Sitzungsfreie Woche - das klingt nach Ferien, nach Ausruhen. Dabei ist die Arbeit im Wahlkreis für die Abgeordneten nicht weniger intensiv als in Berlin. Nur anders. Hier zählt, was den Menschen vor Ort konkret auf den Nägeln brennt. Sich an der Basis wieder zu erden, sich dem pulsierenden Alltag stellen - das ist Sinn und Aufgabe jener Wochen, in denen die Abgeordneten im wahrsten Sinne zu Vertretern des Volkes werden.
Ute Vogt hat schnell geschaltet: Nach der Milliardenhilfe für Griechenland, bei der nicht nur die SPD ein mulmiges Gefühl im Bundestag hat, lädt sie in ihrem Wahlkreis Stuttgart 1 Vertreter der griechischen Gemeinde zu einem Diskussionsabend ein. Im Stuttgarter „Haus der Kulturen” will sie - zusammen mit ihrer Kollegin Ute Kumpf aus dem Nachbarwahlkreis - wissen, wie vor Ort die Milliardenhilfe ankommt. Bei ihren Wählern, aber auch bei den betroffenen Griechen. „Ein total spannender Abend”, resümiert sie am Ende des Tages.
Bürgern von dem, was im fernen Berlin beschlossen wird; erfahren, wo den Bürgern tatsächlich der berühmte Schuh drückt - das ist für die 45-jährige SPD-Politikerin das Hauptmotiv ihrer engagierten Wahlkreisarbeit. Nach vielen Jahren in der Politik, als Abgeordnete, als Staatssekretärin, als Parteivorsitzende in Baden-Württemberg, weiß sie, dass das reale Leben vor Ort oft anders aussieht als sich die Politik das vorstellt: „Was wir in Berlin machen, interessiert die Leute hier oft relativ wenig”, sagt sie und stimmt ihr kerniges Lachen an. Deshalb taucht sie möglichst oft in die Wirklichkeit des Stuttgarter Wahlkreislebens ein und trifft den Bürger, wo er tatsächlich agiert: in Schulen, in Unternehmen, bei Verbänden und Stadtteilfesten. So wird man selbst zur öffentlichen Person. Selbst auf ihrem geliebten Motorrad wird sie von den Menschen angesprochen, um Rat oder Hilfe gebeten.
In dieser Woche liegt die Lebensrealität bei einer Büchsenmacher-Firma. Ein kniffeliger Termin für Ute Vogt, denn nach dem schrecklichen Amoklauf von Winnenden liegen noch immer die Nerven darüber blank, ob das Waffenrecht zu verschärfen ist. Sportschützen und Büchsenmacher fühlen sich - auch von der SPD - an den Pranger gestellt. Die SPD-Frau hat keinen leichten Stand, doch es gelingt ihr, Verständnis für unterschiedliche Positionen zu wecken. Im Juni wollen Büchsenmacher und Sportschützen nach Berlin kommen und sich weiter kundig machen.
Ute Vogt fährt erleichtert zurück nach Stuttgart. Ohne die Wahlkreisarbeit, so strapaziös sie bisweilen ist, möchte sie nicht sein: „Hier erfährst du die ganze Vielfalt des Lebens.”
Als Vorsitzender des Finanzausschusses des Bundestages hat Volker Wissing in den Mai-Wochen des Jahres 2010 alle Hände voll zu tun. Wenn das Parlament riesige Milliardenbeträge zur Stützung des Euro mobilisieren und der Finanzausschuss die Vorlagen dafür mit beraten und beschließen muss, bleibt für die Wahlkreisarbeit wenig Zeit. Einige geplante Besuche bei Informations-, Fest- oder Jubiläumsveranstaltungen hat Wissing schon schweren Herzens abgesagt. „Würde ich in diesen Schicksalswochen Wahlkreistermine gegenüber meinen Berliner Verpflichtungen vorziehen, wäre das unverantwortlich von mir.”
Dem Anspruch der Bürger, sich direkt mit ihren Sorgen und Nöten an ihn wenden zu können und über das, was da im fernen Berlin beschlossen wird, informiert zu werden, versucht der 40-jährige FDP-Politiker aus dem Wahlkreis Landau in der Südpfalz dennoch so gut es geht nachzukommen. Per E-Mail und Telefon hält Wissing Kontakt. „Jeder, der mir schreibt, bekommt eine Antwort.” Einige Leute seien total überrascht, wenn das Telefon klingelt und es heißt: „Hier Volker Wissing, Sie wollten mich gerne sprechen.”
