Soziales Gleichgewicht bewahren, gerade im Interesse der jungen Generation: Carsten Schneider und Inge Zeller auf einem Kinderspielplatz im Berliner Tiergarten
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Streitgespräch: Inge Zeller und Carsten Schneider
Was bedeutet es heute in Deutschland, arm zu sein, und wie lässt sich die
soziale Schieflage bekämpfen? Wo treffen sich politische Rezepte und persönliche
Erfahrungen? BLICKPUNKT BUNDESTAG hat zwei unterschiedlich Betroffene
zum Streitgespräch gebeten: Inge Zeller (49), eine Diplombetriebswirtin,
die seit drei Jahren arbeitslos ist und von Hartz-IV-Leistungen leben
muss, und den SPD-Bundestagsabgeordneten Carsten Schneider (34), der
haushaltspolitischer Sprecher seiner Fraktion ist und bei seinen Wählern im
Wort steht, endlich den gewaltigen Schuldenberg des Staates abzubauen.
Blickpunkt Bundestag: Frau Zeller, können
Sie uns kurz Ihre Situation beschreiben?
Inge Zeller: Ich bin 49 Jahre alt, studierte
Betriebswirtin und habe eine Tochter.
Seit 2004 bin ich erwerbslos. Trotz aller
Bewerbungen habe ich keine neue Arbeitsstelle
gefunden. Ich arbeite inzwischen
aktiv im ver.di-Erwerbslosenausschuss
mit. Seit 2005 lebe ich von der
Grundsicherung.
Blickpunkt: Was heißt das konkret?
Zeller: Das heißt, dass ich 351 Euro
monatlich zur Verfügung habe. Davon
gehen ab Strom, Telefon, Versicherung,
wenn man sie hat, dann die Ausgaben
für Verkehr. Zum Leben bleiben mir
175 Euro. Eigentlich soll ich davon nach Meinung
der Bundesregierung noch 16 Prozent
ansparen, um defekte Geräte wie
etwa eine kaputte Waschmaschine ersetzen
zu können.
Blickpunkt: Könnten Sie von 351 Euro
im Monat leben, Herr Schneider?
Carsten Schneider: Ich weiß es nicht.
Die Antwort ist wirklich schwer. Sicher:
Ich habe früher als Azubi wirklich nicht im
Luxus gelebt. Aber heute? Das wäre
sicherlich schwierig. Das ist keine Situation,
die ich mir wünschen möchte.
Blickpunkt: Frau Zeller, empfinden Sie
sich als arm?
Zeller: In einem reichen Land wie Deutschland
will kein Mensch zugeben, dass er
arm ist. Ich stehe dazu. Ja, ich empfinde
mich als relativ arm, so wie auch die 15
Millionen anderen Deutschen es sind,
die weniger als 60 Prozent des mittleren
Einkommens, so wird Armut ja offiziell
definiert, zum Leben haben.
Blickpunkt: Ist für Sie, Herr Schneider,
Frau Zellers Lage selbst bedingt oder
stimmt etwas mit unserem Arbeits- und
Sozialwesen nicht?
Schneider: Ich kann das schwer beurteilen,
dafür müsste ich die persönliche Lage
von Frau Zeller genau kennen. Aber
klar ist: Wir haben noch immer zu wenig
Arbeitsplätze und die Zahl der Arbeitslosen
ist zu hoch. Aber es gibt seit
einigen Jahren eine Trendumkehr auf dem
Arbeitsmarkt, gerade bei denen, die kurzzeitarbeitslos
sind. Leider gibt es bei den
Langzeitarbeitslosen kaum Bewegung.
Blickpunkt: Armut wird mit statistischen
Größen definiert. Was ist für Sie Armut?
