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Gültig ab: 17.09.2008 10:19
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Der Tauwettermacher

Auf dem Weg der Entspannung gibt es viele Hindernisse: Gert Weisskirchen hinter Stacheldraht
Auf dem Weg der Entspannung gibt es viele Hindernisse: Gert Weisskirchen hinter Stacheldraht
© DBT/Anke Jacob

Gert Weisskirchen (SPD)

Sein halbes Leben lang sitzt Gert Weisskirchen schon im Bundestag, seit vielen Jahren widmet sich der SPD -Abgeordnete der Außenpolitik und beschäftigt sich dabei mit den Krisenregionen dieser Welt: Afghanistan, Irak und nun auch Georgien. „Reden, reden, reden, damit nicht geschossen wird” – das ist sein Credo für die Lösung von Konflikten. Geprägt haben ihn dabei Erfahrungen aus einer ganz anderen Region.

Vielleicht fing alles mit diesem Brief an. Im Jahr 1968 bekam Walter Ulbricht Post aus Heidelberg. Darin drohte ein 24-jähriger Juso dem Staatsratsvorsitzenden der DDR, alle Beziehungen zur FDJ sofort einzustellen, wenn die SED sich nicht öffentlich vom Einmarsch in die Tschechoslowakei distanzieren würde. Eine Antwort erhielt der junge Mann nicht.

Vierzig Jahre später sitzt der Verfasser des Briefes in seinem großen, hellen Eckbüro Unter den Linden in Berlin, gegenüber erinnert das verlassene Aeroflot-Gebäude an den Zusammenbruch der Sowjetunion. Gert Weisskirchen ist heute außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Irgendwo in den Papierbergen, die vom Schreibtisch auf die Besucherstühle, das Sofa, die Fensterbank ausgewichen sind, liegt auch ein Buch über das Jahr 1968. Weisskirchen hat das Jahr der Revolte anders erlebt als viele seiner Altersgenossen.

„Die OSZE versucht immer wieder neu, Dinge in Gang zu setzen, Blockaden aufzuheben, Bremsen zu lockern.”
Sein 1968 spielt nicht in Berlin, nicht in Paris, sondern in Prag: die sowjetischen Panzer, die den kurzen Prager Frühling beenden und die Demokratiebewegung überrollen. Wenig später sucht er den Kontakt zu Dissidenten in der Tschechoslowakei, aber auch in Polen, Ungarn und der Sowjetunion. An diesen Menschen bewundert er die Unbeugsamkeit, den Mut. „Wir Europäer müssen wissen: Freiheitssehnsucht ist etwas, das uns alle miteinander verbindet, und wenn die unterdrückt wird, müssen wir solidarisch sein.” Das System, das diese Sehnsucht im Keim ersticken wollte, ist längst Geschichte, doch die Erfahrungen aus dieser Zeit haben Weisskirchen nicht losgelassen, prägen ihn bis heute.

Was für ein merkwürdiger historischer Zufall: Vierzig Jahre nach dem Prager Frühling rollten wieder russische Panzer in ein kleines Land. Schnell wurde der Krieg in Georgien in einem Atemzug genannt mit den Ereignissen von damals, doch Weisskirchen hält von so einem Vergleich nichts. Die Schuld an diesem Krieg sieht er nicht allein bei den Russen, auch die Georgier haben aus seiner Sicht zur Zuspitzung des Konflikts beigetragen. Der 64-jährige Bundestagsabgeordnete macht es sich nicht leicht, nicht nur bei diesem Thema.
„Europa sollte auf jeden Fall an seiner Grundhaltung gegenüber Russland festhalten, und die heißt: Russland einbinden.”
Er ist ein bedächtiger, nachdenklicher Redner, keiner, der Sachverhalte stets fernsehtauglich auf ein kurzes, griffiges Zitat zuspitzt. Hin und wieder macht er kurze Pausen, als wolle er während des Redens noch einmal kurz innehalten, um zu erspüren, ob er auch wirklich die richtigen Worte gewählt hat. Dann sagt er leise, aber bestimmt: „Wir haben hier eine Verletzung des Völkerrechts von zwei Seiten.” Den Kaukasuskrieg und die darauf folgende Anerkennung der abtrünnigen georgischen Regionen Südossetien und Abchasien durch Russland sieht Weisskirchen als dramatischen Rückschritt. Wie diese Entwicklung aufgefangen werden könne, sei noch gar nicht zu sagen.