Trotz des enormen Termindrucks, hat der studierte Jurist in der Woche nach Pfingsten Zeit gefunden, im Landauer Kulturzentrum „Altes Kaufhaus” den Bürgern direkt zu berichten, warum die Politik den gewaltigen Schutzschirm über den Euro aufspannen musste. Die Aufmerksamkeit ist groß. Indem er Politik konkret macht, sie auf die konkrete Lebenssituation in der Südpfalz bezieht, gelingt es Wissing, Verständnis für die auch in seinen Augen nicht unproblematischen Stützungsaktionen zu wecken. Vielleicht hilft auch, dass dieser von Weinbau und mittelständischer Industrie geprägte, zwischen Rhein und Elsass liegende Wahlkreis sich immer demokratischer und europäischer Kultur verpflichtet gefühlt hat. Volker Wissing: „Die Zukunft Europas liegt uns hier sehr am Herzen.”
Aber eine Gratwanderung sei das schon, dieser Spagat zwischen der 70-Stunden-Woche im aufgewühlten Berlin und der notwendigen Rückkoppelung im heimischen Wahlkreis. „Ich hoffe, dass sich das bald wieder normalisiert”, sagt Wissing und blickt etwas sehnsüchtig auf das Familienbild auf dem Schreibtisch. Denn auch die Familie kommt zu kurz in diesen hektischen Wochen. So wie das kleine Weingut, in dem er sonst zur Entspannung gerne mal den Wein in Flaschen abfüllt.
Er ist der unangefochtene Platzhirsch in seinem Wahlkreis. Wo immer der Niederbayer Ernst Hinsken auftaucht, ob in Straubing oder den kleinen Dörfern des Bayerischen Waldes - überall wird der 67-Jährige wie ein guter alter Bekannter begrüßt: „Servus”, heißt es allerorten, „Grüß' Sie” oder „Pfüat di Gott”. Die Nähe und Vertrautheit kommen nicht von ungefähr: Neun Mal schon - das erste Mal 1980 - haben seine Niederbayern ihn direkt zum Bundestagsabgeordneten gewählt, jahrelang mit Rekordergebnissen, die Hinsken zum Stimmkreiskönig von ganz Deutschland machten.
Darauf ist er noch heute stolz. Denn er weiß, dass seine Popularität vor allem in eigenen Anstrengungen begründet ist: „Wählerstimmen kommen nicht als gebratene Tauben vom Himmel, sondern müssen durch Überzeugungsarbeit und Bürgernähe erarbeitet werden.” Daran hat sich der gelernte Bäckermeister 30 Jahre gehalten. Auch jetzt, wo er es etwas ruhiger angehen könnte, bleibt der von einer Mitarbeiterin erstellte Terminkalender prall gefüllt.
Wir erleben Ernst Hinsken an einem Wochenende nach Himmelfahrt. Da geht es schon am Freitag Schlag auf Schlag los: Einweihung des Kletter- und Outdoorzentrums am Bahnhofsgebäude in Mitterfels. Hinsken hält eine kurze Rede, lieber wäre er selbst in die Kletterwand gestiegen. Danach Eröffnungsfeier der Straubinger Fotogalerie, dann im Historischen Rittersaal die Festveranstaltung „150 Jahre Feuerwehr Straubing”. Am Abend folgt in Kirchberg die CSU-Kreisdelegiertenversammlung Regen.
Ähnlich dicht die Termine am Samstag und Sonntag: 60-Jahr-Feier Staatliche Realschule Viechtach, runder Tisch zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen im strukturschwachen Landkreis Regen, Kreiskriegertreffen in Atting, Bergmarktfest in Pilgramsberg und Gründungsfest der Katholischen Landjugend im Gasthof Hiebl in Neukirchen. Mit Reden oder Grußworten immer mit von der Partie: Ernst Hinsken. „Ich mache das mit System. Jede Gruppe, jeder Verband, jede Organisation kommt bei mir zu ihrem Recht.” Besonders wichtig sind ihm die Bauern: „Sie leisten mit ihrer Landschaftspflege viel für das ganze Land.”
Nach 30 Jahren eigener politischer Landschaftspflege kennt Hinsken seinen Wahlkreis aus dem Effeff. Hunderttausende Kilometer ist er hin und her gefahren. Stress ist ihm dennoch nicht anzumerken. „Ich fühle mich topfit.” Im Sommer will er wieder das goldene Sportabzeichen schaffen.
Jan Korte, den 33-jährigen Abgeordneten der Linkspartei, treffen wir auf dem Markt von Bitterfeld-Wolfen. Inmitten der Gemüse- und Wurststände hält er eine Bürgersprechstunde ab. Dass man beim Wochenendeinkauf auch gleich seine politischen Sorgen los werden kann, „finden die Leute total gut”, freut sich Korte über den regen Politikaustausch am Infostand. Längst ist der „Wessi” aus Osnabrück angekommen in seiner neuen politischen Heimat. Den Wahlkreis 72 „Anhalt” hat er 2009 direkt gewonnen.
