17 Jahre sind vergangen seit dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges, fünf Jahre seit den Terroranschlägen von New York und Washington. Für Deutschland und seine Bündnispartner hat sich seitdem in der Sicherheitspolitik eine Menge verändert — nicht zuletzt ablesbar an der wachsenden Zahl der Auslandseinsätze der Bundeswehr, die inzwischen zur politischen Normalität geworden sind. In den vergangenen 15 Jahren ist Deutschland zu einem der größten Truppensteller für internationale Friedensmissionen geworden. Während fast monatlich neue Operationen diskutiert werden — zuletzt bezüglich einer Ausweitung des Sudaneinsatzes auf die Krisenregion Darfur und Lufteinsätze im Süden Afghanistans —, stellt sich die Frage nach Beteiligungskriterien und langfristigen Konzepten.
Derzeit befinden sich rund 9.000 Soldaten im Auslandseinsatz — von Bosnien über Afghanistan bis zum Horn von Afrika. Mit der Überwachung der Küste des Libanon hat die deutsche Marine im Spätsommer die heikelste Operation in der 51-jährigen Geschichte der Bundeswehr übernommen. Die viermonatige EUMission im Kongo unter Leitung des deutschen Generalleutnant Karlheinz Viereck, der die Operation vom Operation Headquarters (OHQ) in Potsdam aus führte, wurde Ende November termingerecht beendet. Dass der Ruf nach Beteiligung der Deutschen an internationalen Missionen demnächst leiser wird oder gar verstummt, ist nicht abzusehen. Gerade erst wehrte die Bundesregierung den Wunsch der NATO nach einem stärkeren Engagement der Bundeswehr in Afghanistan — konkret eine Ausweitung des Einsatzes auf den gefährlichen Süden — ab. Auch die Unterstützung einer bevorstehenden UN-Friedensmission im Sudan zieht Verteidigungsminister Franz Josef Jung in Erwägung.
In dieser Gemengelage war für Jung im Herbst der richtige Moment gekommen, innezuhalten und eine Standortbestimmung der Bundeswehr vorzunehmen. Sein Vorgänger Peter Struck hatte bereits 2003 mit der Verabschiedung verteidigungspolitischer Richtlinien die Grundlage für die Transformation der Bundeswehr gelegt. Das Primat der Landesverteidigung trat zugunsten der neuen Hauptaufgabe „Krisenbewältigung“ in den Hintergrund. Angesichts neuer asymmetrischer Bedrohungen ließ sich der Sicherheitsbegriff geographisch nicht mehr auf Europa oder das transatlantische Bündnisgebiet eingrenzen.
Jung legte nun im Oktober, zum ersten Mal seit zwölf Jahren, ein neues Weißbuch vor, in dem Leitlinien für die zukünftigen Auslandseinsätze formuliert werden. Im Grundgesetz sind diese außerhalb Deutschlands und des NATO-Gebiets nicht ausdrücklich vorgesehen. Eine Klarstellung der rechtlichen Grundlage für Auslandseinsätze nahm das Bundesverfassungsgericht am 12. Juli 1994 in Zusammenhang mit dem Einsatz in Somalia und der Beteiligung an der Flugverbotsüberwachung gegen das ehemalige Jugoslawien vor. Es entschied, dass „Out-of-area-Einsätze“ der Bundeswehr immer dann verfassungsgemäß sind, wenn sie im Verbund von Systemen kollektiver Sicherheit stattfinden, denen die Bundesregierung angehört und zu deren Aufgaben solche Einsätze gehören, also beispielsweise den Vereinten Nationen, der NATO, der EU oder der OSZE.
Vorbehalt des Parlaments
Im gleichen Urteil hat das Gericht die Zustimmung des Bundestages zu Einsätzen außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes als unabdingbar festgelegt. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz vom März 2005 schreibt fest, dass der Bundestag bei Auslandseinsätzen generell zustimmen muss. Ein vereinfachtes Verfahren kann es danach bei „Einsätzen von geringer Intensität und Tragweite“ wie Erkundungskommandos oder bei einer Mandatsverlängerung ohne inhaltliche Veränderung geben.
Abgeordnete reagieren empfindlich, wenn die Regierung Vorfestlegungen trifft oder Regierungsmitglieder vorpreschen. So war auch die Kritik von CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder an den Äußerungen seines Parteifreundes Jung über eine Beteiligung an einer UN-Friedensmission im Sudan zu verstehen. Denn faktisch soll sich nicht viel ändern: Bereits jetzt beteiligt sich Deutschland dort mit logistischer Hilfe an den internationalen Missionen. Deutlichen Widerspruch aus der Opposition gab es, als Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble im Zusammenhang mit Auslandseinsätzen in multinationalen Verbänden den Parlamentsvorbehalt in Frage stellte. Und bei einem Einsatz von Bundeswehr-Tornados im umkämpften Süden Afghanistans drohten Die Linke. und Bündnis 90/Die Grünen jüngst mit Verfassungsklage, wenn die Regierung nicht das Parlament entscheiden lässt.
Einen regelrechten Kriterienkatalog, der Entscheidungen über künftige Einsätze erleichtert und nachvollziehbar macht, beinhaltet das Weißbuch nicht. Jung warb um Verständnis, dass es eine „Zauberformel für nationale Interessen“ nicht gibt, etwa nach der Devise „Zustimmung nur, wenn neun von zehn Kriterien erfüllt sind“. Der Unionspolitiker nannte aber drei Aspekte, die als Kompass dienen könnten. So sei zu prüfen, ob der jeweilige Einsatz im Einklang mit nationalen Interessen, nationalen Werten und internationalen Verpflichtungen stehe.
