Anders als bei den meisten fachpolitischen Entscheidungen sind die Parlamentarier bei bioethischen Fragestellungen ihrem Gewissen überlassen und müssen sich an keine mehrheitliche Entscheidung der Fraktion halten. Das ist spannend und anstrengend zugleich. Denn nach welchem Maß soll man entscheiden? Auf ethische Maßstäbe berufen sich fast alle — doch auch diese unterliegen der individuellen Interpretation. So absurd es klingt, aber keine Ethik bewahrt die Politik davor, selbst festzulegen, wo die Grenzen zwischen Leben und Tod verlaufen.
Die Fortschritte der Naturwissenschaften
stellen die Politik
vor enorme und vollkommen
neue Herausforderungen.
Denn mitunter schreitet die
Forschung so schnell voran, dass dazu
verabschiedete Gesetze kurz nach Inkrafttreten
schon fast wieder obsolet sind
und nachgebessert werden müssen. Das
gilt bei Datenschutz im Internet ebenso
wie in der Biomedizin und Gendiagnostik.
In Deutschland ist das etwa bei der
Forschung an embryonalen Stammzellen
der Fall. Erst 2002 eröffnete der Gesetzgeber
vorsichtig einen Weg, wie deutsche
Forscher an embryonalen Stammzelllinien
forschen konnten — durch den
Import solcher im Ausland hergestellter
Zellen, begrenzt durch einen Stichtag.
Im Jahr 2008 entschied der Bundestag
erneut darüber, den Stichtag zu verschieben,
um die zur Verfügung stehende
Zahl der Stammzelllinien
zu vergrößern.
Einige Forscher hatten jahrelang auf diese
Lösung gedrängt.
Organtransplantationen können Leben retten — aber ab wann ist ein Mensch tot, sodass man ihm Spenderorgane entnehmen darf?
© Picture-Alliance/Jan-Peter Kasper
In den 70er-Jahren zeichnen sich
die künftigen Forschungsschritte und
-erfolge der Zellbiologie bereits ab. 1975
findet eine erste große internationale
Konferenz
zu den Fortschritten der Gentechnologie
in Asilomar (Kalifornien)
statt, bei der Wissenschaftler schon ein
Moratorium für bestimmte gentechnische
Experimente fordern und erste
Handlungsrichtlinien
erarbeiten. Das
erste Retortenbaby
aus künstlicher
Befruchtung kommt 1978 auf die Welt,
1983 wird das erste Patent auf eine gentechnisch
veränderte Pflanze erteilt.
Die Sorge um unbeherrschbare Folgen
aus kommerzieller Verwertung und Anwendung
gentechnischer Methoden gehört
zum Gründungsthema der Grünen. Die
gesamte Politik beginnt Anfang der 80er-
Jahre zu reagieren: Bis heute ist das ein
langsamer, komplizierter Entscheidungsund
Lernprozess des Gesetzgebers, der
sich mit diffizilen Fragen konfrontiert
sieht. Dürfen Eltern bei künstlicher Befruchtung
über das Geschlecht des Kindes
entscheiden? Warum soll die PID verboten
bleiben, wenn sie verhindern kann,
dass Kinder mit schweren Erbkrankheiten
auf die Welt kommen? Besitzen embryonale
Stammzellen bereits die vollkommene
verfassungsrechtlich garantierte
Menschenwürde?
Das Grundgesetz äußert
sich nicht dazu, wann menschliches
Leben beginnt. Aber auch nicht, wann
genau es endet.
Einer der aktuellsten, politisch noch
nicht gelösten Entscheidungskonflikte
betrifft die Organentnahme eines Verstorbenen zum Zwecke der Transplantation
an einen lebensbedrohlich Erkrankten:
Ab wann erklärt man einen Menschen
für tot? Ab dem Hirntod? Und wer soll
darüber entscheiden? Ein Arzt? Zwei,
drei? Oder noch die Ethikkommission
der Klinik? Der Deutsche Ethikrat? Was
gilt, wenn die Angehörigen dagegen sind,
die lebensverlängernden Apparate bei einem
Sterbenden abzuschalten, der
Hirntote zu Lebzeiten jedoch eine Patientenverfügung
unterschrieben hat?
