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Gültig ab: 14.06.2007 10:19
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Herausbekommen, was Menschen brauchen

Blick auf Görlitz über die Lausitzer Neiße.
Blick auf Görlitz über die Lausitzer Neiße.
© DBT/studio kohlmeier


Michael Kretschmer (CDU/CSU).
Michael Kretschmer (CDU/CSU).
© DBT/studio kohlmeier


Michael Kretschmer in der Mittelschule Ostritz.
Michael Kretschmer in der Mittelschule Ostritz.
© DBT/studio kohlmeier


Schülerin in der Mittelschule Ostritz.
Schülerin in der Mittelschule Ostritz.
© DBT/studio kohlmeier


Michael Kretschmer im Kinderheim Görlitz.
Michael Kretschmer im Kinderheim Görlitz.
© DBT/studio kohlmeier


Bunte Kuh vor dem Görlitzer Kinderheim.
Bunte Kuh vor dem Görlitzer Kinderheim.
© DBT/studio kohlmeier


Im Kinderheim Zgorzelec.
Im Kinderheim Zgorzelec.
© DBT/studio kohlmeier


Puppe im Kinderheim Zgorzelec.
Puppe im Kinderheim Zgorzelec.
© DBT/studio kohlmeier


Michael Kretschmer begutachtet das Plakat für die Kinderheime in der Agentur "Die Partner".
Michael Kretschmer begutachtet das Plakat für die Kinderheime in der Agentur "Die Partner".
© DBT/studio kohlmeier


Kinder beim Hörfunkprojekt SAEK.
Kinder beim Hörfunkprojekt SAEK.
© DBT/studio kohlmeier


Michael Kretschmer trägt sich ins Freundinnenbuch ein.
Michael Kretschmer trägt sich ins Freundinnenbuch ein.
© DBT/studio kohlmeier


Tagesläufe: Michael Kretschmer (CDU/CSU)

Für Michael Kretschmer ist Wahlkreisarbeit oft mit Grenzüberschreitung verbunden. Das schärft den Blick und macht ihn weit. Gut für einen Abgeordneten.

Der kalte Wind hat sich an diesem Morgen gelegt. Geblieben ist ein strahlend blauer Himmel über Görlitz. Der macht die Stadt zum Verlieben schön. Wahrscheinlich aber muss man sie auch bei Regen mögen. Görlitz ist ein Kleinod. Ein Umweltminister nannte die Stadt an der Neiße einmal das „Tafelsilber der Einheit”. Es wurde nicht verscherbelt in den vergangenen Jahren, sondern gehütet und geputzt. 1991 schon wurde Görlitz in die Arbeitsgemeinschaft historischer Städte aufgenommen und zur Modellstadt für die Altbausanierung erklärt. Heute ist Görlitz, auf polnischer Seite heißt die Stadt Zgorzelec, ein gutes Stück Europa. Die Stadt verkörpert alle Möglichkeiten und Chancen, die durch die Osterweiterung der Europäischen Union gegeben sind. Vor zehn Jahren wurde sie dafür mit der Europamedaille ausgezeichnet, ein Jahr später proklamierte man die Europa-Stadt „Görlitz-Zgorzelec”.

Zu DDR-Zeiten, erzählt Michael Kretschmer, war Görlitz die Stadt mit der höchsten Selbstmordrate und dem langsamen Verfall preisgegeben. Man habe die Luft schlecht atmen und die Welt nicht sehen können. Man lebte am Rande.

Michael Kretschmer kennt die Stadt, die 1945 auf Beschluss der Potsdamer Konferenz geteilt wurde durch die zum Grenzfluss erklärte Neiße, in schlechten und guten Zeiten. Das bindet und verbindet. Er ist hier 1975 geboren, hier aufgewachsen und zur Schule gegangen. Er hat in Görlitz eine Ausbildung zum Büroinformationselektroniker gemacht und danach in Dresden studiert. Er saß nach der Wende in der kreisfreien Stadt Görlitz im Stadtrat und hat so begonnen, Politik zu machen. Heute ist er Abgeordneter der CDU/CSU im Deutschen Bundestag und Generalsekretär der Sächsischen Union. In anderen Bereichen des Lebens würde so einer als Shootingstar tituliert. Neidisch muss man deshalb nicht sein, denn das, was Michael Kretschmer zu tun hat, ist anstrengende Arbeit. Das mobile Telefon taktet den Tag. Man muss ein System entwickeln, um sich dem nicht vollständig zu überlassen. Man muss lernen, auf „lautlos” zu stellen, wenn man Auge in Auge mit anderen Menschen redet. Man muss Prioritäten setzen und darf andere nicht spüren lassen, wie groß jetzt gerade der Druck ist und wie viele andere Dinge noch geregelt werden müssten.