Eingefrorene Konflikte

Eine Antwort auf diese Frage sucht auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die sich der Friedenssicherung und dem Schutz der Menschenrechte verschrieben hat. Nach dem Kaukasuskrieg beschlossen die 56 Mitgliedsstaaten, deutlich mehr Militärbeobachter in die Region zu schicken. Doch die Verhandlungen über die Details der Mission platzten – weil OSZE-Mitglied Russland zu viele Einwände hatte und die Zustimmung verweigerte. Statt 100 Militärbeobachtern sind jetzt also gerade einmal 28 vor Ort. Und auch deren Arbeit wurde immer wieder massiv behindert. Von einem Scheitern will Weisskirchen, der in der Parlamentarischen Versammlung der OSZE sitzt, trotz allem nicht sprechen. Er weiß, dass Konfliktvermittler vor allem eines brauchen: Geduld. „Das ist das ständige Geschäft. Die OSZE versucht immer wieder neu, Dinge in Gang zu setzen, Blockaden aufzuheben, Bremsen zu lockern.” Auf diesem mühsamen Weg solle die OSZE weitermachen, fordert Weisskirchen, und an der Lösung der „eingefrorenen Konflikte” arbeiten: Südossetien, Abchasien, Transnistrien, Berg-Karabach. „Das Wichtigste bei diesen Konflikten ist immer, dass man redet, redet, redet, damit nicht geschossen wird”, sagt er.

Wenn Weisskirchen in seinem Wahlkreis Rhein-Neckar oder anderswo in Deutschland von seinem Engagement in der OSZE spricht, muss er seinen Zuhörern einiges erklären. Nur wenigen ist die Organisation überhaupt ein Begriff. In Osteuropa, Russland oder Zentralasien dagegen ist das ganz anders, das hat der Abgeordnete auf seinen Reisen immer wieder erlebt. In Kasachstan oder in Turkmenistan kenne jeder die OSZE, sagt er. Heute schafft sie es immer dann in die Schlagzeilen, wenn ihre Beobachter in den Ländern der früheren Sowjetunion neben Wahlurnen stehen und die Einhaltung demokratischer Standards einfordern. Aber das Vertrauen, das die OSZE in dieser Weltgegend genießt, hat noch viel tiefere Wurzeln: Schließlich ist sie aus der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) hervorgegangen, die maßgeblich zur Entspannung zwischen dem Westen und der Sowjetunion beigetragen hat und damit den Kalten Krieg beenden half.

Gert Weiskirchen hält eine Taube in der Hand

© DBT/Anke Jacob
Dialog mit Russland

Als der Georgienkonflikt das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen mit einem Schlag stark abkühlte, sahen viele schon einen neuen Kalten Krieg heraufziehen. Diesen Vergleich hält Weisskirchen für falsch, schon deshalb, weil heute nicht zwei Systeme gegeneinander stehen. Außerdem warnt er vor einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung – einer Situation, die Wirklichkeit wird, nur weil man sie herbeiredet.

Von einem Kurswechsel gegenüber Russland rät der erfahrene Außenpolitiker eindringlich ab: „Europa sollte auf jeden Fall an seiner Grundhaltung gegenüber Russland festhalten, und die heißt: Russland einbinden.” Das sei das Leitmotiv. Zugleich solle man Moskau aber sagen, „was geht und was nicht geht”. Wenn Russland etwa im Völkerrecht eine Linie überschritten habe, dann müsse man das auch sagen.

Über den richtigen Umgang mit Russland sind in Deutschland mit schöner Regelmäßigkeit Variationen der gleichen Kontroverse zu hören: Die einen fordern deutlichere Worte gegenüber Moskau und damit mehr kritische Distanz, die anderen favorisieren eine „Annäherung durch Verflechtung“, wie es Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier formuliert hat. Und wie hält es Weisskirchen mit Russland? Vielleicht ist es bezeichnend für ihn, dass er sich gerade nicht auf eine Seite schlagen will, sich nicht einem der beiden Lager zuordnen lassen will. Vor die Wahl gestellt, entscheidet er sich für eine „Mischung”: Er tritt dafür ein, Russland deutlich und auch öffentlich die Meinung zu sagen, wenn es um Pressefreiheit, Wahlrecht, die Lage der Nichtregierungsorganisationen und überhaupt die „Kernsubstanz von Werten” geht (dabei mag er den Begriff Werte eigentlich gar nicht). „Aber auf der anderen Seite müssen wir die Türen offen halten oder wieder öffnen, damit man gemeinsam Räume neu betreten kann.” Dieses vorsichtige Erkunden kennt Weisskirchen aus eigener Anschauung: In der Deutsch- Russischen Parlamentariergruppe, deren Vorsitzender er ist, wird der Dialog manchmal zur Gratwanderung. Beide Seiten sprechen dabei an, was ihnen am jeweils anderen Land missfällt. Beim letzten Treffen ging es aber auch darum, wie die Deutschen bei der Modernisierung Russlands helfen können.

