Auf dem Weg der Entspannung gibt es viele Hindernisse: Gert Weisskirchen hinter Stacheldraht
© DBT/Anke Jacob
Gert Weisskirchen (SPD)
Sein halbes Leben lang sitzt Gert Weisskirchen schon im Bundestag, seit vielen Jahren widmet sich der SPD -Abgeordnete der
Außenpolitik und beschäftigt sich dabei mit den Krisenregionen dieser Welt: Afghanistan, Irak und nun auch Georgien. „Reden, reden, reden, damit nicht
geschossen wird” – das ist sein Credo für die Lösung von Konflikten. Geprägt haben ihn dabei Erfahrungen aus einer ganz anderen
Region.
Vielleicht fing alles mit diesem
Brief an. Im Jahr 1968
bekam Walter Ulbricht
Post aus Heidelberg. Darin
drohte ein 24-jähriger Juso dem Staatsratsvorsitzenden
der DDR, alle Beziehungen
zur FDJ sofort einzustellen, wenn
die SED sich nicht öffentlich vom Einmarsch
in die Tschechoslowakei distanzieren
würde. Eine Antwort erhielt der
junge Mann nicht.
Vierzig Jahre später sitzt der Verfasser
des Briefes in seinem großen,
hellen Eckbüro Unter den Linden in
Berlin, gegenüber erinnert das verlassene
Aeroflot-Gebäude an den Zusammenbruch
der Sowjetunion. Gert Weisskirchen
ist heute außenpolitischer
Sprecher
der SPD-Bundestagsfraktion.
Irgendwo in den Papierbergen, die vom
Schreibtisch auf die Besucherstühle,
das Sofa, die Fensterbank ausgewichen
sind, liegt auch ein Buch über das Jahr
1968. Weisskirchen hat das Jahr der
Revolte anders erlebt als viele seiner
Altersgenossen.
„Die OSZE versucht
immer wieder neu,
Dinge in Gang zu
setzen, Blockaden
aufzuheben, Bremsen
zu lockern.”
Sein 1968 spielt nicht
in Berlin, nicht in Paris, sondern in
Prag: die sowjetischen Panzer, die den
kurzen Prager Frühling beenden und
die Demokratiebewegung überrollen.
Wenig später sucht er den Kontakt zu
Dissidenten in der Tschechoslowakei,
aber auch in Polen, Ungarn und der
Sowjetunion. An diesen Menschen bewundert
er die Unbeugsamkeit, den
Mut. „Wir Europäer müssen wissen:
Freiheitssehnsucht ist etwas, das uns
alle miteinander verbindet, und wenn
die unterdrückt wird, müssen wir solidarisch
sein.” Das System, das diese
Sehnsucht im Keim ersticken wollte, ist
längst Geschichte, doch die Erfahrungen
aus dieser Zeit haben Weisskirchen nicht
losgelassen, prägen ihn bis heute.
Was für ein merkwürdiger historischer
Zufall: Vierzig Jahre nach dem
Prager Frühling rollten wieder russische
Panzer in ein kleines Land. Schnell
wurde der Krieg in Georgien in einem
Atemzug genannt mit den Ereignissen
von damals, doch Weisskirchen hält von
so einem Vergleich nichts. Die Schuld
an diesem Krieg sieht er nicht allein
bei den Russen, auch die Georgier haben
aus seiner Sicht zur Zuspitzung des
Konflikts beigetragen. Der 64-jährige
Bundestagsabgeordnete macht es sich
nicht leicht, nicht nur bei diesem Thema.
„Europa sollte auf
jeden Fall an seiner
Grundhaltung
gegenüber Russland
festhalten, und
die heißt: Russland
einbinden.”
Er ist ein bedächtiger, nachdenklicher
Redner, keiner, der Sachverhalte stets
fernsehtauglich auf ein kurzes, griffiges
Zitat zuspitzt. Hin und wieder macht er
kurze Pausen, als wolle er während des
Redens noch einmal kurz innehalten,
um zu erspüren, ob er auch wirklich
die richtigen Worte gewählt hat. Dann
sagt er leise, aber bestimmt: „Wir haben
hier eine Verletzung des Völkerrechts
von zwei Seiten.” Den Kaukasuskrieg
und die darauf folgende Anerkennung
der abtrünnigen georgischen Regionen
Südossetien und Abchasien durch Russland
sieht Weisskirchen als dramatischen
Rückschritt. Wie diese Entwicklung aufgefangen
werden könne, sei noch gar
nicht zu sagen.
Eingefrorene Konflikte
Eine Antwort auf diese Frage sucht auch
die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit
in Europa (OSZE), die
sich der Friedenssicherung und dem
Schutz der Menschenrechte verschrieben
hat. Nach dem Kaukasuskrieg beschlossen
die 56 Mitgliedsstaaten, deutlich
mehr Militärbeobachter in die Region
zu schicken. Doch die Verhandlungen
über die Details der Mission platzten –
weil OSZE-Mitglied Russland zu viele
Einwände hatte und die Zustimmung verweigerte.
Statt 100 Militärbeobachtern
sind jetzt also gerade einmal 28 vor Ort.