Schneider: Das ist vor allem eine Frage
der Lebensperspektive. Wenn Sie als
Student von 600 Euro BAföG leben müssen,
im Gegensatz zum Empfänger von
Arbeitslosengeld II aber noch die Miete
zu zahlen haben, haben sie etwa gleich
wenig Geld. Ein Student fühlt sich dabei
aber nicht arm, weil er eine positive
Lebensperspektive hat. Diese Perspektive
fehlt dem ALG-II-Empfänger. Er fühlt
sich ausgegrenzt.
Zeller: Das stimmt. Je länger man arbeitslos
ist, desto mehr verliert man seine
Hoffnungen. Zumal, wenn man in
meinem Alter ist. Viele Arbeitgeber stellen
keine Leute über 40 Jahre mehr ein. Leider haben Sie, Herr Schneider, bei
Ihrer positiven Trendwende etwas vergessen
zu sagen: Die spielt sich fast ausschließlich
im Niedriglohnbereich und
in der Leiharbeit ab, wo man sozial kaum
abgesichert ist.
Schneider: Hier muss ich widersprechen.
Es gibt einen großen Zuwachs auch an
sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Und die Gewerkschaften haben
erstmals wieder für ordentliche Lohnabschlüsse gesorgt.
Zeller: Das sehe ich ganz anders. Die
Politik ist gefordert und muss nun endlich
dafür sorgen, dass ein Mindestlohn
eingeführt wird, so wie in den meisten
europäischen Ländern.
Blickpunkt: Was empfinden Sie als das
Deprimierendste an Ihrer Lage, Frau
Zeller?
Zeller: Man braucht viel Kraft zum Leben.
Ich hole sie mir, indem ich sehr aktiv bin. Aber es bleibt die ständige Unterversorgung
in den verschiedenen Bereichen,
wie Wohnen, Gesundheit, Bildung,
Arbeit und so weiter. Die Angst,
dass Armut ersichtlich wird. Oder dass
man krank wird. Wenn ich für neun Tage
ins Krankenhaus käme, müsste ich von
meinen 175 Euro 90 Euro Eigenanteil
zahlen. Das wird wirklich schwierig und
ist eigentlich unzumutbar.
Blickpunkt: Wissen das die Politiker?
Schneider: Natürlich. Die 90 Euro Eigenanteil
sind ja auch die maximale Obergrenze.
Die CDU wollte eine höhere Grenze,
das hat die SPD verhindern können.
Die 90 Euro mögen schmerzlich sein,
aber ich erinnere an die amerikanischen
Verhältnisse, wo 40 Millionen Menschen ohne jede Krankenversicherung
sind. Wichtig ist, dass wir unser Gesundheitssystem
auf die alternde Gesellschaft vorbereiten.
Zeller: Ich lebe aber in Deutschland und
nicht in den USA! Und: Auch in Deutschland
zieht sich der Staat aus seiner sozialen Verantwortung zurück — siehe 351
Euro Grundsicherung. Amerika soll kein Vorbild für unsere Politiker sein.
Carsten Schneider (SPD)
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Schneider: Ist es auch nicht. Es hat bei
uns Verschiebungen, aber keine Kürzungen
gegeben. Von jedem eingenommenen
Steuer-Euro werden 70 Prozent für den
Sozialstaat ausgegeben.
Blickpunkt: Ist Frau Zeller eine typische
Armutsbetroffene? Gemeinhin gelten Menschen
mit keiner oder schlechter Ausbildung
als besonders armutsgefährdet. Beides
ist Frau Zeller nicht.
Schneider: Richtig. Es stimmt ja leider,
dass ältere Arbeitnehmer schlechtere Chancen
haben. Der Trend in vielen Unternehmen
führte in den vergangenen
Jahren zu einer radikalen Verjüngung.
Ältere wurden entweder in den Vorruhestand
geschickt oder sonst wie verabschiedet.
Das war falsch und teilweise
rächt sich das heute bereits. In vielen
Unternehmen fehlen inzwischen Erfahrung und soziale Kompetenz. Erfreulicherweise erkennen dies immer mehr Betriebe.
