicht geändert, sondern so angewandt werden, wie es heute ist. Zwar halte ich eine Diskussion über eine Verfassungsänderung für legitim; aber wenn wir diese bei einem zentralen Punkt verändern wollen, muss man insgesamt an die Fragen der Rechte des Parlaments und über die Kautelen seiner Wahl reden.

Blickpunkt: Dass bislang die Bundespräsidenten trotz verfassungsrechtlicher Bedenken das „Spiel mit der Vertrauensfrage“ mitgemacht haben – könnte das auch daran liegen, dass sie bei einem Selbstauflösungsrecht des Bundestages selbst ein Stück Machtverlust erlitten, weil sie aus dem parlamentarischen Krisenmanagement ausgeschaltet würden?

Ströbele: Keine Frage: Die Befugnis zum Auflösen des Bundestages ist sicher das wichtigste politische Recht, das der Bundespräsident nach unserer Verfassung hat. Hier hat er eine wichtige Rolle und hat eine essenzielle Machtbefugnis.

Nooke: Tatsächlich gibt es wenige Entscheidungen in Deutschland, die von einer einzigen Person abhängen. Dies ist eine. Dennoch würde ich keinem Bundespräsidenten unterstellen wollen, er oder sein Amt würden aus persönlichen Machterwägungen heraus Entscheidungen treffen. Da bin ich denn doch institutionengläubig. Im Übrigen glaube ich nicht, dass bei einer Grundgesetzänderung zugunsten eines Selbstauflösungsrechts das Machtgefüge der Institutionen auch zum Bundespräsidenten hin wirklich in Gefahr geriete.

Ströbele: Doch, Sie machen damit den Bundespräsidenten noch mehr zum reinen Notar! Sie würden ihm das einzige wirkliche Entscheidungsrecht nehmen. Deshalb müssten wir wirklich in diesem Fall die Verfassung insgesamt neu austarieren.

Blickpunkt: Wie hoch müsste – sollte es ein Selbstauflösungsrecht geben – die Hürde dafür sein: Bei einer Zweidrittelmehrheit oder noch höher?

Ströbele: Ich bleibe bei der Ablehnung. Deshalb müsste sie möglichst hoch sein. Eine Dreiviertel- oder gar Vierfünftelmehrheit wäre angebracht, damit eine Regierungsmehrheit nicht beliebig mit diesem weit reichenden Instrument umgehen kann. Allerdings könnte man dann auch fragen, was vom Selbstauflösungsrecht noch übrig bliebe.

Nooke: Ich hielte eine Dreiviertelmehrheit für richtig. Um so deutlich zu machen, dass dies eine außergewöhnliche Entscheidung des Parlaments ist.

Das Gespräch führte Sönke Petersen.
Fotos: Photothek
Erschienen am 17. August 2005

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