Und auch deren Arbeit wurde immer
wieder massiv behindert. Von einem
Scheitern will Weisskirchen, der in der
Parlamentarischen Versammlung der
OSZE sitzt, trotz allem nicht sprechen.
Er weiß, dass Konfliktvermittler vor allem
eines brauchen: Geduld. „Das ist das
ständige Geschäft. Die OSZE versucht
immer wieder neu, Dinge in Gang zu
setzen, Blockaden aufzuheben, Bremsen
zu lockern.” Auf diesem mühsamen
Weg solle die OSZE weitermachen, fordert
Weisskirchen, und an der Lösung
der „eingefrorenen Konflikte” arbeiten:
Südossetien, Abchasien, Transnistrien,
Berg-Karabach. „Das Wichtigste bei diesen
Konflikten ist immer, dass man redet,
redet, redet, damit nicht geschossen
wird”, sagt er.
Wenn Weisskirchen in seinem Wahlkreis
Rhein-Neckar oder anderswo in
Deutschland von seinem Engagement
in der OSZE spricht, muss er seinen
Zuhörern einiges erklären. Nur wenigen
ist die Organisation überhaupt ein
Begriff. In Osteuropa, Russland oder
Zentralasien dagegen ist das ganz anders,
das hat der Abgeordnete auf seinen
Reisen immer wieder erlebt. In
Kasachstan oder in Turkmenistan kenne
jeder die OSZE, sagt er. Heute schafft
sie es immer dann in die Schlagzeilen,
wenn ihre Beobachter in den Ländern
der früheren Sowjetunion neben Wahlurnen
stehen und die Einhaltung demokratischer
Standards einfordern. Aber
das Vertrauen, das die OSZE in dieser
Weltgegend genießt, hat noch viel
tiefere Wurzeln: Schließlich ist sie
aus der Konferenz für Sicherheit und
Zusammenarbeit (KSZE) hervorgegangen,
die maßgeblich zur Entspannung
zwischen dem Westen und der Sowjetunion
beigetragen hat und damit den
Kalten Krieg beenden half.
© DBT/Anke Jacob
Dialog mit Russland
Als der Georgienkonflikt das Verhältnis
zwischen Russland und dem Westen mit
einem Schlag stark abkühlte, sahen viele
schon einen neuen Kalten Krieg heraufziehen.
Diesen Vergleich hält Weisskirchen
für falsch, schon deshalb, weil
heute nicht zwei Systeme gegeneinander
stehen. Außerdem warnt er vor einer
sich selbst erfüllenden Prophezeiung –
einer Situation, die Wirklichkeit wird,
nur weil man sie herbeiredet.
Von einem Kurswechsel gegenüber
Russland rät der erfahrene Außenpolitiker
eindringlich ab: „Europa sollte
auf jeden Fall an seiner Grundhaltung
gegenüber Russland festhalten, und die
heißt: Russland einbinden.” Das sei das
Leitmotiv. Zugleich solle man Moskau
aber sagen, „was geht und was nicht
geht”. Wenn Russland etwa im Völkerrecht
eine Linie überschritten habe,
dann müsse man das auch sagen.
Über den richtigen Umgang mit
Russland sind in Deutschland mit schöner
Regelmäßigkeit Variationen der
gleichen Kontroverse zu hören: Die einen
fordern deutlichere Worte gegenüber
Moskau und damit mehr kritische
Distanz, die anderen favorisieren eine
„Annäherung durch Verflechtung“, wie
es Bundesaußenminister Frank-Walter
Steinmeier formuliert hat. Und wie hält
es Weisskirchen mit Russland? Vielleicht
ist es bezeichnend für ihn, dass er sich
gerade nicht auf eine Seite schlagen will,
sich nicht einem der beiden Lager zuordnen
lassen will. Vor die Wahl gestellt,
entscheidet er sich für eine „Mischung”:
Er tritt dafür ein, Russland deutlich und
auch öffentlich die Meinung zu sagen,
wenn es um Pressefreiheit, Wahlrecht, die
Lage der Nichtregierungsorganisationen
und überhaupt die „Kernsubstanz von
Werten” geht (dabei mag er den Begriff
Werte eigentlich gar nicht). „Aber auf
der anderen Seite müssen wir die
Türen offen halten oder wieder öffnen,
damit man gemeinsam Räume
neu betreten kann.” Dieses vorsichtige
Erkunden kennt Weisskirchen aus eigener
Anschauung: In der Deutsch-
Russischen Parlamentariergruppe, deren
Vorsitzender er ist, wird der Dialog
manchmal zur Gratwanderung. Beide
Seiten sprechen dabei an, was ihnen am
jeweils anderen Land missfällt. Beim
letzten Treffen ging es aber auch darum,
wie die Deutschen bei der Modernisierung
Russlands helfen können.
Neben den Beziehungen zu Russland
arbeiten sich die Deutschen immer
wieder am Verhältnis zu den USA
ab. SPD-Fraktionschef Peter Struck
empfahl Deutschland vor einiger Zeit
eine „Äquidistanz“ zu Moskau und
Washington. Damit kann Weisskirchen
nichts anfangen: „Ich mag solche Formeln
nicht, die in der Politik wenig helfen.