Anfang der 80er-Jahre setzte der
Bundestag die erste Enquetekommission
„Chancen und Risiken der Gentechnologie”
ein. Eigentlich sollte sie „gesellschaftliche
Folgen der Gentechnologie”
heißen — wäre es allein nach der SPD
gegangen — und „ökologische,
ethische
und soziale Probleme als Folge der Gentechnik”,
wäre der Antrag
der Grünen
durchgekommen. Damit waren die bis
heute vorhandenen
Lager im Bioethikdiskurs
vorgezeichnet. Die einen betonen
eher die Chancen und die Forschungsfreundlichkeit
und argumentieren
gern
mit einer „Ethik des Heilens”,
die anderen
stellen die Risiken und unerwünschten
Nebenfolgen in den Vordergrund.
Der Philosoph Volker Gerhardt,
Mitglied
im ersten Nationalen Ethikrat
der Bundesrepublik, kritisiert beide: als
politische Moralisten und rhetorische
Anwälte
der Menschenwürde die einen,
die anderen als stumpfe Pragmatiker.
„So haben wir denn auf der einen Seite das moralisch Gute mit den Idealen der
Humanität und auf der anderen Seite
den alles verrechnenden Nutzen mit den
schäbigen, wenn auch vielleicht angenehmen
Vorteilen der Utilität”, schreibt
Gerhardt in seiner 2001 erschienenen
„Kleinen Apologie
der Humanität”.
An der Wortwahl lässt sich erkennen,
wie tiefgreifend, zuweilen erbittert und
sehr oft emotional gekämpft wird in
diesen
Fragen von Leben und Tod — die
angesichts der Fortschritte der Medizin
immer öfter im Plenum des Bundestages
diskutiert werden müssen. Schließlich
geht es auch um Hoffnungen auf Heilung
schwerstkranker Menschen. Die erste
Bioethik-
Enquete hatte nach längerer
Pause
in den 90er-Jahren noch zwei
Nachfolger
zu Zeiten der rot-grünen
Koalition, wobei sich eine interessante
Schwerpunktverschiebung von
„Recht und Ethik” hin zu „Ethik und
Recht” in der modernen Medizin im
Jahr 2003 ergab: Man erkannte, wie
schwierig, aber zugleich elementar ethische
Fragestellungen für Politik und
Gesellschaft wurden. Spannungsfrei war
diese Debatte nie — und immer auch
innerhalb der Parteien und Fraktionen
höchst umstritten. Ein Grund, weswegen
Bundeskanzler Gerhard Schröder
(SPD) 2001 den Nationalen Ethikrat
aus der Taufe hob. Das Parlament und
die eigene Bundestagsfraktion waren
Kanzler und Forschungsministerin
Edelgard
Bulmahn (SPD) etwas zu forschungsskeptisch
besetzt. 2008 beginnt
eine neue Phase der Beziehung zwischen
Politik und Forschung: Statt zeitlich
befristeter Enquetekommissionen
gibt es seit April dieses Jahres zwei
feste Gremien: den Parlamentarischen
Beirat und den Deutschen Ethikrat
als Nachfolger des Nationalen Ethikrates
(siehe S. 8). Das ist sicher richtig
angesichts des weiter zu erwartenden
schnellen Fortschritts wissenschaftlicher
Erkenntnisse, der permanente Beobachtung
und Diskussion durch die
Politik erfordert. Denn noch immer gilt,
was 1975 im Abschlussdokument der
Asilomar-Konferenz stand: „Die neuen
Techniken bringen uns in einen Bereich
der Biologie mit vielen Unbekannten.”
Es ist seit Beginn des jüngsten
großen
politischen Ethikdiskurses in
den Jahren 2000/2001 eine kleine
Truppe von Bioethikexperten unter den
Parlamentariern, die äußerst beständig
und engagiert um diese Fragen ringt.