Blickpunkt: Wenn Sie überlegen, warum
Sie trotz ihrer guten Ausbildung und Berufserfahrung
arbeitslos sind — was läuft
aus Ihrer Sicht da falsch, Frau Zeller?
„Das Problem der
Arbeitslosigkeit löst
sich nicht, indem
der Staat die Leute
einstellt.”
Carsten Schneider
Zeller: Weil der Staat in jede Richtung
spart und dadurch massiv Arbeitsplätze
abbaut. Allein in Berlin sind in den letzten
Jahren 450.000 Arbeitsplätze verloren gegangen.
In der Bildung wird eingespart, bei
den Kindergärten, beim Grünflächenamt,
bei der Kultur — überall. Hier spart der
Staat. Erwerbslose müssen dann diese
Aufgabe als 1-Euro-Jobs verrichten.
Schneider: Es ist richtig, dass es im öffentlichen
Dienst in den letzten Jahren
einen Abbauprozess gegeben hat, der
auch notwendig war. Aber auf die Kindergärten
trifft das nun gar nicht zu,
Frau Zeller. Hier wie auch in anderen
sozialen Bereichen gibt es wieder mehr
Beschäftigung. Und ich muss Ihnen auch
sagen: Wie leben nicht mehr im Sozialismus.
Das Problem der Arbeitslosigkeit
löst sich nicht, indem der Staat die Leute
einstellt.
Zeller: Aber man kann Investitionsprogramme
auflegen und dadurch gut bezahlte
Arbeitsplätze schaffen. Man kann
längere Arbeitszeiten verhindern, Mindestlöhne
einführen.
Schneider: Bei den Mindestlöhnen bin
ich ganz auf Ihrer Seite.
Blickpunkt: Frau Zeller, glauben Sie noch
an das, was Politiker sagen? Glauben Sie
an die Selbstheilungskräfte einer sozialen
Marktwirtschaft?
Zeller: Politiker reden viel, setzen aber
wenig um. An die Grundidee der sozialen
Marktwirtschaft glaube ich weiterhin.
Blickpunkt: Wenn soziale Gerechtigkeit
nicht mehr in der Masse der Bevölkerung
empfunden wird, welche Konsequenzen,
welche Sprengkraft für unsere Gesellschaft
hat das?
Schneider: Die immer größer werdende
Spreizung der Einkommen — oben immer
mehr, unten weniger und in der Mitte ein
großer Druck — das kann nicht gut gehen.
Aber: Man kann der Politik sicher einiges
vorwerfen, dennoch gibt es auch die
Eigenverantwortung der Menschen. Viele
von ihnen erwarten, dass man für sie etwas
tut, aber sie sind selbst nicht mehr bereit,
dafür auch zu kämpfen und sich etwa
in den Gewerkschaften zu organisieren.
Zeller: Es stimmt: Es gibt eine Entpolitisierung
der Bevölkerung. Es ist ein viel zu
kleiner Kreis, der kämpft und aktiv ist.
Das bedauere ich sehr.
Blickpunkt: Und was erwarten Sie von
der Politik?
Inge Zeller
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Zeller: Dass der rigide Sparkurs aufgegeben
wird, dass die Gesetze des Sozialgesetzbuches II, wie von der Gewerkschaft
gefordert, abgeändert werden und dass die Politik einsieht, dass sie endlich investieren muss.
Schneider: Das wurde nun schon 30 Jahre
lang ausprobiert und hat doch nicht
funktioniert. Die Folge waren immer höhere
Staatsschulden. Heute geben wir im
Jahr allein 42 Milliarden Euro für Zinsen aus, das ist mehr als der Verkehrs-,
Familien- und Bildungsetat zusammen ausmachen. Also ist das zu kurzfristig
gedacht. Ein Strohfeuer hilft uns nicht weiter.
Wir müssen — auch und gerade
im Interesse der jüngeren Generation — am strikten Kurs der Haushaltssanierung festhalten.
