Sevim Dagdelen ist zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag gewählt. Ein anderes Leben beginnt. Und es fühlt sich wirklich ganz und gar neu an.
Die „Rote Harfe“ in Berlin-Kreuzberg gefällt ihr. Gestern erst hat sie hier Radio Multikulti ein Interview gegeben und sich gedacht, dass diese Kneipe doch ein schöner Ort sei. Man kann sitzen und schauen, was die Leute treiben und wie das Leben spielt.
Die 30-jährige Duisburgerin Sevim Dagdelen ist in Berlin angekommen. Zwei Mal schon hatte sie hier ihre Zelte aufgeschlagen. Zuerst nur im Kopf, das war 1991 nach ihrem ersten Besuch in der Stadt. Da entschied die Schülerin Sevim: „Nach dem Abi gehe ich an die Humboldt-Uni und wohne in der Schönhauser Allee.“ 1998 bewarb sie sich dann an der Uni und mietete zusammen mit einem Freund eine Wohnung. Zwei Monate später hieß die Uni Marburg und die Wohnung wurde wieder gekündigt. Nun aber ist Sevim Dagdelen hier. Unter ganz besonderen Umständen angekommen in ihrer Wunschstadt oder der Stadt ihrer Wünsche. Am 18. September wurde sie in den Deutschen Bundestag gewählt. Sie ist Mitglied der Fraktion „Die Linke.“ und eine von den 147 Neuen im Parlament. Einen Stern wird sie im „Kürschner“, dem Bundestagshandbuch, bekommen. Der steht für „erste Legislaturperiode“.
Das Leben meint es gut mit ihr. Dafür hat sie viel gearbeitet und gekämpft. Als Sevim Dagdelen vor wenigen Monaten gefragt wurde, ob sie kandidieren will für die Linkspartei, hatte sie zwei Tage Zeit zu überlegen. Einen Tag blieb sie allein zu Hause und sortierte im Kopf Chancen und Risiken. Ihr Studium der Rechtswissenschaften war noch nicht abgeschlossen, sie hatte ein Jahr in Australien verbracht, Berufserfahrung als übersetzerin und Journalistin gesammelt und sich seit vielen Jahren politisch engagiert – zuerst als Schülersprecherin, später in einem Dachverband türkischer Vereine und seit März 2005 im Bund der Migrantinnen.
Sich einzumischen hat ihr immer gefallen. „Abgeordnete des Bundestages zu werden, dort linke Politik zu machen, für möglichst viele Menschen und mit anderen zusammen, das klang gut. Ich interessiere mich seit meinem 14. Lebensjahr für Politik. Aber...“, sagt Sevim Dagdelen und malt mit der rechten Hand ein Zeichen in die Luft, „... ich hatte Zweifel am Anfang. Das Wichtigste für einen Menschen ist doch, ein glückliches Leben zu führen. Und ich wusste nicht, ob ich hiermit glücklich werden kann. Wenn ich mich vier Jahre lang mit Menschen auseinander setzen muss, die ganz andere Inhalte vertreten und ganz andere Ziele haben als ich. Politik wird auch auf der Straße und außerhalb von Parlamenten gemacht, habe ich gedacht. Und vielleicht gehöre ich da eher hin.“
Am zweiten Tag redete Sevim Dagdelen mit ihren Freunden und mit ihrer ältesten Schwester. Fast alle haben ihr zugeraten, ihre Schwester auch. Eine Freundin sagte: „Tu es nicht.“ Am Ende waren die Risiken nicht aus dem Kopf verschwunden, aber die Chancen hatten Gestalt angenommen. „Die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag sind klar. Ich will mit anderen dafür kämpfen, dass die gesellschaftliche Opposition gestärkt wird – in und außerhalb von Parlamenten. Ich bin das erste in Deutschland geborene Kind meiner türkischen Familie, die 1973 nach Duisburg kam. Zuerst mein Vater, der als Gastarbeiter bei Thyssen Lokrangierführer wurde, dann meine Mutter mit meinen beiden älteren, in der Türkei geborenen Schwestern. Wir sind sechs Geschwister. Und mein Interesse an Politik ist auch aus der Erkenntnis entstanden, dass sozialer Status und Migrationshintergrund bedeuten: Das Leben hält weniger Angebote bereit und man muss härter kämpfen, um sich seine Träume zu erfüllen.“
Jetzt ist ein Traum in Erfüllung gegangen, den die junge Frau eigentlich gar nicht hatte. Das ist schon etwas ganz Besonderes. Und vielleicht auch ein wenig eigenartig. „Alle in der Familie sind stolz und haben sich mit mir und für mich gefreut.“ Nun hält Sevim Dagdelen doch einen Moment inne und schaut aus dem Fenster und setzt die schmale Brille mit dem schwarzen Gestell auf, die sie etwas strenger aussehen lässt. Aber nicht wirklich streng. Das liegt vielleicht daran, dass sie sehr viel lächelt und fast alles, was sie sagt, mit schwungvollen Handbewegungen untermalt. Möglicherweise hat auch der grüne Lidschatten einen Anteil. Schöne Farbe, denkt man, und: Passt großartig zum Armband.
Die ersten Tage in Berlin und im Parlament sind hektisch und natürlich ein wenig chaotisch. Noch war keine Zeit, sich eine Wohnung zu suchen. Deshalb ist die Abgeordnete erst mal zu Freunden nach Neukölln gezogen. Noch war keine Zeit, sich die Picasso-Ausstellung anzusehen. Goya hat sie schon verpasst. Immer war die Schlange der Wartenden vor dem Museum zu lang und die Zeit zu kurz. Noch war keine Gelegenheit, sich wirklich an den Gedanken zu gewöhnen, dass man von nun an Teil einer Fraktion ist und dass ein anderes Leben beginnt. „Ich möchte in den Innenausschuss. Und ich will“, sagt Sevim Dagdelen selbstbewusst, „migrationspolitische Sprecherin meiner Fraktion werden.“ Noch ist die Arbeit nicht verteilt innerhalb der Fraktion, gerade erst werden Räume, Telefonnummern, Computer eingerichtet.
Alles fängt gerade erst an. Bei der konstituierenden Sitzung saß die junge Frau aus Nordrhein-Westfalen zum ersten Mal im Plenarsaal und versuchte sich vorzustellen, wie es sein wird, da vorne am Rednerpult zu stehen. „Es ist ein neues Gefühl. Ich kannte diesen Saal nur aus dem Fernsehen. Und ich wusste, das wird jetzt mein Arbeitsplatz sein, hier werde ich mich behaupten. Das wird nicht einfach, aber ich werde nicht den Mut zu träumen verlieren. Meine Träume sind mir wichtig und geben mir Kraft. Ich will, dass die Welt besser und gerechter wird, und dafür werde ich innerhalb und außerhalb des Plenarsaales kämpfen.“
Text: Kathrin Gerlof
Fotos: studio kohlmeier
Erschienen am 01. Dezember 2005
E-Mail an Sevim Dagdelen: sevim.dagdelen@bundestag.de
Abgeordnetenliste der Links-Partei: www.linksfraktion.de/mdb