Neben den Beziehungen zu Russland arbeiten sich die Deutschen immer wieder am Verhältnis zu den USA ab. SPD-Fraktionschef Peter Struck empfahl Deutschland vor einiger Zeit eine „Äquidistanz“ zu Moskau und Washington. Damit kann Weisskirchen nichts anfangen: „Ich mag solche Formeln nicht, die in der Politik wenig helfen. Es kommt darauf an, was wir tun und wie wir es tun.” Es gehe um die Lösung von Problemen. Weisskirchen plädiert generell für mehr Pragmatismus in der Politik, er ist einer, der ganz unideologisch und pragmatisch die Welt verbessern möchte.

Kein Wunder, dass ihn Afghanistan in den vergangenen Wochen besonders beschäftigt hat. Die Entscheidung, das Mandat der Bundeswehr zu verlängern und noch mehr deutsche Soldaten an den Hindukusch zu schicken, macht er sich nicht leicht. Alles, was mit Mandaten zu tun habe, sei mit großen inneren Konflikten verbunden, sagt er. „Der Bundestag entscheidet hier über Leben und Tod.” Man müsse sich bei solchen Entscheidungen immer wieder „hart und gewissenhaft prüfen“. Und so lässt der SPD-Abgeordnete indirekt genau die Zweifel anklingen, über die viele seiner Kollegen gar nicht erst reden wollen.

Weil ihm die Zwischentöne, die Nuancen wichtiger zu sein scheinen als das Eindeutige, ist er eigentlich nie mit plakativen Aussagen in den Schlagzeilen gelandet. Obwohl nur ganz wenige Abgeordnete länger im Bundestag sitzen als Weisskirchen und er schon seit neun Jahren außenpolitischer Sprecher seiner Fraktion ist, muss er nicht fürchten, häufig in Berlin auf der Straße angesprochen zu werden. Umso bemerkenswerter erscheint die Anerkennung, die Weisskirchen in Osteuropa für seine Arbeit erfährt – in Polen wurde er mit der Solidarnosó-Gedenkmedaille geehrt, Litauen zeichnete ihn mit einem Verdienstorden aus. Dem Osten Europas widmet er auch heute noch viel Aufmerksamkeit: Allein im Oktober standen Prag, Kiew und gleich zweimal Warschau in seinem Terminkalender.

Eine Taube fliegt aus zwei geöffneten Händen gen Himmel

© DBT/Anke Jacob
Kampf gegen Antisemitismus

Als Ausgleich zur kraftraubenden Arbeit in der Politik geht Weisskirchen laufen: sechs Kilometer, dreimal in der Woche. In Berlin schafft er das leider nicht immer. Und selbst zu Hause im Wahlkreis wird es anscheinend oft spät, bis der Politiker Zeit fürs Laufen findet. Zur 40-jährigen Mitgliedschaft in der SPD schenkte ihm der Ortsverein Baiertal deshalb eine „Wegefindungsleuchte” &nbdash; für seine nächtlichen Joggingausflüge. Aber auch seine Tätigkeit als Honorarprofessor ist für den Abgeordneten ein Gegengewicht zur politischen Arbeit. Der Kontakt mit den Studierenden erweitere das eigene Blickfeld, findet Weisskirchen, der an der Fachhochschule Potsdam Angewandte Kulturwissenschaften lehrt. Im vergangenen Sommer hielt er eine Vorlesung über kulturelle Aspekte des Jahres 1968.

Wenn 2009 ein neues Parlament gewählt wird, tritt Weisskirchen nicht wieder an. Das hat er seiner Frau versprochen. „Ich habe ja auch mein halbes Leben im Bundestag verbracht.” Und bei ihm stimmt das tatsächlich: Genau seit 32 Jahren sitzt der 64-Jährige nun schon im Parlament. Seine Aufgabe als OSZE-Beauftragter zur Bekämpfung des Antisemitismus würde er aber gern noch länger ausüben, das ist ihm wichtig. Vor vier Jahren hat er eine große Antisemitismuskonferenz in Berlin organisiert und später mit durchgesetzt, dass auch die Regierungen sich innerhalb der OSZE des Themas annehmen. Um diese Arbeit fortführen zu können, hat er sich schon Unterstützung geholt: Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Steinmeier wollen sich dafür einsetzen, dass sein Mandat verlängert wird, sagt er. Von der Politik verabschieden wird Weisskirchen sich also noch lange nicht. 

Text: Claudia von Salzen
Erschienen am 19. November 2008

Zur Person:

Gert Weisskirchen, wurde am 16. Mai 1944 in Heidelberg geboren. Nach einem Pädagogikstudium arbeitete er als Lehrer und als wissenschaftlicher Assistent an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, bevor er Professor für Sozialpädagogik in Wiesbaden wurde. Im Bundestag sitzt er seit 1976. Er ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und seit 1999 außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion. Außerdem ist er Mitglied der Grundwertekommission seiner Partei. Er ist verheiratet und hat eine Tochter.

E-Mail: gert.weisskirchen@bundestag.de
WWW: www.gertweisskirchen.de


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