Es mag ein Zufall sein oder nicht, aber dieser Tag in Deutschlands östlichstem Wahlkreis ist für den Abgeordneten Kretschmer so eine Art Kindertag. Oder Jugendtreff. Er beginnt in der Mittelschule Ostritz. Um dahin zu kommen, fährt man eine kleine Tour durch den Wahlkreis und hört die eine und andere Geschichte. Michael Kretschmer beherrscht sowohl den großen historischen Abriss alsauch die kleinen Anekdoten am Rande, die von Liebe, Fehde, Buße, Familienzwist, menschlichen Schwächen und regionalen Besonderheiten erzählen. In Görlitz, denkt man beim Zuhören, ging schon vor langen Zeiten ganz schön was ab. Und woher kommt eigentlich der Begriff „Umgebindehaus”, den der Abgeordnete hier gerade benutzt?

Wer macht den Anfang?

Zwei 10. Klassen der Mittelschule Ostritz sind mit Michael Kretschmer verabredet. Die Schülerinnen und Schüler haben vor einiger Zeit den Deutschen Bundestag besucht. Damals hatte der Abgeordnete keine Möglichkeit für Gespräche. Das holt er nun nach.

Er zieht das Jackett aus, krempelt die Hemdsärmel hoch, lockert die Krawatte ein wenig und beginnt zu erzählen. Von sich, seinem Werdegang, der Arbeit im Bundestag, den Abläufen in einer Sitzungswoche. Er spricht darüber, was sächsische Abgeordnete beschäftigt — Braunkohleförderung zum Beispiel, fehlende Arbeitsplätze, Ausbildung, Kreisgebietsreformen, Schulpolitik, deutsch-polnische Nachbarschaften.

Irgendwann sagt der 32-Jährige: „Jetzt ihr. Ich will wissen, was ihr denkt und wie es euch geht.” Und dann entsteht die klassische Pause, in der alle darauf warten, dass jemand anfängt. Nicht einfach ist das. Die Jungs gucken ziemlich cool, die Mädchen flüstern miteinander, der Lehrer sitzt und hofft wahrscheinlich, dass jemand den Anfang macht. Michael Kretschmer kennt das und er weiß, dass jetzt die direkte Ansprache am besten hilft. Er läuft durch den Klassenraum und fragt die eine und den anderen: „Hast du schon einen Ausbildungsplatz? Wie viele Bewerbungen hast du geschrieben? Wie hat es dir in Berlin gefallen? Wieso willst du Koch werden? Hast du in den Ferien ein Praktikum gemacht? Welche Fragen beschäftigen dich?” Langsam kommt Bewegung in die Sache. Die Stimmung und die Antworten schwanken zwischen hoffnungsvoll und resigniert, ein bisschen wütend manchmal: Warum es immer noch so sei, dass Frauen für die gleiche Arbeit oft weniger Geld als Männer bekämen, wieso es hier Stillstand gebe und im Nachbarland Polen nicht, wo der wirtschaftliche Aufschwung bleibe, was jetzt mit der Braunkohle werde, wer auf die Idee gekommen sei, ein durchgestrichenes Hakenkreuz verbieten zu wollen, wie jemand, der körperlich schwer arbeitet, bis 67 durchhalten könne?

Michael Kretschmer sagt später, er besuche sehr häufig Schulen in seinem Wahlkreis und es gebe da unterschiedliche Erfahrungen. Manchmal komme man wirklich ins Gespräch, oft sei es ein schwieriges Unterfangen, in so kurzer Zeit Vertrauen herzustellen. „Ich mache das gern”, sagt er, „es ist wichtig für meine Arbeit.”

Sprung aus der Not

Nach der Schule Kinderheim. Zwei Kinderheime, eins in Görlitz und eins in Zgorzelec, die den gleichen Namen tragen: Janusz Korczak. Die Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung in Görlitz-Weinhübel wird von der Stiftung Diakonie-Sozialwerk Lausitz betrieben und beherbergt rund 70 Kinder. Knapp 60 Kinder werden im polnischen Partnerkinderheim betreut. Unterschiedlich gut sind die Ausstattung und der Zustand der Gebäude, gleich ist der Anspruch, Kindern in Not ein zeitweiliges oder dauerhaftes Zuhause zu geben, Zuwendung zu zeigen, professionelle Hilfe für Kinder und Eltern anzubieten. Michael Kretschmer hat, gemeinsam mit anderen, die Initiative für ein Benefizkonzert ergriffen, das im Juni in Görlitz stattfinden soll und dessen Erlös beiden Kinderheimen zugutekommen wird. Heute ist ein Filmdreh geplant — für gute Vorhaben muss Öffentlichkeit hergestellt werden. Man trifft sich mit einem Drehteam des Lokalsenders eRTV zuerst in den Räumen der sogenannten Notfallwohngruppe im Kinderheim Görlitz, wo drei kleine Mädchen Wortführerinnen sind und die ganze Gesellschaft in Atem halten. Mit dabei sind ein Pater der katholischen Kirche, der später im polnischen Kinderheim die Rolle des Übersetzers übernimmt, und Lutz Kühne von der Agentur „Die Partner”, die für den guten Zweck ein schönes Plakat entworfen hat, das man sich am Nachmittag in den Räumen der Agentur gemeinsam anschauen wird.

