Das Ansehen des Bundestages steht auf dem Prüfstand. Das Parlament sei zu sehr mit sich selbst beschäftigt, reagiere spät auf gesellschaftliche Entwicklungen und lasse sich immer häufiger von der Regierung bevormunden, lautet die Kritik. “Wie souverän ist der Souverän?“, fragt deshalb zum Beginn der neuen Wahlperiode BLICKPUNKT BUNDESTAG die nach 11 Jahren Vizepräsidentschaft aus dem Bundestag ausgeschiedene Antje Vollmer vom Bündnis 90/ Die Grünen und die neu zur Vizepräsidentin des Bundestages gewählte Unionsabgeordnete Gerda Hasselfeldt.
Blickpunkt Bundestag: Freuen Sie sich, Frau Hasselfeldt, auf Ihr neues Amt oder ist das nur ein Repräsentationsjob und eine Kompensation für andere, nicht erreichte ämter?
Gerda Hasselfeldt: Nein, ich freue mich sehr auf diese Aufgabe, sonst hätte ich mich dafür nicht beworben. Es ist eine neue Herausforderung, weg vom tagespolitischen Streit, hin zur Repräsentation, aber auch zu einer Aufgabe, bei der man ein bisschen über den Dingen stehen darf.
Blickpunkt: Frau Vollmer, was sind Ihre Erfahrungen, ist Ihre Bilanz nach elf Jahren vorne auf dem Präsidentenstuhl?
Antje Vollmer: Auch ich habe diese Aufgabe immer als große Chance gesehen, auch einmal etwas neben der normalen Spur zu denken und zu sagen. Ich habe aber auch mit wachsender Sorge gesehen, dass das Ansehen des Parlaments und sein eigenes Selbstbewusstsein in den letzten Jahren stark gesunken sind. Ein Parlament ist doch ein armes Wesen, weil es unter enorm vielen unterschiedlichen Drücken und Einflüssen steht. Es muss sich immer von Zeit zu Zeit selbst die Chance geben, darüber zu diskutieren, ob seine Verortung noch stimmt. Wir haben etwa eine wachsende Tendenz zum Regierungsparlament, siehe die Vertrauensfrage, die eigentlich eine Misstrauensfrage war, oder das Nachvollziehen-Müssen von vorgegebenen Versprechungen auf der Regierungsseite. Und wir haben daneben eine Tendenz zur Mediendemokratie mit der Konzentration auf einige wenige Leute. Bei Sabine Christiansen sitzen doch immer nur die gleichen 15 bis 20 Leute und nicht die Hunderte von Abgeordneten, die wir im Parlament haben.
Blickpunkt: Das sind kritische Töne. Teilen Sie diese Sicht, Frau Hasselfeldt?
Hasselfeldt: Die Tendenz ist zweifellos vorhanden, insbesondere das starke Anwachsen einer auf Personen fixierten Mediendemokratie, wodurch die in Wahrheit gar nicht so unspannende parlamentarische Diskussion häufig zu kurz kommt. Damit muss man sich auseinander setzen. Wir müssen immer wieder hinterfragen, wie wir die parlamentarische Arbeit interessanter und attraktiver für die Bevölkerung gestalten können, damit diese nicht nur auf Talkshows angewiesen ist, sondern die Diskussionen im Parlament selbst verfolgt.
Blickpunkt: Bei aller Kritik: Hat nicht der Bundestag eine seiner Hauptaufgaben, stabile Regierungen hervorzubringen und handlungsfähig zu halten, in den vergangenen Jahrzehnten sehr ordentlich gemacht? Zählt das nicht in der Bilanz?
Vollmer: Doch durchaus. Vor allem, wenn man von außen schaut. Es gibt ja einen eklatanten Widerspruch zwischen dem Selbstgefühl der Deutschen und dem Blick von außen. Das Ausland sieht in der Bonner und jetzt Berliner Republik eine sehr stabile Demokratie, die viele Probleme nicht kennt, zum Beispiel Korruptionskrisen, ständige Regierungswechsel oder Parteienzersplitterungen. Von außen gesehen sind wir fast so etwas wie ein kleines Demokratieparadies. Das entspricht aber nicht der Akzeptanz des Bundestages in unserer Bevölkerung.
Blickpunkt: Woher kommt dieses sinkende Ansehen im Innern?
Hasselfeldt: Ich sehe das, mit Verlaub, nicht ganz so negativ. Das Parlament hat zweifellos stark zur Stabilität unseres Staatswesens beigetragen. Auch das Ansehen der Parlamentarier in der Bevölkerung ist so schlecht nicht. Natürlich gibt es Defizite und auch manche Desinformation, aber generell ist das Image des Bundestages zwar immer verbesserungsfähig, dennoch aber nicht besorgniserregend. Blickpunkt: Hat der Bundestag zu wenig zu sagen? Wird zu viel in Gremien, in Kommissionen vorab entschieden?
Vollmer: Der eigentliche Prozess von Politik ist ja, die unterschiedlichen Teile der Wirklichkeit darzustellen, Lösungsansätze deutlich zu machen und dann zu entscheiden. Dieser Prozess kann öffentlich nur im Parlament oder in den Ausschüssen passieren. Nur: Von diesem Prozess bekommt man nur sehr wenig mit. In der Mediendemokratie wird vieles lediglich nach der Qualität der Krawalligkeit ausgesucht. Das ist oft dreist, dennoch sehr beliebt. Vor allem wird der demokratische Prozess, Kompromisse zu schließen, diffamiert. Stattdessen wird gern die Moral von Politik diskutiert. Das ist wichtig, aber die Essenz von Politik ist doch, mit fehlbaren Menschen so zu agieren, dass Bevölkerungen sich mehrheitlich vertreten fühlen.