Als „nationale Zielvorgabe“ für Stabilisierungseinsätze ist im Weißbuch der Einsatz von gleichzeitig bis zu 14.000 Soldaten, aufgeteilt auf bis zu fünf verschiedene Einsatzgebiete, formuliert. Aus den internationalen Verpflichtungen ergeben sich weitere Zielvorgaben. So muss die Bundesregierung für die schnelle Eingreiftruppe der NATO mit Vor- und Nachbereitung rund 15.000 Soldaten vorhalten, im Rahmen des EU Headline Goal weitere 18.000. Zusätzlich sollen 1.000 Einsatzkräfte für kurzfristige UN-Missionen bereitstehen sowie 1.000 für Rettungs- und Evakuierungsaktionen.
Modell für Exitstrategie?
Bei jedem neuen Einsatz stellt sich die Frage nach den Grenzen der Belastbarkeit — personell und finanziell. So hat Jung angesichts der wachsenden Aufgaben jüngst die Bremse gezogen, indem er die Fortsetzung der Reduzierungen in Bosnien-Herzegowina ankündigte, wo deutsche Soldaten seit 1995 bei der Überwachung des Friedensprozesses helfen, zunächst unter NATO-Führung, seit 2004 unter EU-Führung.
Die EU hat einen Vier-Stufen-Plan zum Abzug von EUFOR aus Bosnien-Herzegowina beschlossen, der bis Ende Februar konkret ausgearbeitet werden soll. Der Bundestag hat bereits Ende November die Mandatsobergrenze von 3.000 auf 2.400 Soldaten abgesenkt. Tatsächlich waren jedoch nie mehr als 1.000 Soldaten in Bosnien im Einsatz gewesen; derzeit sind es noch 850. Ein Alleingang beim Rückzug ist nicht vorgesehen, denn auch die EU will in einer ersten Stufe Ende Mai ihre Truppen um zwei Bataillone, also rund 1.000 Mann, reduzieren.
Entlastung bringt momentan der fristgerechte Abzug aus dem Kongo nach vier Monaten. 870 Bundeswehrsoldaten waren dort stationiert, aufgeteilt auf die Stützpunkte in der Hauptstadt Kinshasa und in Libreville im benachbarten Gabun. Die Bundeswehr hatte bei der EUFOR-Mission zur Überwachung der ersten freien Wahlen seit mehr als 40 Jahren die Federführung übernommen. Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, Bernhard Gertz, spricht in diesem Zusammenhang von einer „gelungenen Exitstrategie“. Zwar gebe man „das Land auch nach diesem Wahlgang in die Hände der gleichen Leute, die es hemmungslos ausgeplündert haben“. Aber allein durch die Präsenz von EUFOR habe man während der Wahlen „möglicherweise einen Bürgerkrieg im Keim erstickt“. Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan bezweifelt allerdings, dass eine strikte Befristung ein Modell auch für künftige Exitstrategien sein könnte. „Es gibt keinen Modellansatz“, meint er. Jedes Szenario folge einer eigenen Gesetzmäßigkeit. Die Bundeswehr brauche die nötige Flexibilität, um sich darauf einzustellen.
Engpass Logistik
Über 200.000 Soldaten waren bislang im Auslandseinsatz. Bestimmte Fähigkeiten werden dabei besonders strapaziert. So ist der Bereich logistische Unterstützung laut Gertz „absolut auf Rand genäht“. Sanitäter, Pioniere zur Errichtung von Feldlagern, Fernmelder, Feldjäger, Heeresflieger seien genau „die Bereiche, wo die Belastungsgrenze nicht nur erreicht, sondern eigentlich schon überschritten ist“, sagt der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes. Auch der Politikwissenschaftler Christoph Grams von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik meint, dass die Bundeswehr ein strukturelles Problem hat, weil sie bestimmte Spezialisten in jedem Auslandseinsatz braucht. An der Belastungsgrenze angekommen sieht er die Bundeswehr dennoch nicht. Er weist auf die Schwierigkeit hin, dass die Bundeswehr seit Mitte der 90er Jahre „den größten Umbau in ihrer Geschichte“ bewältigen und gleichzeitig eine Vielzahl von Auslandseinsätzen stemmen müsse — zu denen sie die Transformation eigentlich erst ab 2010 befähigen sollte.
In der öffentlichen Wahrnehmung hat sich viel bewegt. Mehr als vier Jahrzehnte hinweg bildete der Einsatz militärischer Macht für die alte Bundesrepublik ein Tabu. Aktuelle Umfragen zeigen aber, dass die Auslandseinsätze der Bundeswehr grundsätzlich gebilligt werden. Eine Emnid-Umfrage im Auftrag des Verteidigungsministeriums ergab, dass 81 Prozent von 2.000 Befragten friedenserhaltenden Einsätzen zustimmten. Bei Kampfeinsätzen (unter UN-Mandat) lag die Zustimmung immerhin noch bei 56 Prozent. Der jüngste ARDDeutschlandtrend, durchgeführt von Infratest dimap, zeigte, dass 57 Prozent der Befragten militärische Einsätze zur Friedenssicherung befürworten. Dennoch hielt es eine Mehrheit von 69 Prozent für geboten, dass sich die Bundeswehr von der einen oder anderen Mission zurückzieht.
Fotos: Picture-Alliance
Grafiken: Marc Mendelson
Text: Claudia Kemmer
Erschienen am 31. Januar 2007