Von Wählen kann bei den Volkskammerwahlen gar keine Rede sein: Ein gefalteter Zettel gilt in der „Demokratie ohne Gegenstimmen” bereits als „Ja”-Stimme für die SED und die Einheitsliste mit den Blockparteien. Doch während der friedlichen Revolution im Herbst 1989 schlägt auch die Volkskammer neue Töne an.
Zettel gefaltet, reingeworfen, interessiert mich nicht. Auf diese Formel bringt ein junger Mann die Kommunalwahl in der DDR im Mai 1989. Er hat getan, was die „Demokratie ohne Gegenstimmen” erwartet, braucht keine Querelen am Arbeitsplatz zu fürchten, keine bösen Blicke der Kollegen. Das Ergebnis steht vorher fest, es ist ungefähr das gleiche wie bei den vierjährig stattfindenden Wahlen zur Volkskammer: 99 Prozent Wahlbeteiligung, fast 99 Prozent Ja-Stimmen. Wahlkabinen sind Staffage, ein gefalteter Zettel gilt als „Ja” zur Einheitsliste. „Falten gehen” nennen es die Menschen spöttisch. Parteien und Massenorganisationen sind im Wahlblock hinter der SED als „führende Kraft der Arbeiterklasse” vereint, erhalten Parlamentssitze nach festem Schlüssel, stimmen so ab, wie die SED es will. Der Volksmund nennt sie „Blockflöten”. Die so bestimmten Abgeordneten heben brav die Hand, in Debatten loben sie die Regierung. Nur zweimal im Jahr tagt die Volkskammer. Als die DDR die Abtreibung freigab, stimmten ein einziges Mal acht Abgeordnete der DDR-CDU mit „Nein”.
Die Herrschenden wollen, dass alle wählen. So können die Bürger mit Eingaben drohen, wegen Missständen nicht zur Wahl zu gehen: Es gibt keine Fernsehröhre, die Wohnung ist zu klein, vor dem Haus ein Dreckhaufen. Dann geschehen kleine Wunder. Die Wünsche werden unauffällig erfüllt. Dass die DDR Wahlen fälscht, beweisen 1989 kirchliche Gruppen. Sie zählen offiziell verkündete Ergebnisse in Wahllokalen zusammen: Es gibt viel mehr Wähler und Nein-Stimmen als amtlich für einen Ort verkündet.
Neue Töne schlägt die Volkskammer nach dem Mauerfall an. Am 13. November 1989 melden sich zur „Lage der DDR” fünfzig Redner, auch der greise Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke. Sein denkwürdiger Satz „Ich liebe doch alle, … alle Menschen” sorgt bei den Abgeordneten für Kopfschütteln und Gelächter. Nur wenige Wochen zuvor wäre ein solcher Auftritt undenkbar gewesen. Zu einer Art demokratischem Vorparlament wird der Runde Tisch mit neuen und alten Parteien. Der Runde Tisch versteht sich als Kontrolle, verleiht dem neuen Ministerpräsidenten Hans Modrow (SED/PDS) etwas Legitimität.
Am 18. März 1990 wählen die Menchen in der DDR ein freies Parlament. Eine Rentnerin kommentiert vor dem Wahllokal: „Ich bin Erstwählerin.” Die Allianz für Deutschland, ein Bündnis aus der gewandelten Blockpartei CDU und den neuen Parteien DSU und Demokratischer Aufbruch, erhält 48 Prozent der Stimmen. Eine Koalition der Allianz, der SPD und Liberalen wählt Lothar de Maizière (CDU) zum Regierungschef. Diese Volkskammer, die jetzt fast täglich und manchmal bis in die frühen Morgenstunden tagt, beschließt am 21. Juni die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland stimmen am 23. August 294 Abgeordnete zu, 62 nicht. Das Ende DDR ist am 3. Oktober um 0.00 Uhr besiegelt. Und mit ihm das Ende der Volkskammer.
Text: Karl-Heinz Baum
Erschienen am 2. Oktober 2009