Margot von Renesse (SPD) gehörte
als
Vorsitzende der ersten Bioethik-
Enquete unter Rot-Grün lange als herausragende
Kämpferin dazu, bevor sie aus
Altersgründen abtrat. Ebenso Andrea
Fischer und Christa Nickels bei den
Grünen sowie Maria Böhmer (CDU/
CSU). Bis heute gehören Ilja Seifert (Die
Linke), Ulrike Flach (FDP) und Carola
Reimann (SPD), René Röspel (SPD)
als Vorsitzender der zweiten Bioethik-
Enquete und Hubert Hüppe (CDU/CSU)
zu den langjährigen Protagonisten.
Röspel sitzt nun dem neu gegründeten
Ethikbeirat des Parlaments vor.
Für Hüppe ist das Thema ein
Herzensanliegen, dem er in manchen
Facetten in seinem eigenen, privaten
Leben begegnet ist. Er gehört zu denen,
die sich ganz und gar gegen die Forschung
an embryonalen Stammzellen wehren.
In seiner christlich orientierten Partei
ist er damit zwar nicht allein, findet
jedoch in der Fraktion keine Mehrheit.
Bei der Abstimmung über vier Anträge zur Änderung des Stammzellgesetzes am
11. April 2008 hatte fast die Hälfte der
anwesenden Unionsabgeordneten für einen
Kompromiss gestimmt. Hüppe begegnet
mit seiner Position immer wieder
dem Vorurteil, rein religiös zu argumentieren.
Wobei selbst die beiden Kirchen
in der Frage nicht mehr eindeutig positioniert
sind. Hüppe wehrt sich gegen
den Vorwurf vehement: „Die Debatte
ist nicht religiös geführt worden. Es
ist rational, wenn man beweisen kann,
dass embryonale Stammzellforschung
für die Heilung des Menschen nichts
beigetragen hat, dass es weltweit nach
zehn Jahren noch nicht einmal irgendeine
klinische Studie dazu gibt.” Wenn
man trotzdem so viel Zeit für diesen
kleinen Forschungsbereich investiere,
sei das wesentlich irrationaler als sein
Standpunkt.
Für den 51-jährigen Westfalen sind
diese Abstimmungen
die persönlichsten
überhaupt.
„Weil sie mit dem eigenen
Menschenbild
zu tun haben.” Er hat sich
festgelegt: „Menschenwürde
und Forschungsfreiheit
sind für mich nicht abwägbar”,
sagt er. „Eine solche Bundestagsabstimmung
ist natürlich besonders
problematisch, wenn man meinen Standpunkt
hat”, räumt er ein. Weil dann der
Kompromiss als Hauptinstrument
der
Politik ausfällt. „Man muss ja meinen
Standpunkt nicht teilen, dass es sich beim
Embryo um einen Menschen handelt —
aber wenn, dann fühlt man sich als Verräter
gegenüber denen, die man schützen
will.” Das seien Entscheidungen, die einem
den Schlaf rauben können. So etwas
hört man selten von Politikern.
Wirklich besonders an den Ethikdebatten
und -entscheidungen ist daher auch für die
Parlamentarier, dass sie ihre Gewissensentscheidung
ohne Anbindung an einen
Mehrheitsbeschluss ihrer Fraktion treffen
können, aber auch müssen. Man kann sich
das leicht machen. Viele machen es sich
jedoch alles andere als leicht. Und trotzdem
darf man unterstellen: Die meisten
schlafen auch bei solchen Entscheidungen
gut. Hüppe war enttäuscht. Noch beim
Bundesparteitag der Union hatte eine große
Mehrheit die Position beschlossen, dass
der Mensch schon mit Verschmelzung von
Ei und Samenzelle entstanden und daher zu
schützen sei. Er hatte sich als Antragsteller
für ein totales Forschungsverbot an embryonalen
Stammzellen eingesetzt. Doch
prominente Unionsvertreter unterstützten eine andere Position: die Kanzlerin und
die Forschungsministerin. Das zeigt, wie
wenig sich Politiker in diesen Fragen per
Grundsatzentscheidung festlegen lassen.
Kennzeichnend sind für Bioethikfragen
ungewohnte überparteiliche Koalitionen.
