Als sie vor 25 Jahren in den Bundestag einzog, predigte sie Sanftmut und forderte Raum für Utopien. Heute ist Marieluise Beck die letzte Abgeordnete der Grünen aus der ersten Legislaturperiode. Sie nennt sich eine „glühende Parlamentarierin” und schätzt den Politikstil Angela Merkels. Was ist geblieben von den großen Zielen von damals?
Es ist ein seltsamer Aufzug,
der sich am 29. März 1983
durch das Regierungsviertel
in Bonn auf den Deutschen
Bundestag zubewegt: Vorneweg rollt
eine Erdkugel in Form eines riesigen
Gummiballs, dahinter trottet eine bunte
Truppe von Friedensaktivisten und
Atomkraftgegnern, Frankfurter Spontis
und bürgerlichen Naturschützern.
Manche sehen in ihren verbeulten Jeans
und Lederjacken aus, als ob sie direkt
vom Hausbesetzerplenum oder vom
Biobauernhof kämen. Mittendrin marschiert
eine junge Frau mit kurzen
Haaren und großen Augen: Marieluise
Beck-Oberdorf, wie Marieluise Beck damals
nach ihrem ersten Ehemann heißt.
Den Bundestag kennt die 30-jährige
Grüne aus Baden-Württemberg bis
zu diesem Moment nur als Ziel von
Demonstrationen. Wie ihre 27 neu ins
Parlament gewählten Fraktionskollegen
will sie das politische Establishment
provozieren. Die „Antiparteien-Partei”,
wie Gründungsmitglied Petra Kelly die
Grünen nennt, macht aus ihrem Einzug
in das Parlament ein Happening: Der
Globus, der Baumstamm von der umkämpften
Frankfurter Startbahn-West
und eine abgestorbene Tanne, deren
Stamm auch auf Marieluise Becks
Schulter ruht, symbolisieren die wichtigsten
Ziele der neuen Fraktion. Die
hat sich vorgenommen, das politische
System in Deutschland und auch das
Parlament gründlich zu verändern.
Rauschebärte und Strickpullis
Ein Vierteljahrhundert später sitzt
Marieluise Beck mit akkurat geschminkten
Lippen und rotem Samtjackett in einem
Saal des Reichstagsgebäudes in der
ersten Reihe und sieht die Fernsehbilder
von damals. Immer wieder schüttelt sie
den Kopf über den Film, der sie selbst im
Plenarsaal neben Helmut Kohl, Hans-Jochen Vogel und Rainer Barzel in wallenden
Kleidern zeigt. Die Erinnerungen,
die wieder hochkommen, treiben sie um.
Die Grünen-Fraktion feiert ihren
25. Geburtstag und zeigt den NDRDokumentarfilm
„Lust und Frust — Die
Grünen im Bundestag” aus dem Jahr
1983. Da sind sie wieder, die Männer mit
den Rauschebärten und Frauen in selbst
gestrickten Pullis mit den Sonnenblumen
auf den Abgeordnetenpulten, die äußerlich
so wenig gemein haben mit ihren
Nachfolgern von heute. Die nämlich
unterscheiden sich kaum mehr von den
Kollegen aus den anderen Fraktionen.
Überhaupt ist der ganze Stil deutlich lässiger
geworden verglichen mit damals,
als vorwiegend Männer in gedeckten
Anzügen den Plenarsaal bevölkerten. Als
das Licht wieder angeht und Marieluise
Beck ans Pult tritt, verspricht sie, nicht
wieder zu weinen. Der Saal lacht. Denn
damals, in der ersten Legislaturperiode
der Grünen, stand sie als eine der
Sprecherinnen der neuen Fraktion nach
wenigen Wochen mit Tränen in den
Augen vor ihren Abgeordneten. Ihr
Ko-Sprecher Otto Schily, heute längst
Sozialdemokrat, hatte sie hart angegriffen.
Der Grund: Sie hatte Kanzler Helmut
Kohl einen vom sauren Regen zerstörten
Tannenzweig übergeben, ohne zuvor einen
Fraktionsbeschluss über diese symbolische
Handlung eingeholt zu haben.
Wenige Stunden nach der Feier zum
25. Geburtstag ihrer Fraktion kommentiert
sie die selbstzerstörerische Leidenschaft
der ersten Grünen-Abgeordneten
noch einmal. „Wir haben diskutiert, als
ob es um Leben und Tod ging”, sagt die
Politikerin, die schon lange in Bremen lebt,
auf einem Podium, wo sie das Erscheinen der Sitzungsprotokolle der Fraktion aus
jener ersten Legislaturperiode debattiert.
Ablehnung ist es nicht, die aus diesem
Urteil spricht, eher Sympathie.
Atomausstieg bis Zuwanderung
Neben ihr auf dem Podium sitzt der
CSU-Politiker Wolfgang Bötsch, damals
parlamentarischer Geschäftsführer der
Unionsfraktion und später Bundespostminister.
Er erinnert mit gemütlich-fränkischem
Zungenschlag an das drastische
Urteil, das er damals über die seltsamen
Neulinge im Hohen Haus fällte. Er hielt
die Provokateure schlicht für „Spinner”
und glaubte, sie würden sehr schnell wieder
von der politischen Bühne abtreten.
Doch diesen Gefallen taten die Grünen
weder Bötsch noch den vielen anderen
entsetzten Politikern der „Altparteien”
CDU, CSU, SPD und FDP. Eine glühende
Anhängerin des Parlamentarismus
war Marieluise Beck nicht, als sie in den
Bundestag einzog — im Gegenteil. Die
Anti-Atomkraft-Partei wollte das Hohe
Haus vor allem als Bühne für die Ziele
der Protestbewegung nutzen. „Wenn
dieses Parlament noch einen Sinn haben
soll, muss es Raum bieten für Utopien,
die machbar sind”, forderte Beck im
Plenum. Und sie predigte „Gewaltfreiheit,
Toleranz und Sanftmut”.
Text: Hans Monath
Erschienen am 18. Juni 2008
Marieluise Beck
Mit fast 20 Jahren im Bundestag gehört Marieluise
Beck zu den erfahrenen Abgeordneten im Parlament. 1983 wurde
die studierte Lehrerin über die baden-württembergische Landesliste
der Grünen gewählt, schied jedoch zwei Jahre später wegen des
Rotationsprinzips wieder aus. Über die Landesliste Bremen zog sie
von 1987 bis 1990 wieder in den Bundestag ein, dem sie seit 1994
durchgehend angehört. Von 1991 bis 1994 war sie Mitglied der
Bremischen Bürgerschaft. Sie war Ausländerbeauftragte der Bundesregierung
(1998 bis 2005, ab 2002 Beauftragte der Bundesregierung
für Migration, Flüchtlinge und Integration) und Staatssekretärin im
Bundesfamilienministerium (2002 bis 2005). Marieluise Beck ist
Vizepräsidentin der Deutsch-Israelischen Gesellschaft.
E-Mail: marieluise.beck@bundestag.de
Website: www.marieluisebeck.de