1989 – die friedliche Revolution in der DDR und der Fall der Berliner Mauer – ist eines der wichtigsten Jahre in der jüngeren deutschen Geschichte: Das Ende der zweigeteilten Welt, eine Revolution, die friedlich die SED-Herrschaft stürzte. Es ist das Jahr, in der eine junge Demokratie am Runden Tisch das Laufen lernte und die Weichen gestellt wurden für die Wiedervereinigung Deutschland.
Wahnsinn! Das ist das Wort der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989, in der Nacht der Nächte, in der kaum einer schlafen geht. „Wahnsinn”, sagen die Menschen, als der erste Schlagbaum hochgeht, der seit 28 Jahren normale Treffen zwischen Ost und West in Berlin verhindert, „Wahnsinn”, sagen sie, als sie die Grenze, an der vor wenigen Wochen noch auf Menschen geschossen wurde, einfach passieren können, „Wahnsinn”, sagen sie bei den ersten Schritten im Westen.
Ausgelöst hat das schier Unbegreifliche Günter Schabowski, Mitglied im DDR-Führungszirkel, dem Politbüro, das es vier Wochen später nicht mehr geben wird. Der SED-Mann sieht sich heute als „Werkzeug der Geschichte”. Am 9. November hat er sich für die Pressekonferenz um 18 Uhr vorbereitet: Auf seinem Zettel steht, den Beschluss des Ministerrats erst am Ende zu erwähnen. Drei Minuten vor sieben liest er Sätze vor, die die Welt verändern und inzwischen in fast jedem Schulbuch stehen: „ ... haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.” Und „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen ... beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.” Auf die Frage des Journalisten Peter Brinkmann, ab wann das gelte, sagt Schabowski: „Nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich.” Minuten später tickern die Agenturen Sätze wie „DDR öffnet Grenze” (Associated Press) um die Welt. Die Abgeordneten des Bundestages singen um 21 Uhr – ohne die Abgeordneten der Grünen – das Deutschlandlied.
Dass die Maueröffnung ein Versehen gewesen sei, ist eine Schimäre. Höchstens hat Schabowski nicht bedacht, dass seine Worte „sofort, unverzüglich” schnell den Druck auf die Grenze verstärken. Der Text liegt auch der DDR-Nachrichtenagentur ADN vor, die ihn in den frühen Morgenstunden des 10. November senden will; nach Schabowskis Worten gibt sie die Meldung sofort auf den Draht. Das angebliche Versehen passt aber gut zur Fassungslosigkeit, mit der die Deutschen reagieren. Ostdeutsche sehnen zwar freies Reisen herbei, glauben aber, das könne nur schrittweise gelingen. Das Interesse der Westdeutschen an den Menschen und Geschehnissen auf der anderen Seite hält sich ohnehin in Grenzen. Zwar weiß jeder Abiturient einiges über Goethe und Schiller, aber wo Weimar liegt, wissen wenige. Junge Leute kennen in den 1980er-Jahren Frankreich, Italien, Großbritannien oder Spanien besser als den Ostteil Berlins, Leipzig oder Rostock. Boul′ Mich′ (Boulevard St. Michel) in Paris oder Carnaby Street in London sind angesagt, nicht die „blutleere DDR”. Mit der Mauer aufgewachsen, halten viele Menschen im Westen die deutsche Einheit für eine Utopie.
Der Historiker Hans Hermann Hertle ist überzeugt: Der Fall der Mauer war nicht beabsichtigt. Für ihn spielen die Medien mit Interpretationen und zum Teil falschen Realitätsbildern wie etwa bei Tagesthemen-Moderator Hanns Joachim Friedrichs eine entscheidende Rolle. Friedrichs spricht um 22.42 Uhr von einem historischen Tag und sagt dann: „Die Tore der Mauer stehen weit offen.” Zu diesem Zeitpunkt stehen im Osten mehrere Hunderte noch vor geschlossenen Grenzübergängen. Bis dahin greifen Grenzsoldaten nur einige auffällig erscheinende Leute heraus und lassen sie passieren. Dabei stempeln sie das Passbild, wollen so Rückkehr ausschließen, was die Betroffenen nicht ahnen. Die Zahl der Menschen vor den Schlagbäumen steigt dennoch ständig.
Die Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk und Peter Steinmetz sind überzeugt, die SED-Führung unter Egon Krenz habe die Maueröffnung unter dem Druck der Ereignisse (Massenexodus vor allem über Ungarn, allgemeine Unzufriedenheit, wirtschaftliche Ausweglosigkeit) geplant. Dafür spricht: Das SED-Politbüromitglied Günter Schabowski sagt in einem Gespräch am 29. Oktober zu Berlins Regierendem Bürgermeister Walter Momper: „Wir werden Reisefreiheit geben. Jeder kann reisen, wohin er will.” Der Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR Franz Bertele erfährt am 7. November im DDR-Außenministerium, Fluchtfälle seien nächste Woche kein Problem mehr, die DDR werde alle, die das Land verlassen wollen, gehen lassen. Bertele wollte wissen, was er neuen Ausreisewilligen sagen soll, wenn die seit Wochen geschlossene westdeutsche Vertretung am 13. November wieder öffnet.
Ob geplant oder ungeplant: In der Nacht des 9. November erzwingen die Menschen die Maueröffnung. „Es ist nicht mehr zu halten. Wir fluten jetzt”, meldet der nördliche Grenzübergang Bornholmer Straße. Kurz vor Mitternacht geht dort der Schlagbaum hoch. Die Menschen strömen in den Westen, mit Kind und Kegel, im Schlafanzug, den Mantel drübergezogen. Auch in allen anderen Orten hält es die Menschen nicht länger zu Hause. Die DDR-Mächtigen haben wieder einmal die Rechnung ohne sie gemacht.
Stand die Maueröffnung auf Messers Schneide? Die Grenztruppen, die DDR-Armee, die Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland sind seit 10. November mittags in Gefechtsbereitschaft. Doch ein Befehl zum Einsatz wird nicht ernsthaft erwogen, im Ostteil Berlins nicht und in Moskau schon gar nicht. Die große Freude der Menschen überzeugt. Eine Motorisierte Schützendivision erhält zwar den Auftrag, im Notfall die Grenztruppen in Berlin zu verstärken, „ohne Panzer, Artillerie und schwere Technik”. Lkw stehen zum Transport der Soldaten nicht bereit. Hertle spottet: „Ohne Panzer hätten die Soldaten mit der S-Bahn nach Berlin fahren müssen.”
Am Abend des 10. November versammeln sich die Berliner zu einer Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus. Momper: „Wir Deutschen sind jetzt das glücklichste Volk der Welt.” Kanzler Helmut Kohl: „Ich appelliere an die Verantwortlichen in der DDR. Verzichten Sie jetzt auf Ihr Machtmonopol!”
Wie schnell sich die Dinge ändern, erfährt Richard von Weizsäcker am 11. November am neu eröffneten Grenzübergang „Potsdamer Platz”. Auf der Ostseite nimmt der Leiter Haltung an, legt die Hand an die Mütze: „Herr Bundespräsident, ich melde: Keine besonderen Vorkommnisse.”
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Chronik „Der Anfang vom Ende der DDR: Die Jahre 1985-1990” »
Text: Karl-Heinz Baum
Erschienen am 2. Oktober 2009