Es kommt darauf an, was wir tun
und wie wir es tun.” Es gehe um die
Lösung von Problemen. Weisskirchen
plädiert generell für mehr Pragmatismus
in der Politik, er ist einer, der ganz unideologisch
und pragmatisch die Welt
verbessern möchte.
Kein Wunder, dass ihn Afghanistan
in den vergangenen Wochen besonders
beschäftigt hat. Die Entscheidung, das
Mandat der Bundeswehr zu verlängern
und noch mehr deutsche Soldaten an den
Hindukusch zu schicken, macht er sich
nicht leicht. Alles, was mit Mandaten
zu tun habe, sei mit großen inneren
Konflikten verbunden, sagt er. „Der
Bundestag entscheidet hier über Leben
und Tod.” Man müsse sich bei solchen
Entscheidungen immer wieder „hart
und gewissenhaft prüfen“. Und so lässt
der SPD-Abgeordnete indirekt genau die
Zweifel anklingen, über die viele seiner
Kollegen gar nicht erst reden wollen.
Weil ihm die Zwischentöne, die
Nuancen wichtiger zu sein scheinen als
das Eindeutige, ist er eigentlich nie mit
plakativen Aussagen in den Schlagzeilen
gelandet. Obwohl nur ganz wenige Abgeordnete
länger im Bundestag sitzen
als Weisskirchen und er schon seit neun
Jahren außenpolitischer Sprecher seiner
Fraktion ist, muss er nicht fürchten, häufig
in Berlin auf der Straße angesprochen zu
werden. Umso bemerkenswerter erscheint
die Anerkennung, die Weisskirchen in
Osteuropa für seine Arbeit erfährt – in
Polen wurde er mit der Solidarnosó-Gedenkmedaille geehrt,
Litauen zeichnete
ihn mit einem Verdienstorden aus.
Dem Osten Europas widmet er auch
heute noch viel Aufmerksamkeit: Allein
im Oktober standen Prag, Kiew und
gleich zweimal Warschau in seinem
Terminkalender.
© DBT/Anke Jacob
Kampf gegen Antisemitismus
Als Ausgleich zur kraftraubenden Arbeit
in der Politik geht Weisskirchen laufen:
sechs Kilometer, dreimal in der Woche. In
Berlin schafft er das leider nicht immer.
Und selbst zu Hause im Wahlkreis wird
es anscheinend oft spät, bis der Politiker
Zeit fürs Laufen findet. Zur 40-jährigen
Mitgliedschaft in der SPD schenkte
ihm der Ortsverein Baiertal deshalb
eine „Wegefindungsleuchte” &nbdash; für seine
nächtlichen Joggingausflüge. Aber auch
seine Tätigkeit als Honorarprofessor
ist
für den Abgeordneten ein Gegengewicht
zur politischen Arbeit. Der Kontakt mit
den Studierenden erweitere das eigene
Blickfeld, findet Weisskirchen,
der an der
Fachhochschule Potsdam Angewandte
Kulturwissenschaften lehrt. Im vergangenen
Sommer hielt er eine Vorlesung über
kulturelle Aspekte des Jahres 1968.
Wenn 2009 ein neues Parlament
gewählt wird, tritt Weisskirchen nicht
wieder an. Das hat er seiner Frau versprochen.
„Ich habe ja auch mein halbes
Leben im Bundestag verbracht.” Und
bei ihm stimmt das tatsächlich: Genau
seit 32 Jahren sitzt der 64-Jährige nun
schon im Parlament. Seine Aufgabe als
OSZE-Beauftragter zur Bekämpfung
des Antisemitismus würde er aber gern
noch länger ausüben, das ist ihm wichtig.
Vor vier Jahren hat er eine große
Antisemitismuskonferenz in Berlin organisiert
und später mit durchgesetzt,
dass auch die Regierungen sich innerhalb
der OSZE des Themas annehmen.
Um diese Arbeit fortführen zu können,
hat er sich schon Unterstützung geholt:
Bundeskanzlerin Angela Merkel und
Außenminister Steinmeier wollen sich
dafür einsetzen, dass sein Mandat verlängert
wird, sagt er. Von der Politik verabschieden
wird Weisskirchen sich also
noch lange nicht.
Text: Claudia von Salzen
Erschienen am 19. November 2008
Zur Person:
Gert Weisskirchen, wurde am 16. Mai 1944 in Heidelberg
geboren. Nach einem Pädagogikstudium arbeitete er als
Lehrer und als wissenschaftlicher Assistent an der Pädagogischen
Hochschule Heidelberg, bevor er Professor für Sozialpädagogik in
Wiesbaden wurde. Im Bundestag sitzt er seit 1976. Er ist Mitglied
im Auswärtigen Ausschuss und seit 1999 außenpolitischer Sprecher
der SPD-Fraktion. Außerdem ist er Mitglied der Grundwertekommission
seiner Partei. Er ist verheiratet und hat eine Tochter.
E-Mail: gert.weisskirchen@bundestag.de
WWW: www.gertweisskirchen.de