Wenn Kaiser Napoleon auf
die Kolonnenfassade der „Assemblée Nationale”
blickte, bedauerte er es, kein Artillerieoffizier mehr zu sein. Sonst
hätte er seine Kanonen auf diese „lächerliche
Fassade” gerichtet, das sagte der
Kaiser, und der Abgeordnete Antonin
Proust hielt es in einem Bericht für die
Nachwelt fest. Wie Staatspräsident
Nicolas Sarkozy über die Architektur der
Nationalversammlung urteilt, ist nicht
bekannt, gewiss ist doch, dass er darunter
leidet, sie nicht mehr betreten zu dürfen.
Denn wie alle Präsidenten der
V. Republik ist Sarkozy ein Verbannter,
er darf keinen Fuß in die Nationalversammlung
im schmucken Palais Bourbon
setzen. Das ist auf die Angst der Franzosen
vor ihrem Staatsoberhaupt zurückzuführen,
welches sie seit langer Zeit
verdächtigen,
es könne sich der Volksvertretung
bemächtigen. Das Broglie-Gesetz
vom 13. März 1873 schränkte damals
die Macht Adolphe Thiers ein. Die
V. Republik setzt diese Tradition fort mit
Artikel 18 der Verfassung. Der Präsident
darf nur „mit den beiden Kammern
des
Parlaments über Botschaften
kommunizieren,
die verlesen werden und keinen
Anlass zu einer Debatte geben”. Die
Abgeordneten oder Senatoren müssen stehen,
während die Präsidentenbotschaft
entweder vom Präsidenten
der Nationalversammlung
oder dem Präsidenten des
Senats verlesen wird. Insgesamt 19 Präsidentenbotschaften
haben die Volksvertreter
seit 1958 stehend gelauscht. Die letzte
reicht ins Jahr 2002 zurück: Kurz nach
seiner (Wieder-)Wahl gegen den Rechtsextremen
Le Pen richtete sich Jacques
Chirac im Juli 2002 an die Parlamentarier,
um sie vom europäischen Einigungsprozess
und der Ratifizierung des Vertrages von
Amsterdam
zu überzeugen. Nicolas Sarkozy,
der damals in der Nationalversammlung
strammstand, muss dabei seine
Überzeugung
verfestigt haben, dass
dieses Ritual nicht mehr zeitgemäß sei. Er
will Artikel 18 ändern und dem Parlament
eine Verfassungsänderung abringen.
Einen Kabinettsbeschluss hat er darüber
schon. Ein Mal im Jahr, so wie der amerikanische
Präsident mit seiner „State of the Union”-Rede, will sich Sarkozy an die versammelten Parlamentarier richten
dürfen. Weil das Abgeordnetenhaus allein
dafür zu klein ist, soll die Präsidentenrede
im Königsschloss von Versailles stattfinden,
in dem die beiden Parlamentskammern
ohnehin Hausrecht genießen. Wo der
Sonnenkönig einst Frankreichs
Macht erstrahlen
ließ, kommen in regelmäßigen
Abständen die Volksvertreter zusammen,
wenn sie über Verfassungsänderungen zu
entscheiden haben. „Kongress” wird ihre
Versammlung genannt.
Sarkozys Wunsch nach einem Ende
des Hausverbotes wurde von der sogenannten
Balladur-Kommission gestützt,
die einen Bericht über die Modernisierung
der französischen Institutionen erarbeitet
hat. Die Parlamentarier verhalten
sich hingegen eher zaudernd. Traditionen
bestimmen den Alltag im französischen
Parlamentarismus, und das Misstrauen
vor Einschränkungen der parlamentarischen
Befugnisse sitzt tief. Auch die
Soldaten der republikanischen Garde,
die zu jeder Sitzungseröffnung in der Nationalversammlung
ein Ehrenspalier bilden,
stehen nicht wegen ihrer schmucken
Uniformen mit Goldkordeln und bordeauxroten
Quasten in der Wandelhalle.
Die Trommelwirbel, die gereckten
Säbel, sie demonstrieren den Repräsentanten des Volkes die Ergebenheit
der französischen Armee. Daran jedoch hat auch
Präsident Sarkozy Gefallen.
Text: Michaela Wiegel, Paris
Erschienen am 18. Juni 2008
Assemblée Nationale
Deutschsprachige Informationen finden Sie unter:
www.assemblee-nationale.fr