In beiden Kinderheimen wird viel und intensiv miteinander geredet. In Zgorzelec stellt sich ein Projekt vor, das in den Räumen des dortigen Heimes Beratung und Hilfe für in Deutschland straffällig gewordene polnische Bürger und ihre Angehörigen anbietet.

Michael Kretschmer erfährt, welche Wünsche man sich von dem Erlös des Benefizkonzertes erfüllen möchte: Ein Trampolin, ein gemeinsamer Ausflug der Kinder aus beiden Heimen, neue Möbel und Spielzeug für die Kleinsten. Der Abgeordnete hofft und wünscht, dass es für alles reichen möge. Von Zgorzelec geht es zurück über die Grenze nach Görlitz – Grenzüberschreitungen sind in solch einem Wahlkreis Alltag. Man kann beobachten, wie die Menschen sich näherkommen und Gemeinsamkeiten wachsen. Wahlkreisarbeit ist hier immer auch Europapolitik. Michael Kretschmer schätzt das.

Späte Mittagspause im Patrizierhaus St. Jonathan. Die Mitarbeiterin des Wahlkreisbüros, Bernadette Lechner, kommt dazu, man klärt schnell ein paar Dinge, telefoniert, holt ein bisschen Luft.

Stunde der Wahrheit

Nach dem Besuch in der Agentur „Die Partner” — das Plakat ist wirklich schön geworden — stehen ganz junge Medienmacher auf dem Programm. Seit 1997 gibt es das Projekt Sächsische Ausbildungs- und Erprobungskanäle, SAEK. Teil davon sind Hörfunkprojekte mit Schülerinnen und Schülern in verschiedenen Städten. Michael Kretschmer wird heute im Studio in der Straßburgpassage erwartet, von Martin, Tom, Nora, Hedwig, Lisa und Moritz. Fünf Jahre alt der Jüngste, zehn der Älteste. Sie werden ein Interview mit dem Abgeordneten führen für eine Sendung, die sie regelmäßig produzieren und die auch auf den Erprobungskanälen ausgestrahlt wird. Alle können etwas beitragen zur Sendung, wer noch nicht schreiben kann, malt das Wetter und erzählt später vor dem Mikrofon, was er gemalt hat.

Das ist die Stunde der Wahrheit. Nicht nur, weil Michael Kretschmer aufgefordert wird, sich in ein pinkfarbenes Freundinnenbuch einzutragen — mit Foto. Nicht nur, weil ihm von den Mädchen erklärt wird, dass Brad Pitt so ziemlich der bestaussehende Mann der Gegenwart ist. Nicht nur, weil er sein Lieblingsessen nennen und sich damit in Konkurrenz zu Kasslerbraten und Nudeln Polonaise — das ist doch ein Tanz, oder? — begeben muss. Nicht nur, weil er gebeten wird, Autogramme zu geben. Sondern vor allem, weil ihm im Aufnahmestudio eine Menge Fragen gestellt werden, von denen manche eine abendfüllende Diskussion sein könnten: Warum sind Sie Politiker geworden, was macht Ihnen bei Ihrer Arbeit Spaß, warum heißen Politiker eigentlich Politiker, was machen Sie den ganzen Tag? Ja, was macht der Michael Kretschmer eigentlich den ganzen Tag? Arbeiten, sagt er und gibt damit die kürzeste aller möglichen Antworten. „Ich versuche herauszubekommen, was die Menschen wollen und brauchen, und ich überlege dann, ob ich ihnen dabei helfen kann, zu bekommen, was sie brauchen.”

Michael Kretschmer wird an diesem Abend, wie an fast jedem anderen Abend, den er in seinem Wahlkreis verbringt, auf Achse sein. Um herauszubekommen, was die Menschen wollen und brauchen. Und die wollen von einem Generalsekretär das eine und erwarten von einem Bundestagsabgeordneten das andere und möchten, dass das eine und das andere den gleichen Menschen kenntlich macht und planvoll ist und zugewandt und klug. Das ist anstrengende Arbeit. Auch bei strahlend blauem Himmel.

Text: Kathrin Gerlof,
Erschienen am 18. Juni 2007

Weitere Informationen

Michael Kretschmer (CDU/CSU)
michael.kretschmer@bundestag.de
www.michaelkretschmer.de

Infos zum Wahlkreis:
www.goerlitz.de
www.nol-kreis.de
www.kreis-zi.de

Website Zgorzelec:
www.zgorzelec.com


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