Blickpunkt: Werden sich diese Trends in einer Großen Koalition verstärken?
Hasselfeldt: Wir haben in dieser Legislaturperiode ja die besondere Situation, dass drei kleinere Oppositionsfraktionen einem großen Regierungslager gegenüberstehen. Deshalb wird es zu differenzierteren Prozessen kommen, gerade auch deshalb, weil die drei Oppositionsfraktionen ganz unterschiedliche Meinungen vertreten. Ich fürchte, dass vieles an den Kompromissen, die gemacht werden, in der öffentlichkeit nicht nachvollzogen werden kann. Das ist durchaus ein Problem. Deshalb brauchen wir mehr Transparenz der Ideen und Entscheidungen. Vielleicht könnte mehr öffentlichkeit bei den Ausschusssitzungen, in denen ja die eigentliche Gesetzesarbeit passiert, dazu beitragen.
Blickpunkt: Nun war der Start mit der verunglückten Wahl von Lothar Bisky zum Vizepräsidenten nicht gerade ein Glanzstück. Wirft das Schatten?
Vollmer: Ich glaube, das sollte man nicht überbewerten. Hier haben offenbar unkoordiniert viele Abgeordnete durchaus selbstbewusst gehandelt und sich gesagt: Die Leitung eines Parlamentes passt mit dem Job eines Parteivorsitzenden, der ja, wie der Name schon sagt, Partei ist, nicht gut zusammen. Also, dieses Stückchen Rebellentum kann ich nachvollziehen. Mir gefällt eigentlich immer, wenn etwas nicht so klappt, wie es sich die Oberen ausgedacht haben. Wir sollten ohnehin den ständigen Gehorsamsdruck auf frei gewählte Abgeordnete abbauen. Gerade in Zeiten einer Großen Koalition, bei der es nicht auf jede Stimme ankommt, sollte die Devise heißen: Vorrang für Selbstbewusstsein und den eigenen Kopf!
Blickpunkt: Sind die Abgeordneten zu wenig selbstbewusst, zu sehr folgsame Diener ihrer Fraktionsführungen?
Hasselfeldt: Die Gefahr besteht, es ist aber nicht zwingend. Das Parlament kontrolliert die Regierung ja auf zweierlei Weise: Die Abgeordneten der Regierungsmehrheit unter dem Gesichtspunkt der Erfolgsorientierung, denn Regierung und Mehrheit sitzen ja in einem Boot, die Oppositionsfraktionen kontrollieren aus dem Blickwinkel der Kritik und Alternative heraus. Das sind unterschiedliche Rollenverteilungen. Wenn sie richtig wahrgenommen werden, können sie durchaus zu einem stärkeren Selbstbewusstsein des Parlaments führen. In einer Zeit der Großen Koalition ist der Spielraum für ein selbstbewusstes Parlament meines Erachtens größer als in Zeiten knapper Mehrheiten.
Vollmer: Dann sollte sich das Parlament auch neue Errungenschaften erobern. Zum Beispiel bei der Regierungsbefragung. In England steht dafür die gesamte Regierung samt Premierminister zur Verfügung; bei uns sprechen Staatssekretäre meist vor ziemlich leeren Bänken. Bei uns gehen die Regierungspläne erst zu den Journalisten, dann vielleicht auch einmal ins Parlament. Wenn wir das änderten, würde auch die Tendenz, vieles in der Blackbox kleiner Zirkel zu entscheiden, gebrochen. Das würde das Parlament auf jeden Fall aufwerten.
Blickpunkt: Der Bundestag soll „Forum der Nation“ sein, der Ort, an dem die großen gesellschaftlichen Themen behandelt werden. Kommt er diesem Anspruch ausreichend nach?
Hasselfeldt: Das ist sicher ausbaufähig. Vieles läuft ja im Bereich der unspektakulären Gesetzesarbeit ab, das ist auch richtig so. Aber die großen gesellschaftlichen Debatten finden eher zu selten statt. Daran sollten wir arbeiten.
Vollmer: Die großen Debatten kommen ja aus den Fragen der Zeit. Wenn man immer nur Klein-Klein diskutiert und nur an der Tagespolitik bleibt, kommt man nicht zu den großen Themen. Zudem werden große Debatten geführt von Menschen, die auch etwas zu sagen haben. Diese Persönlichkeiten nehmen mit dem Abstand zu den großen tragischen Ereignissen unserer Geschichte natürlicherweise eher ab. Hinzu kommt das sinkende Ansehen der Parlamentarier. Vor 20 Jahren war der Beruf des Abgeordneten eindeutig angesehener als heute.
Blickpunkt: Was kann man tun, um das Ansehen des Parlaments zu stärken?
Hasselfeldt: Das bedarf eines ganzen Blumenstraußes an Maßnahmen. Vor allem gehört dazu, den Abgeordneten nicht als Fußabstreifer der Nation zu nehmen, der für alles seinen Kopf hinzuhalten hat. Das heißt, wir müssen öffentlich neu über die Rolle des Politikers nachdenken.
Vollmer: Auch die Politiker selbst müssen sich ehrlich machen und über ihre Würde sprechen. Sie müssen sich mehr trauen und gegenüber der ständigen Gerhorsamsforderung von oben den Rücken gerade machen. Das ist schwer, trotzdem würde ich mir das wünschen.
Das Gespräch führte Sönke Petersen.
Fotos: Photothek
Erschienen am 01. Dezember 2005