Im April 2008 etwa stimmten
Politiker
der Fraktion Die Linke mit
Unionsabgeordneten für einen von der
FDP mehrheitlich unterstützten Antrag
der völligen Freigabe embryonaler Stammzellforschung
— dem jedoch nur eine
Minderheit
der Abgeordneten zustimmte.
René Röspel wiederum war derjenige,
dessen
Antrag mit großer Mehrheit
gewann. Er hatte den Kompromiss mitformuliert,
den Stichtag einmalig zu verschieben
— für den auch die Kanzlerin
und Forschungsministerin
waren. Um
den Preis, dass viele Forschungsgegner in
Röspel einen Wendehals sahen. Er war in
der ersten großen Stammzelldebatte 2002
— einer der Sternstunden des Parlaments
— als vehementer Gegner aufgetreten.
Sechs Jahre später schien ihm die einzige
Möglichkeit, den damals durchgekommenen
Stammzellimport, der die Forschung
durch die Stichtagsregelung beschränkt,
zu erhalten, indem man für eine einmalige
Verschiebung stimmte.
Andernfalls wäre es aus seiner Sicht zur
völligen Freigabe gekommen. Das war seine
Güterabwägung. „Man trifft auch für
sich selbst schon eine Kompromissentscheidung”, sagt er. Selten sei es so eindeutig,
dass man hundertprozentig hinter einer
Entscheidung stehe. Auch beim Thema
„Patientenverfügung” gehe es ihm so. Da
gehe es um individuellste Einzelfälle —
„schwierig, das in einem Gesetz zu fassen”.
Er wirkt nachdenklich.
Auch bei der PID
könne er Gefühle
und Schicksale der betroffenen
Hundert
Elternpaare nachvollziehen.
„Die andere Seite ist, wie man das regelt,
ohne dass es ausufert und Dämme
einreißt.”
Man schwanke immer zwischen
individuellem,
nachvollziehbarem Leid und
Verantwortung für die Gesellschaft, betont
der 44-jährige Molekularbiologe, der in
der Tumorforschung gearbeitet hat. „Das
klingt jetzt hochtrabend, aber meine Auffassung
ist, dass das Parlament Regelungen
für die ganze Gesellschaft finden muss.”
Keine leichte Frage, nach welchem
Maß man als Abgeordneter solche
Fragestellungen bemisst. Nur danach,
wie man selbst denkt — oder man zieht
die Argumente und Interessen anderer in
Betracht, sodass sie am Ende die eigene gefährMeinung
beeinflussen. Röspel versucht,
sich die Folgen der Regelungen vorzustellen.
Wenn sich etwa eine weitreichende
Möglichkeit der Patientenverfügung durchsetze
— etwa festzulegen, ab dem Alter von
80 Jahren keine medizinische Behandlung
mehr haben zu wollen —, „dann wird der
Druck höher werden, als alter Mensch
keinem zur Last zu fallen und nicht kosten
zu dürfen”. Dass Menschen, unterstützt
von politischen Regelungen, derart ihren
Ausstieg aus der Gesellschaft vorbereiten,
„das ist nicht mein Gesellschaftsbild”.
Aber auch hier gilt die Frage, woher
Abgeordnete ihr gesellschaftliches
Leitbild nehmen, nach dem sie urteilen.
„Da bin ich sicher nicht unabhängig von
der Umgebung, in der ich aufgewachsen
bin”, sagt Röspel spontan. Andererseits
öffne er sich bewusst möglichst vielen gesellschaftlichen
Realitäten. „Abgeordnete
sind Transmissionsriemen der Gesellschaft
— sie kommen viel mehr herum, als die
meisten Menschen glauben.” Er rede mit
Pflegepersonal ebenso wie mit Ärzten,
besuche Heime und habe Betroffene in
der Bürgersprechstunde. Er sehe alle
Facetten des Lebens, vom gut situierten
Facharbeiter bis zum Obdachlosen. „Ich
sehe vor allem, wie viel Solidarität es in
dieser Gesellschaft braucht.” Da müsse
man sich dann halt entscheiden, welches
politische Konzept man habe.
Text: Corinna Emundts
Erschienen am 18. Juni 2008