Das kam nicht von ungefähr. Über Jahre hat Korte den direkten Weg zum Bürger gepflegt, ist er dorthin gegangen, wo „gesellschaftliches Leben ist” - zu den Kleingärtnern, zur Feuerwehr, an die Arbeitsplätze und zu den Anglern. Zu denen besonders gerne. Denn Korte ist selbst ein leidenschaftlicher Angler. „Hier in der Goitzsche kann man fantastische Hechte fangen.”
„Direkt gewählt - direkt erreichbar”, ist sein Anspruch. Und für den reist er in seinem Wahlkreis, den er wegen der großen Umbruchprobleme für einen der spannendsten in ganz Deutschland hält, viel herum - Zigtausende von Kilometer im Jahr. Seine Erfahrung dabei: „Die Themen, die hier interessieren, sind völlig andere, als die, über die wir in Berlin reden.”
Das spürt man auch am Infostand auf dem Markt. Weniger die große Politik ist gefragt, mehr die Lösung von Alltagsproblemen: Ist der Hartz-IV-Bescheid korrekt? Was ist mit meiner Rentenberechnung? Wo finde ich Arbeit? Die letzte Frage ist die schwierigste: Trotz einer gewaltigen Umstrukturierung der Region von der maroden Industriehalde zum Naherholungsgebiet mit Hightech-Industrie blieb die Arbeitslosenquote erschreckend hoch.
Am Nachmittag steht ein Besuch bei der Kita „Krümelkiste” auf Kortes Programm. Während die Kleinen an ihm hochspringen, übergibt er eine Geldspende an den Verein „Rückenwind”, denn die Abgeordneten der Fraktion Die Linke haben die letzte Diätenerhöhung abgelehnt und spenden das Geld lieber für Projekte gemeinnütziger Vereine. Der vorerst letzte Termin findet im „Eiscafé Goitzsche” statt. Mit Hafenmeister Beuster fachsimpelt Korte über die Entwicklungschancen des ehemaligen Braunkohlereviers: „Inzwischen ist es hier fast wie am Mittelmeer.”
Aus der Ruhe zu bringen ist Alexander Bonde nicht so leicht. Der bodenständige Schwarzwälder mit der Leidenschaft zum Schachspiel ruht in sich selbst. Aber als haushaltspolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen setzt auch ihn die Euro-Krise unter Druck. Immer wieder muss er in der letzten Zeit die sitzungsfreien Wochen unterbrechen, um in Berlin an Deck zu sein. Bonde nimmt es gelassen: „Ich fühle mich in Berlin ohnehin wie auf Montage auf einer Bohrinsel: Alles ist auf Arbeit konzentriert.”
Immerhin, ein paar Tage bleiben über Pfingsten zum „Ausschnaufen”. Daheim in der Schwarzwaldgemeinde Baiersbronn mit Ehefrau Conny und den Kindern Karl Abraham (3) und Karla Elise (1). Danach geht es wieder los. Wir erleben ihn am Freitag erst bei einem Besuch der Bundesagentur für Arbeit in Offenburg, anschließend bei der Arbeiterwohlfahrt, wo er sich über die Auswirkungen der neuen Zivildienstregelung informiert. Danach ist Bonde bei einem Maschinenbau-Unternehmen in Kehl zu Besuch, am Abend diskutiert er mit dem grünen Ortsverband über „Wege aus der Rekordverschuldung”.
Wahlkreisarbeit gehört für den 35-Jährigen zur politischen Kür. Wobei es ihn weniger leutselig zu Wein- oder Feuerwehrfesten zieht. „Für mich steht die thematische Arbeit im Vordergrund.” Zurzeit liegen die Themen auf der Hand: Was ist mit dem Euro? Kommt eine Inflation? Wo geht es mit den Schulden hin? Als Haushälter in Berlin ist Bonde da ein fachkundiger Ansprechpartner. Probleme, sich mit der eher ländlichen Bevölkerung in seinem südbadischen Schwarzwaldkreis verständig zu machen, hat er nicht. „Ich habe eine Nähe zu den Menschen hier.”
Alexander Bonde tritt nicht mit großer Beflaggung als Berliner Zampano im Wahlkreis auf. Er liebt die leiseren, aber eindringlichen Töne. Zu seinen Terminen fährt er unauffällig mit einem Mittelklassewagen mit Hybridantrieb vor. Aber ob beim Chef eines mittelständischen Betriebs, beim wortkargen Bauern im Kuhstall oder auf einer Parteiveranstaltung: Bonde kommt an mit seiner nüchternen Art. Und auch ihm gefällt die „Erdung vor Ort”: „Die Vielfalt der Themen und die Verankerung bei den Menschen sind meine Basis für die Arbeit im Bundestag.”
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Text: Sönke Petersen
Erschienen am 26. Juli 2010