Im britischen Parlament zu
sterben, ist per Gesetz verboten,
und zwar schon seit
121 Jahren. Ziemlich albern,
könnte man denken, und dann gibt
es doch eine Erklärung dafür: Der Palast
von Westminster, Sitz des Parlaments, den
die ganze Welt wegen seines Uhrenturms
„Big Ben” kennt, ist ein Königspalast.
Und jeder, der in einem Palast des Staatsoberhaupts
das Zeitliche segnet, hat automatisch
ein Anrecht auf ein Staatsbegräbnis.
Nun stelle man sich vor, was passieren
würde, wenn das bekannt würde. Vermutlich
würde eine Art Sterbetourismus
einsetzen
von all den eitlen Untertanen,
die ihren letzten Weg gratis auf einem
sechsspännigen Kanonenwagen und mit
militärischen Ehren zurücklegen wollen.
Genauso sonderbar ist ein Gesetz
vom 30. Oktober 1313, nach dem das
Tragen von Rüstungen und Schwertern
im Parlament untersagt ist. Auch nicht
gerade ein zeitgemäßes Statut, aber damals
war die britische Demokratie eben
erst zarte achtzehn Jahre alt. 700 Jahre
später ist sie zur Erhabenheit herangereift,
die Großmutter aller Parlamente,
und dennoch hat sie die Kampfeslust
beibehalten, die Edward II. seinerzeit
dazu veranlasste, Waffen aus dem Palast
zu verbannen.
Bis heute basiert die britische parlamentarische
Tradition auf dem Duell,
der Redeschlacht. Statt des Halbkreises
in athenischer Tradition, der den Redner
in den Mittelpunkt stellt und zur
ausgewogenen Diskussion anhält, sitzen
sich Regierung und Opposition in langen
Reihen gegenüber, bereit zur Konfrontation.
Wer das Wort erhält, steht an seinem
Platz auf den grünen Lederbänken
auf und redet frei. Die eigene Fraktion
feuert ihn an, die gegnerische wedelt mit
Notizzetteln und pfeift aus. Es ist ein organisiertes
Chaos, das vor allem in der
wöchentlichen Fragestunde in höchster
Perfektion dargeboten wird, wenn der
Premierminister Rede und Antwort steht.
Das ist der Moment, da Politiker mit
Wortgewandtheit,
Scharfzüngigkeit und
Witz punkten müssen, um sich politischen
Respekt zu verschaffen. Es ist
ein politisches Theater, das strikten Regieanweisungen
folgt. Zeitunglesen ist
verboten, und Bücher sind im Sitzungssaal
ebenfalls nicht gestattet, seit sie im
19. Jahrhundert als Wurfgeschosse eingesetzt
wurden.
Dabei wird an der Oberfläche viel
Wert auf Höflichkeit gelegt. Das House
of Commons ist buchstäblich ein „ehrenwertes”
Haus — und ein namenloses.
Abgeordnete reden einander ausschließlich
in der dritten Person an,
und anstatt des Namens nennen sie den
Wahlkreis. Gregory Barker von den
Konservativen ist „das ehrenwerte Mitglied
für Bexhill und Battle”. Und weil
er einen Platz am Kabinettstisch hat,
ist Premierminister Gordon Brown gar
„das hochehrenwerte Mitglied für Kirkcaldy
und Cowdenbeath”. Persönliche
Beleidigungen sind tabu. Ratte, Schwein,
Feigling, Hooligan, wer sich mit diesen
oder ähnlichen Ausdrücken im Ton vergreift,
kassiert sofort eine Ermahnung.
Auch darf man den Gegner nicht direkt
der Lüge bezichtigen. Winston Churchill
warf jemandem stattdessen eine „terminologische
Ungenauigkeit” vor und
meinte damit dasselbe.
Wo das Schwert verboten ist, wird
eben mit dem Florett gefochten. Und je
brillanter der Redner ist, desto eleganter
die Beleidigung. 700 Jahre parlamentarische
Tradition verpflichten eben auch
in dieser Hinsicht.
Text: John Jungclaussen, London
Erschienen am 24. September 2008
United Kingdom Parliament
Das britische Parlament besteht
aus dem House of Commons
und dem House of Lords.
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