Blickpunkt: Nicht nur die Armen und Arbeitslosen
klagen über ihre Lage, auch
die Mittelschicht sorgt sich zunehmend
vor einem sozialen Abstieg. Bricht der
Politik das Vertrauen der Bürger weg?
Schneider: Das Vertrauen der Bürger in
die Demokratie und ihre Institutionen
nimmt in der Tat ab. Die Angst vor dem Abstieg hat verheerende Wirkungen, politische wie ökonomische. Deshalb müssen wir die Stabilität der Volkswirtschaft und das Vertrauen der Bürger wieder zurückgewinnen.
Gerade deshalb ist es so wichtig, bei den Staatsfinanzen solide zu
sein, Einnahmen und Ausgaben aufeinander abzustimmen.
Zeller: O.K., aber die soziale Gerechtigkeit
darf dabei nicht unter die Räder kommen.
Es ist doch keine Frage, das Geld ist vorhanden, um höhere Sozialleistungen
zu bezahlen und kinderreiche Familien besser zu unterstützen.
Blickpunkt: Kann man gegen eine gefühlte Ungerechtigkeit von Millionen von Menschen auf Dauer Politik machen?
Schneider: Zumindest ist es schwierig.
Als ungerecht wird empfunden, wenn
oben Manager unverschämte Gehälter undAbfindungen
kassieren und unten Zehntausende
Beschäftigte rausgeschmissen
werden. Die Politik ist hier aber nur beschränkt
handlungsfähig. Die SPD schlägt
vor, durch die Begrenzung
steuerlicher
Abzugsfähigkeit solche Auswüchse
zu begrenzen. Und mit Hilfe von Mindestlöhnen
wollen wir Untergrenzen
einziehen
und für eine anständige Entlohnung sorgen.
Aber richtig ist eben auch, dass dauerhaft
Preise und Löhne nicht von der
Politik, sondern vom Markt bestimmt
werden.
Um die Chancen vieler Menschen
zu verbessern, müssen wir vor allem in
Bildung und Ausbildung investieren.
„Den Kindern
Fähigkeiten zu
vermitteln, darf doch
nicht vom Geldbeutel
abhängen.”
Inge Zeller
Zeller: Das ist sicherlich richtig. In diesem
Zusammenhang finde ich es zynisch, dass
in der Regelleistung für Bildung null Cent
vorgesehen sind. Den Kindern Fähigkeiten
zu vermitteln, ihnen eine sportliche oder
musische Erziehung zu ermöglichen, darf
doch nicht vom Geldbeutel abhängen.
Ein Kind muss sich ausprobieren dürfen.
Auch das gehört zur Bildung dazu. Und
es darf nicht sein, dass nur gut situierte
Eltern ihren Kindern Nachhilfeunterricht
geben können.
Blickpunkt: Frau Zeller, Sie werden bald
50 Jahre. Was wünschen Sie sich?
Zeller: Ein Leben in gerechterem Umfeld
ohne Ausgrenzung und mit einer Zukunft
für meine Tochter und mich.
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Interview: Sönke Petersen
Erschienen am 13. August 2008
Zur Person:
Carsten Schneider, Jahrgang
1976, ist seit 1998 Mitglied des Deutschen
Bundestages. Seit 2005 ist der
gelernte Bankkaufmann aus Erfurt haushaltspolitischer
Sprecher der SPD-Fraktion
und Obmann im Haushaltsausschuss.
E-Mail: carsten.schneider@bundestag.de
Website: www.carsten-schneider.de
Inge Zeller, Jahrgang 1958,
ist gelernte Diplombetriebswirtin, seit drei
Jahren arbeitslos und lebt von Hartz-IV-Leistungen.
Die Berlinerin engagiert sich
im Erwerbslosenausschuss der Vereinigten
Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) und im
Netzwerk gegen Armut und Ausgrenzung.
http://erwerbslose.berlin.verdi.de